Nöbdenitz zum Beispiel: Wenn nichts mehr geht und eine Gemeinde wie diese in Thüringen kurz vor dem Aussterben ist, dann geht was Neues los. Aber das ist ziemlich selten. Denn die Politik hat das Land vernachlässigt – seit Jahren. Schon weit vor 2015 ist auf dem Land in der Bevölkerung etwas gekippt, so der Eindruck von Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags.
In the middle of nischt. Pfarramt auf dem Land ist der Burner. Es gibt keine Ausrede. Alles ist hier sichtbar. Es gibt keine Kieze, in die du dich zurückziehen kannst. Jeder kennt dein Auto und weiß, wo du deine Brötchen kaufst. Man entkommt sich nicht auf dem Land. Die Wände haben Augen.
Es gibt keine Akademieprogramme und auch keine intellektuellen Debatten, in denen du dich als Pastorin einreihen kannst. Hier wollen die Leute eins zu eins wissen, was Sache ist. Ethik ist ein Fach in der Schule für die Kinder, keine Denkkategorie, um die Weltlage zu bewerten. Pfarramt auf dem Land ist mega. Special agency. Hier ist alles super direkt. Eins zu eins. Und darin liegt für die Beziehungsarbeit, die Kirche per se ist, eine riesige Chance. Buttstädt, Vachdorf, Meiningen, Altenburger Land, wo fängt eigentlich „Land“ an?
Alles braucht Zeit
Kürzlich saß ich mit einem Informatiker zu Tisch, und wir unterhielten uns über unsere Herkünfte, und er sagte, „Na, ich komme ja auch vom Dorf. Sechzehntausend.“ Und ich musste so lachen, denn für mich sind sechzehntausend Einwohner bereits eine kleine Stadt. Und dann die gemeinsame Feststellung: Alles braucht auf dem Land Zeit. Selbstorganisation. Wege. Die weiterführende Schule ist nicht im Ort. Einkaufen geht anders als in der Großstadt mit dem Späti um die Ecke oder dem Supermarkt, der bis 23 Uhr aufhat. Die Wege – egal ob zweihundert Einwohner oder sechzehntausend – sind andere als in der Metropole mit ihren Kiezen.
„Was willst du denn dort? Altenburg!? Hast Du etwas verbrochen?“, haben mich die Leute in Wittenberg gefragt, als ich mich als Superintendentin für das Altenburger Land beworben hatte. Eine Stadt ohne ICE-Anschluss. Unfassbar. Ohne Unibibliothek und Akademie. Undenkbar. Und doch habe ich diesen Schritt nie bereut. Landgemeinden – gerade im Osten Deutschlands – sind für mich Graswurzelgebiete. Regionen, wo du sofort merkst, was abgeht, was Beziehungsarbeit – wie nur Kirche sie ermöglicht – auslöst. Eine Direktheit, die sich in der Großstadtmasse so nie ergibt, die sofort zum Gesprächsstoff wird und in ein vernetztes Leben führt. Du gehst wandern auf denselben Wegen, du gehst ins selbe Schwimmbad und auch in denselben Supermarkt. Du weißt als Pastorin ungewollt viel über deine dir anvertrauten Menschen, und du teilst auch die Gefühle, abgehängt zu sein, weil der Busfahrplan für alle derselbe ist. In manchen Orten fährt der Bus einmal die Woche. Jeder Termin ist ein Weg. Hier fährt kein Bus im Fünf- oder Zehnminutentakt. Hier ist Selbstorganisation gefragt. Das macht etwas mit den Menschen.
Die Politik hat das Land vernachlässigt – seit Jahren. Schon weit vor 2015 ist auf dem Land in der Bevölkerung etwas gekippt, so mein Eindruck. Ich habe immer wieder aufs Neue gestaunt, wie wenig für jene mitgedacht und mitgeplant wurde in Sachen Verkehrswende, die sich unter Nahverkehr nun einmal nur die Fahrt mit dem Auto vorstellen können, weil sonst nichts anderes fährt.
