„Lieblicher und schrecklicher Ort“

Ein Gespräch mit der Soziologin Claudia Neu über Erfahrungen gefühlter Verluste und tatsächliche Schrumpfungsprozesse auf dem Land
unter„ Die Bewohner wollen eine Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren. Also mehr Geld für Freibäder, Dorfkneipen oder Kioske.“ Ein Landgasthof im Saarland.
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Ein Landgasthof im Saarland: "Die Bewohner wollen eine Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren. Also mehr Geld für Freibäder, Dorfkneipen oder Kioske.“

zeitzeichen: Frau Professorin Neu, nimmt der Stadt-Land-Gegensatz zu? 

Claudia Neu: Keine einfache Frage. Schauen wir auf die Landkarte, dann ist Deutschland ein Land mit ausge­prägten regionalen Unterschieden, also einigen wenigen Großstädten, vielen Mittel- und Kleinstädten, Dörfern, Waldgebieten, Meer und Bergen. Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist aber deutlich weniger ausgeprägt als oft angenommen: Es ist keineswegs so, dass die Städte prosperieren und die ländlichen Räume darniederliegen. Wir sehen Städte, in denen ganze Stadtteile niedergehen, genauso wie wirtschaftlich gut aufgestellte ländliche Räume. In den vergangenen Jahrzehnten haben zudem viele ländliche Räume in Ostdeutschland wirtschaftlich aufgeholt, was sich auch in den verbesserten Arbeitslosenzahlen zeigt. 

Trotzdem scheint es ein Gefühl zu geben, dass man auf dem Land abgehängt ist.

Claudia Neu: Das Gefühl des „Abgehängtseins“ teilen bei Weitem nicht alle Landbewohner. Besonders Bewohner, die den Eindruck haben, ihre Region stehe im Vergleich zu anderen nicht gut da, fühlen sich häufig „abgehängt“. Der Eindruck, die eigene Region könne mit dem Rest Deutschlands nicht mithalten, kann sich einerseits aus wirtschaftlicher Schwäche speisen, andererseits aus den demografischen Entwicklungen. Vor allem ländliche Räume in Ostdeutschland haben jahrzehntelang Abwanderung und Alterung erlebt. Erfahrungen und Gefühle des ökonomischen und demografischen „Weniger-Werdens“ verdichten sich dann zu Verlustnarrativen. 

Es muss also nicht unbedingt eine materielle Sache sein. Auf dem Land kann man vielleicht reicher sein als in der Stadt. Und trotzdem gibt es dieses Gefühl. 

Claudia Neu: Wichtig scheint mir, zwischen der persönlichen Lebens­situation und der Beurteilung der regionalen oder nationalen Lage zu unterscheiden. So ist es durchaus möglich, selbst gut materiell ausgestattet zu sein, in einem Eigenheim zu leben und aktives Vereinsmitglied zu sein und trotzdem den Eindruck zu haben, Deutschland ginge unter. Der Politikwissenschaftler Philip Manow führt dieses Paradoxon auf einen „soziotrophen Effekt“ zurück. Das meint, es muss einem selbst gar nicht schlecht gehen, aber über Jahre erlebt man, wie arbeitslose Kollegen nicht wieder auf die Beine kommen, wie öffentliche Infrastruktur abgebaut wird. Die Busse fahren selten, in den Schulferien oft gar nicht, die Hautärztin ist nicht mehr erreichbar, die Turnhalle ist marode, das Freibad muss geschlossen werden. Für die Menschen schrumpfen so Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten vor Ort. 

Das sind die Klassiker: Der Bus kommt nicht mehr, die Kneipe macht zu, es gibt keinen Einkaufsladen, vielleicht auch keinen Gottesdienst mehr auf dem Dorf. Und dann denken viele, man hat uns auch politisch vergessen. Stimmt das nach Ihrem Eindruck, dass da ein politisches Gefühl von Vergessenheit herrscht?