Zeit ist Geld, auch auf dem Land, und das Investment beziehungsweise der Verlust wertvoller Zeit auf dem Land ist in weiten Teilen enorm. Fatal ist, dass Landeskirchen selten den Faktor Wegezeit für Ehrenamtliche mitbedenken, wenn die Gemeindebezirke oder Kirchenkreisbezirke immer größer gemacht werden. Faktisch heißt nämlich jede Vergrößerung der kirchlichen Bezirke auf dem Land, dass Ehrenamtliche immer mehr Zeit investieren müssen, um zu den Sitzungen in die Stadt zu fahren, weil digital Tagen nicht geht und der Zusammenarbeit hier und da auch abträglich ist.
Wanderndes Gottesvolk, fahrendes Volk. Das sind viele Ehrenamtliche auf dem Land. Wenn sie in Kreissynoden und Gemeinden noch etwas bewegen und auch vor Ort ihr Ehrenamt als Gemeindekirchenratsmitglied noch leben wollen, müssen sie immer mehr Zeit investieren und erleben zugleich, dass mehr und mehr die Städte als „Leuchttürme“ angepriesen werden. Das ist bitter, weil es die Abkehr von der Beziehungsarbeit vor Ort bedeutet und die Beziehungen vor Ort auch ungewollt „entwertet“. Diese Entwicklung wird von Ehrenamtlichen oft als Degradierung erlebt. Von „denen da oben“ und „Wasserköpfen“ ist dann ihrerseits schnell die Rede, und ein Rückzug ins Eigene findet statt; eine Abkopplung, die gefährlich ist. Wenn zum Beispiel die Ortsgeschichte und Pflege dörflicher Traditionen hier und da einhergeht mit einer Selbstüberhöhung als Reaktion auf die gefühlte „Herabsetzung“ und Entwertung, kann dies zum Nährboden werden für Geschichtsklitterungen und völkisches Denken.
Zugleich gerät bei den stetigen Vergrößerungen der Parochien (Pfarramtsbezirke) aus dem Blick, dass sich zwar die Leute im Dorf alle gut kennen, aber bereits die Dörfer in 15 bis 20 Kilometern für sie oft fremde Welten sind. „Was haben wir in der Region um Ronneburg denn mit den Leuten in Flemmingen zu tun?“, haben mich zu Recht einmal Ehrenamtliche im Kirchenkreis Altenburger Land gefragt. „Klar, wir kennen uns von der Synode, aber eine gemeinsame Arbeit – die haben wir nicht. Von Pilgerreisen vielleicht mal abgesehen.“
Wenn das Rettungskonzept bei schwindenden Mitgliederzahlen heißt, dass die Gemeinden vergrößert werden und sich die Gemeindekirchenräte dann gegenseitig besuchen mögen für eine bessere Zusammenarbeit in der Region, setzt zudem eine „Verklumpung“ kirchlicher Arbeit ein. Die Arbeit wird selbstbezogen. Bezieht sich oft nur auf die Getauften und Ehrenamtlichen, die bereits im System „Kirche“ sind, anstatt mit Blick auf die Nichtgetauften im Ort zu agieren und sich zu fragen: Was will ich von meinem Glauben wie den anderen erzählen? Was vor Ort für andere tun, weil ich an einen Gott glaube, der das Gute mit uns teilt!? Wo ein solcher Blick über den eigenen Tellerrand aber ausbleibt, endet Mission. Letzteres kann jedoch kein Ziel sein. Das Land wird oft belächelt. Zurückgeblieben. Platt. Nicht politisch aktiv oder politisch bedeutend genug, weil zu wenig Wählerinnen und Wähler hier leben. Nichts für die Presse, nicht relevant, die Medien tanzen in der Stadt. Die AfD sieht das leider ganz anders. Sie hat „das Land“ ganz bewusst zu ihrer Eroberungsfläche gemacht, inklusive einer Erneuerung der „Heimatbindungen“, wie Björn Höcke das schon vor Jahren genannt hat: „Wenn die Moderne die Heimatbindungen gekappt hat, gilt es, die Heimat als Raum der Geborgenheit und Lebensentfaltung wiederzuentdecken. Wenn sie die Identitäten – geschlechtlicher, kultureller oder sonst welcher Art – beschädigt hat, geht es um eine Wiederherstellung von Identitäten.“
Spielball und Opfer
Die AfD spielt mit der Leere, die kommunale und kirchliche Träger vor Ort hinterlassen und teilweise durch ihre „Gebietsreformen“ produziert haben. Sie geht genau in die Räume hinein, in denen keine Ansprache durch politische und kirchliche Institutionen mehr erfolgt. Das ist das eigentliche Dilemma der Entzweiung zwischen Stadt und Land, des Nichtsehens des soziokulturellen Raums namens Land in diesen Tagen: Das Land wird zum Spielball und Opfer von Rechtspopulisten.
Die meisten Kirchengemeinden liegen auf dem Land, abseits der medialen Sendezone. Anstatt, dass Kirche in die Arbeit auf dem Land investiert, heißt derzeit das Konzept: Ab in die Stadt! Immer mehr Gemeinden werden Städten angegliedert, hier und da sogar nach ihnen benannt und damit den Gemeinden auf dem Land auch diese letzte Identität des Namens genommen. Die verwaisten Seelen werden umso mehr ansprechbar von einer Propaganda, die von Rechtsaußen kommt und vorgibt, „die Menschen zu sehen“ mit ihren Lebensgeschichten. In dieser Situation als Kirche dem Populismus und der AfD wieder etwas entgegenzusetzen, braucht mehr als das Aufhängen von Protestbannern für den Erhalt der Demokratie. Es beginnt mit Achtung und Respekt vor den Lebensentwürfen der Menschen auf dem Land. Achtung und Respekt vor Lebensentwürfen, in denen Bücher vielleicht nicht unbedingt dazugehören, sondern eher Gartenharke, Rasenmäher, Egge. Es braucht Hinhören, Begleiten, Stützen und Wertschätzen, damit nicht die Rechtsradikalen die Dörfer ermächtigen, sich als „gallisches Dorf“ zu stilisieren, wie es Björn Höcke vorschwebte, als er in seinem Gesprächsband Nie zweimal in denselben Fluß schon 2018 schrieb: „Wenn alle Stricke reißen, ziehen wir uns wie einst die tapfer-fröhlichen Gallier in unsere ländlichen Refugien zurück, und die neuen Römer, die in den verwahrlosten Städten residieren, können sich an den teutonischen Asterixen und Obelixen die Zähne ausbeißen! (…) Die Retribalisierung im Zuge des multikulturellen Umbaus wird aber so zu einer Auffangstellung und neuen Keimzelle des Volkes werden. Und eines Tages kann diese Auffangstellung eine Ausfallstellung werden, von der eine Rückeroberung ihren Ausgang nimmt.“
Landeskirchen sollten sich bei der Planung ihrer Strukturen, Parochien und Kirchenbezirke einmal fragen, wem sie die Begleitung und Seelsorge der Menschen auf dem Land überlassen, wenn sich Kirche zurückzieht in die Städte und Kleinstädte. Welchen rechten Narrativen geben wir Futter, wenn sich „das Leben“ gefühlt nur noch in der Stadt abspielt? Wer hat wen abgehängt? Wer hat wen nicht mehr gesehen? Sich diese Fragen zu stellen, ist kirchenpolitisch und gesellschaftspolitisch vielleicht schon mal ein Anfang.
Not und Abhängigkeit
Und natürlich geht diese Geschichte weiter. Wenn ich in die Großstädte blicke und höre, welch erdrückende Last Menschen dort tragen, die kein Haus und keine Wohnung ihr Eigentum nennen können; Menschen, die dem Mietmarkt hilflos ausgeliefert sind und sich jedes Salatblatt kaufen müssen – ja, auch da ist die Not und Abhängigkeit von Menschen groß, aber ganz anders und vollkommen zu Recht im allgemeinen Fokus. Politik und Kirche sollten sich nicht nur auf die medial präsentere Stadt fokussieren. Erst recht nicht, wenn die AfD das Land für sich gewinnt, weil es die Regierenden in Kirche und Gesellschaft aus dem Blick verloren haben. Zum Schluss dennoch ein paar Beispiele von guter Beziehungsarbeit auf dem Land.