Claudia Neu: Sie hatten mich eben nach der Kluft zwischen Stadt und Land gefragt. Hier tut sie sich tatsächlich auf. Viele Bewohner ländlicher Räume glauben, dass sich „die Politik“ in Berlin nicht für das Landleben interessiert. Sie fühlen sich mit ihren Nöten und Sorgen nicht ernst genommen. Und es hat sich ja noch einmal mit „Habecks Heizungshammer“ in der Ampelregierung klar gezeigt, dass hier auch unterschiedliche Werthaltungen oder Weltsichten aufeinandergeprallt sind. Da Land­bewohner häufiger im Eigenheim leben, haben sie sich besonders betroffen gefühlt. Das Heizungsgesetz nährte die Sorge der Eigenheimbesitzer, dass der eigene Lebensstandard, den man erreicht und für den man hart gearbeitet hat, nicht erhalten werden kann. In der stark aufgeheizten Heizungsdebatte ging es dann gar nicht mehr um die Energiewende, sondern nur noch um Zumutungen und Abwehr. 

Wieso ist auf dem Land der Widerstand gegen die Energiewende so groß?

Claudia Neu: Sicher leugnen auf dem Land nur noch sehr wenige Menschen, dass es den Klimawandel gibt. Zumal die Starkwetterereignisse wie Trockenheit und Wolkenbrüche in der Landwirtschaft und im Wald besonders deutlich zu spüren sind. Doch wie dem Klimawandel zu begegnen ist, darüber sind die Deutschen nicht einig. Der Verzicht auf das Auto fällt bei gut ausgebautem öffentlichen Personennahverkehr viel leichter, als wenn zweimal am Tag ein Bus kommt. Ideen von Pedelecs und Lastenrädern werden da auf dem Land schon mal als grüne Provokation wahrgenommen. Die gelegentliche Ablehnung der Energiewende in den länd­lichen Räumen resultiert zudem aus dem Gefühl der ungleichen Verteilung von Belastungen und Nutzen der Klimaanpassungsmaßnahmen. Den Anblick von Windrädern, Feldern von Photovoltaikanlagen und Stromtrassen müssen ja vor allem Landbewohner „ertragen“. Die Veränderung des Landschaftsbildes wird dann als einseitige Zumutung erlebt. Der Nutzen der Energiewende dagegen ist aber erst einmal nicht unmittelbar zu spüren. 

Also doch ein Kulturkampf? 

Claudia Neu: Vielleicht ist Kulturkampf zu hart. Aber letztlich geht es auch um Deutungshoheit. Wer entscheidet darüber, wie die Menschen auf dem Land leben? Und hier ist vor allem die Politik der Grünen als ignorant und bevormundend erlebt worden. Die Kommunikation der grünen Ideale von Klimaschutz und Nachhaltigkeit, die sicher auch sehr viele Dorfbewohner teilen, verfängt auf dem Land einfach nicht – sie wird oft als „Eliten“-Sprech wahrgenommen. Gefährlich wird es dann, wenn auch die anderen demokratischen Parteien auf dem Land schwächeln, denn mit der AfD ist nun eine politische Partei im Feld, die einerseits gegen die urbanen Eliten hetzt, die Folgen des Klimawandels leugnet und die Sorgen vor weiterer Abgabenlast schürt und andererseits einfache Lösungen anbietet („Wir drehen die Uhr einfach zurück“). Das verfängt schon bei vielen. 

Könnte es auch ein Problem sein, gerade in Dörfern, dass das ursprüngliche Gefühl von Gemeinschaft langsam verloren gegangen ist, also das, was einen besonders gerne auf dem Dorf hat leben lassen?

Claudia Neu: Nicht nur die Dorfbewohner glauben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland schwindet. Aber das Dorf wird viel eher als die Stadt als Ort der Gemeinschaft, der solidarischen Unterstützung wahrgenommen. Gemeinschaft entsteht durch Redundanz, also dadurch, dass man sich immer wieder begegnet, grüßt und auch mal auf ein Schwätzchen stehen bleibt. Im Dorf passiert dies vermutlich häufiger als in der Großstadt. Doch auch im Stadtquartier kennen sich die Menschen und grüßen sich in der Nachbarschaft. Der Unterschied zum Dorf ist eher die Verbindlichkeit. Im Dorf gibt es eine deutlich höhere Erwartungshaltung, zu grüßen oder sich auch im Verein zu beteiligen, als in der Stadt. Doch auch auf dem Land verändern sich Vereinsstrukturen, und nicht alle Zugezogenen wollen gleich von der Dorfgemeinschaft aufgesogen werden. Vor allem Traditions­vereine wie Männergesangsvereine oder Skatclubs verlieren an Mitgliedern, da entsteht schon bei vielen der Eindruck, die Gemeinschaft wird schwächer.

Fehlt es also an Begegnungsmöglichkeiten?

Claudia Neu: Ich habe schon den Eindruck. Nur noch selten finden Begegnungen spontan oder milieu­übergreifend statt, wie beispielsweise beim Einkaufen, beim Friseur oder an der Bushaltestelle. Einkäufe finden oft online statt, und der Bankschalter ist auch schon lange geschlossen. Egal ob in Stadt und Land, der Wunsch nach Begegnung und Gemeinschaft ist schon sehr groß. Gemeinschaft ist aber nicht einfach da, sondern wir müssen sie aktiv herstellen. Küssen kann man halt nur zu zweien …

Aber Gemeinschaft kann auch eine Zwangsgemeinschaft sein? 

Claudia Neu: Definitiv. Gemeinschaft hat ja nicht nur eine „helle“ Seite, die uns wärmt und schützt, sondern eben auch eine „dunkle“ Seite, die ausgrenzt und kontrolliert. Gemeinschaftsgefühle sind besonders stark, wenn sie sich gegen andere richten. Das kann ganz harmlos sein, denken wir an Schulwettkämpfe, oder schon weniger harmlos, wenn die Fußballfans aufeinander losgehen. Von Nationalgefühlen und Kriegen will ich da noch gar nicht sprechen.

Und wie ist das auf dem Dorf?

Claudia Neu: Auch wenn die Erzählung vom „locus amoenus“ (lieblichen Ort), von der ländlichen Idylle, wohl so alt ist wie die menschliche Zivilisation, so existierte immer auch das Bild vom Land als „locus terribilis“ (schrecklichem Ort), an dem die Menschen den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert sind. Und genauso herrscht im Dorf eben nicht nur Solidarität und Gemeinschaft, sondern genauso soziale Kontrolle, Gewalt und Rückständigkeit. In der Stadt ist es viel leichter, dieser sozialen Kontrolle auszuweichen als auf dem Dorf. Interessant ist, dass die Stadt erst seit der Industrialisierung als antagonistischer Gegenpol zum Landidyll konstruiert wird. Die Stadt gilt bis heute als laut, vereinsamend und krankmachend. 

Es ist das schöne Leben, das auf dem Land erhofft wird, im Häuschen mit Garten.

Claudia Neu: Genau. Nur noch eine Minderheit der Deutschen möchte heute in einer Großstadt leben, das vermeintliche Glück liegt also doch auf dem Land. Ein bisschen Essig muss ich doch in den Wein geben: Dass Menschen im ländlichen Raum beispielsweise weniger einsam wären als in der Stadt, lässt sich so nicht nachweisen.

Ach, und wen schließt die Dorfgemeinschaft aus?

Claudia Neu: In vielen Studien zu ländlichen Lebensverhältnissen, die an meinem Lehrstuhl entstanden sind, zeigt sich, wie sehr das Land immer noch ein männerdominierter Ort ist, der wenig Raum für Vielfalt lässt. Natürlich gibt es eine eigene Lebenswelt der Frauen im ländlichen Raum, die sie aber oft von Entscheidungsposten ausschließt. Vor allem Mädchen finden wenig Beachtung. Mädchen müssen sich in Fußballvereinen und Feuerwehren eingliedern, weil sie selten etwas Eigenes haben. Bestimmt macht den Mädchen die Arbeit bei der Feuerwehr Spaß, aber Jungs machen auf dem Dorf keine Rhythmische Tanzgymnastik. Frauen begnügen sich oft aber auch mit dem Dekorieren des Feuerwehrfestes und der Kartoffelsalatzubereitung. Ich frage mich manchmal, wenn wieder einmal der Zerfall der Dorfgemeinschaft beklagt wird, welche Gemeinschaft da eigentlich gemeint ist? Machen die Menschen das daran fest, dass der Männergesangsverein nicht mehr singt oder die Kirchen leer sind? Dann übersehen sie, wie viel Engagement auch neben den Traditionsvereinen existiert, wie beispielsweise die Naturschutzgruppe, der Grillclub oder die Frauenlaufgruppe. 