Nöbdenitz: Wenn nichts mehr geht und eine Gemeinde kurz vor dem Aussterben ist, dann geht was Neues los. Es bricht etwas auf, wenn Menschen bereit sind, sich zu öffnen für die Biografien der Menschen am Ort. Nöbdenitz ist so ein Beispiel. Eine Kirchengemeinde, die vor mehr als 15 Jahren in die Vakanz gerutscht war. Der Pfarrhof: eine einzige Baustelle, eigentlich reif für den Abriss. Die Gemeindestatistik: vollkommen überaltert. Aber es gab Menschen an diesem Ort – den Vakanzverwalter, ein Pfarrer, der ganz klar gesagt hat: „Ihr Lieben, ich komme für Gottesdienst und Kasualien. Aber Verwaltung, das nicht.“ Und es gab Ehrenamtliche, die gesagt haben: „Okay, machen wir“, und es gab Menschen, die sagten: „Wenn wir uns nicht öffnen, dann sterben wir aus.“ Das war der Wendepunkt. Heute ist in Nöbdenitz auf dem ehemaligen Gelände des Pfarrhofes eine Kultur- und Bildungswerkstatt entstanden. Sie wird genutzt von allen Gruppen im Ort, egal ob kirchlich oder nicht. Der Gemeindekirchenrat lädt einmal die Woche zur Sprechstunde ein. Brotbackofen, Grüne Küche, Konzerte, Veranstaltungsgelände. In der Nachbargemeinde des großen Kirchspiels findet einmal im Jahr eine Jugendfreizeit statt, eine stetig wachsende Gruppe. Radtouren mit über 80 Jugendlichen. Palmarum mit Esel. Kindergottesdienste im Freien, mit Erntedank vor dem Gemüse- und Blumenbeet, das gemeinsam im Frühjahr angelegt wurde. Die Arbeit hier ist eine andere. Sie spricht die Sprache des Landes. Und mittendrin eben auch das: die Bildungsfahrt nach Auschwitz. Eine Veranstaltungsreihe namens Fastengespräch, in der Bodo Ramelow den Bogen spannt von der Bergpredigt bis zur Weltwirtschaft. All das ist möglich abseits der Lichter der Großstadt, die ihre eigenen Themen hat.
Wie wäre es, wenn bei künftigen Strukturentscheidungen die Potenziale einer Region im Blick sind? Wie wäre es, wenn Gemeinden auf dem Land nicht nach der nächstgrößeren Gemeinde oder Stadt benannt werden, sondern sich alle nach einer in der Region bekannten Landmarke oder dem Fluss, der verbindet, benennen und so alle Identität gewinnen, anstatt den Namen noch zu verlieren oder sich nur als Anhängsel wiederzufinden? Wie wäre es, wenn Gremiensitzungen in einem großen Gemeindeverbund reihum stattfinden und auch die kleinsten zum Gastgeber werden können für den Gemeindekirchenrat und nicht automatisch klar ist: „Wir treffen uns in der Stadt“?
Gesellschaft und Landeskirche ist man immer nur gemeinsam. Stadt und Land – beide soziologische Welten haben und brauchen ihr Ansehen bei denen, die Prozesse gen Zukunft steuern. Egal, ob sie im Parlament oder in einer Synode sitzen und dort Verantwortung tragen. Ein Land, das die Diversität von Lebensentwürfen als hohes Gut anerkennt, braucht auch die Gabe, diese Diversität bei allen politischen und kirchenpolitischen Entscheidungen mitzudenken und diese Diversität vor allem anzuerkennen, sie zu sehen. Theologie ist Biografie, die sich vor Gott und den Menschen gesehen und gehalten weiß; verpflichtet weiß zu Gutem. Ist erzähltes und erzählbares Leben, das das eigene Dasein in Beziehung setzt zu etwas Höherem, Unverfügbarem. Es ist jeder Landeskirche zu wünschen, dass sie in der Ausbildung ihrer Vikarinnen und Vikare mehr als eine „Landwoche“ einbaut, sondern den Sozialraum eines Ortes, in dem du dir scheinbar nicht entkommen kannst, als Chance ansieht; nah und erkennbar vor Ort zu sein und dort einen Beitrag zu leisten, damit auch jene ihr Leben vor Gott und den Menschen gesehen wissen, die dort wohnen, wo weder ein Bus noch eine Kamera vorbeikommt.
Und es ist performativ vielleicht die beste Arbeit zum Erhalt der Demokratie, in diese scheinbar so öden Regionen zu gehen und dort stetig den Mund aufzutun für Mitmenschlichkeit und Menschen an Güte zu erinnern – an die eigene, die in ihnen wohnt, und an Gottes unermessliche.
Kristin Jahn
Dr. Kristin Jahn ist Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Fulda.