Man kann in Zeiten des Internets zwar im Dorf leben, aber de facto weltweit arbeiten. So wäre das Internet doch eine Möglichkeit, beide Welten wunderbar miteinander zu verbinden. Ist das so?

Claudia Neu: Für viele Menschen ist das in der Tat eine Option. Doch nur wenige arbeiten komplett von zu Hause aus. Neuere Studien zeigen, dass die meisten eher zwei bis drei Tage von zu Hause arbeiten und dann einen weiteren Weg in Kauf nehmen, um zum Arbeitsort zu kommen. Der Speckgürtel hinter dem Speckgürtel ist interessant geworden, weil man jetzt nicht mehr jeden Tag im Stau stehen muss. Aber natürlich geht dabei das soziale Leben im Arbeitskontext ein Stück verloren. Die Arbeit ist nicht nur zum Geldverdienen da, auch wenn das vielen so erscheinen mag, sondern ein wichtiger Motor sozialer Inte­gration. Manche arbeiten mit ihren Kollegen 40 Jahre zusammen, so lange hält manche Ehe nicht. 

Es scheint so zu sein, dass zumindest in der westlichen Welt, etwa in Frankreich oder in Polen, zum Teil auch in Großbritannien, die Rechts­populisten im ländlichen Raum häufiger gewählt werden als in der Stadt. Gibt es dafür eine Erklärung? 

Claudia Neu: In den vergangenen Bundes- und Europawahlen war der Zusammenhang zwischen Ländlichkeit und AfD-Wahlpräferenz nicht eindeutig, das heißt, die Bewohner der weniger ländlichen Räume haben eher rechtsaußen gewählt und nicht die Bewohner sehr ländlicher Räume. Dies hat sich seit der Bundestagswahl 2025 geändert, nun lässt sich doch sagen, dass die Bewohner sehr ländlicher Räume eher die AfD wählen. Die AfD konnte überall zulegen, aber besonders deutlich im Osten der Republik. 2021 war der Nordosten noch rot (SPD), nun ist er hellblau. 

Wie lässt sich das erklären? 

Claudia Neu: Wir haben ja schon zu Beginn des Interviews über das Gefühl des „Abgehängtseins“ und des „Politischvergessenseins“ gesprochen. Die angestiegenen Wahlentscheidungen für die politischen Ränder (AfD, Linke, BSW) sind zudem vor dem Hintergrund verloren gegangener Sicherhei­ten und Gewissheiten zu sehen. Dazu gehört der Krieg in der Ukraine, Trumps Wiederwahl und seine oft überhaupt nicht nachvollziehbaren Entscheidungen, die Europa hart treffen, dann war auch die Corona-Pandemie ein tiefer Einschnitt in unser Alltagsleben, der doch mehr Spätfolgen zeigt als gedacht. 

Also europaweit offenbar die gleichen Probleme.

Claudia Neu: Der Ukrainekrieg, Trump, der Klimawandel, aber auch veränderte gesellschaftliche Haltungen gegenüber „Geschlechterungleichheit“ oder sexueller Orientierung betreffen ja nicht nur Deutschland. Überall in Europa verlieren viele das Vertrauen in die Demokratie, weil ihnen der Glaube fehlt, dass die Staaten die anstehenden Probleme noch lösen könnten. Die Destabilisierung der alten internationalen Ordnung und der Vertrauens­verlust in die demokratischen Institutionen gehen Hand in Hand und lassen viel Luft für politische Akteure jenseits der Mitte. Und seit einigen Jahren ist mit der AfD eine Partei am Start, die Ängste und Sorgen kanalisiert, die Krisenwahrnehmung verstärkt und sich selbst als Lösung anbietet.

Ein Pfarrer aus Sachsen hat auf dem Kirchentag in Hannover neulich gesagt, dass die Kirche in seinem Ort die letzte Bastion der Offenheit und der Demokratie sei. Spielen Kirchen hier eine wichtige Rolle?

Claudia Neu: Nach meiner Einschätzung spielen Kirchen auch in Regionen, in denen nur sehr wenige Menschen kirchlich gebunden sind, weiterhin eine wichtige Rolle. Ich weiß natürlich, dass in vielen ländlichen Räumen nur noch sehr unregelmäßig Gottesdienst gehalten wird. Trotzdem sind Kirchen öffentliche Räume, von denen es in einigen ländlichen Räumen nicht mehr viele gibt. Kirchen bieten mit ihren Angeboten auch Schutz- und Diskursräume. Kirchengebäude sind dörfliche Identitätsanker. Sie sind eben noch da, sie stehen, wo andere unter dem Druck der Populisten und Radikalen vielleicht schon eingeknickt sind. Diese oft widerständige Haltung der Kirchen ist wichtig für eine aktive Zivilgesellschaft. 

Was kann man vor allem gegen dieses Gefühl auf dem Land tun, abgehängt zu sein?

Claudia Neu: Das ist natürlich die Hunderttausend-Euro-Frage. Ich glaube, wir müssen auf unterschied­lichen Ebenen anpacken. Wenn es richtig ist, dass die Unzufriedenheit mit der regionalen Lage im Zusammenhang mit der Wahl rechtspopulistischer/-extremer Parteien steht, dann gilt es, den politischen Leitgedanken der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse wieder zu stärken. Das Sondervermögen Infrastruktur geht da meiner Meinung nach schon in die richtige Richtung, doch es sollte möglichst viel Geld auch in den Kommunen direkt ankommen. Denn dort wollen die Bewohner eine Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren. Also mehr Geld für Freibäder, Dorfkneipen oder Kioske.

Und soll dann der Staat alles richten?

Claudia Neu: In Deutschland gibt es, auch wenn Daseinsvorsorge längst nicht mehr allein von der öffentlichen Hand bereitgestellt wird, weiterhin eine starke Erwartungshaltung an einen leistungsstarken Staat. Wird diese Erwartung enttäuscht, das sehen wir ja gerade, dann wenden sich die Wähler anderen Parteien zu. Bleiben wir noch einmal einen Moment auf der lokalen Ebene, dann finden wir überall gute Ideen, wie Bürger ihren Lebensraum selbst gestalten. Meine Erfahrung zeigt, dass die Menschen ziemlich klare Vorstellungen davon haben, was sie in ihrem Ort brauchen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, eine aktive und demokratische Zivilgesellschaft zu unterstützen. Doch ich erlebe, dass die Förderung von Ehrenamt und Engagement finanziell knapp und zeitlich begrenzt ist. Mir geht es jetzt nicht darum, Engagementförderung auf Dauer zu stellen, sondern anstelle von Projekten Prozesse zu fördern. Das meint, dass lokale Akteure mehr Spielraum haben im Hinblick auf ihr Vorhaben, zeitlich wie finanziell oder in der konkreten Ausgestaltung. Die Menschen brauchen die Möglichkeit, selber Teil des Veränderungsprozesses zu sein. Dass sie überlegen, wie lässt sich die Dorfkneipe oder der Tante-Emma-Laden nachhaltig realisieren? 

Man muss also die Leute auf dem Land ernster nehmen.

Claudia Neu: Ja, die Sorgen und Nöte der Landbewohner ernst zu nehmen ist sicher nicht verkehrt. Doch kann es nicht darum gehen, die Wünsche nach dem Zurückdrehen der Uhr zu erfüllen. Der Klimawandel ist Fakt, und wir brauchen gesellschaftliche Lösungen. Deutschland altert rasant, und wir benötigen heute und in Zukunft offensichtlich Arbeitskräfte, da ist die Anti-Migrations-Debatte nicht hilfreich. Ich wünsche mir, dass nicht weiter Angstnarrative und Partikularinteressen bedient werden, sondern dass Politik und Gesellschaft sich trauen, die notwendigen Transformationsschritte anzugehen, und mutig genug sind, eine positive Zukunftserzählung zu entwerfen.

Das Gespräch führte Philipp Gessler am 10. Juli in Berlin.

 

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Claudia Neu

Claudia Neu, Jahrgang 1967, ist seit September 2016 Inhaberin des Lehrstuhls „Soziologie ländlicher Räume“, der zur Hälfte an der Universität Göttingen und der Universität Kassel (Standort Witzenhausen) angesiedelt ist. Neu war über Jahre unter anderem stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrates „ländliche Entwicklung“ des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat.

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