Trendsetter mit Bock
Ohne die Kirche in der ostdeutschen Provinz hätte die extreme Rechte schon lang gesiegt. Die Kirche hier ist ins Fadenkreuz gerückt. Hinzu kommt die atheistische Gesellschaft, die nicht gut ist, problematische Folgen nach sich zieht. Um sie zu verändern, braucht es eine neue Stärke unserer Kirche. Die muss auf eine neue, von Christus und seinem Schicksal geprägte Weise gefunden werden, meint Justus Geilhufe, Pfarrer der Gemeinde am Dom Freiberg im sächsischen Großschirma.
Monchi trägt eine goldene Kickboxhose. Strahlend tritt er auf das Oberdeck der Stralsunder Autofähre „Vitte“. Mit Armen weit ausgestreckt wie ein Albatros brüllt er zu 300 wartenden Fans an der Mole hinunter: „Na, habt ihr Bock??!“ Die Menge grölt. Es wird ein fantastischer Tag. „Feine Sahne Fischfilet“ spielen heute drei Konzerte. Auf diesem Schiff.
An dem kleinen überrannten Bierausschank neben einem ähnlich überrannten Toilettencontainer treffe ich auf einen jungen Mann. Hart rasierter blonder Seitenscheitel, bunte „New Balance“-Schuhe und VFC-Plauen-Trikot. Toller Akzent. Ich sage: „Schön, dass auch Sachsen da sind.“ „Ich bin Vogtländer.“ Damit ist alles klar. Keine vorschnelle Verbrüderung, aber wir kommen ins Gespräch. Darüber, dass er alleine hergekommen ist. Nur für das Konzert. Wir reden über die Stimmung in Freiberg bei mir, in Plauen bei ihm. Wie die Oberschulen langsam genauso aussehen wie in unserer Kindheit. 13-jährige Babynazis mit Springerstiefeln und Bomberjacken. Nicht-Nazis, die durch Straßen gejagt werden, und Männertage mit massenhaften Hitlergrüßen.
Für diesen Mann ist dieses Konzert kein Urlaub von der Wirklichkeit. Dieser Nachmittag im Rausch von Punkmusik und Bier ist eine Art Lebenselixier. Und auch das ist nicht bildlich gesprochen, so wie manche Männer Grillen brauchen oder Fußball, sondern im wahrsten Wortsinn. Ohne das hier wäre Leben in Plauen für ihn nicht möglich. Ohne das hier wäre die im Osten stets virulente Frage „bleiben oder gehen?“ längst und ganz klar beantwortet.
Warum erzähle ich von Monchis goldener Kickboxhose, dem jungen Mann und den Nazis? Weil alles, was hier auf diesem Schiff in dem Ganzen, was im Osten unseres Landes gerade untergeht, aber für einen Tag mal gut zu sein scheint, in dieser Form ohne die Kirche im Osten nicht wäre. Und wenn ich über Land und Stadt und Osten und Provinz, und was die Kirche da überhaupt noch soll, schreibe, dann kann ich nur hier anfangen, weil dies genau das ist, worum es am Ende geht, und wie es am Ende auch aussehen wird. Vielleicht nicht wie die goldene Kickboxhose, aber in jedem Fall anders als im Rest der EKD, und das ist vielleicht wichtig zu verstehen.
Also noch einmal: Ich erzähle das, weil das alles hier auf der „Vitte“, die auf der Hälfte des Konzerts langsam in Richtung Stralsund wieder beidreht, ohne die evangelischen Gemeinden der ostdeutschen Provinz nicht wäre. Man läuft nicht lange über das vom Bass dröhnende Schiff, bis man den ersten Gemeindekirchenrat trifft. Man wartet nicht lange, bis „eine rauchen wir noch“ kommt. Der Hymne auf den Jenaer Stadtjugendpfarrer Lothar König, den die Band vor mehr als zehn Jahren kennengelernt hat. Ein Bild von ihm und Monchi wird über der Bühne aufgehängt. Manche weinen, denn Lothar König ist vor ein paar Monaten gestorben.
Dominanz der Rechten
Und es dauert bei der Fahrt nach Hause nicht lange, bis man an jenem Landpfarrhof vorbeikommt, in dem die Band einst gegründet worden ist, die vielen, die der unangefochtenen Dominanz der Rechten versuchen zu entkommen, Hoffnung und Perspektive gibt. Kurzum: Ohne die Kirche in der ostdeutschen Provinz hätte die extreme Rechte schon lang gesiegt, und niemand weiß das besser als die extreme Rechte. Die Kirche hier ist ins Fadenkreuz gerückt. Und dort, in diesem Fadenkreuz, ist sie ganz schön alleine. Die atheistische Welt greift Raum, auch ohne DDR-Repression. Die lebt nun einfach weiter, sodass der Rest sich von allein erledigt. Historisch betrachtet, ist die Marginalisierung unserer Kirche nun beinahe vollendet. Das Einzige, was die DDR an selbstgesteckten Zielen wirklich erreicht hat, ist die nachhaltige Zerstörung kirchlichen Lebens im Osten. Mittlerweile lebt um uns herum eine dritte Generation von Menschen, etwa 85 bis 90 Prozent der Einwohner, die keinen einzigen Kontakt mit kirchlichem Leben hatten oder haben. Und damit meine ich nicht, dass Maximilian in Gauting bei München seit der Konfirmation nicht mehr im Gottesdienst war, sondern dass es kein Zusammenleben der Menschen gibt, das auch nur im Geringsten mit dem, was die Kirche glaubt oder tut, Kontakt hat. Wir leben in der komplett und umfänglich entkirchlichten Gesellschaft, und diese prägt auch das Leben und die Gestalt der Gemeinden. Sie, wir, sind anders als der Rest der EKD.
Unter anderem wegen dieser Geschichte hat es der ostdeutsche Protestantismus innerkirchlich nicht ganz einfach. Er ist so angefragt, so gefordert und vor allem klein, dass er kaum eine Chance hat, gesamtkirchliche Prozesse in Deutschland produktiv mitzugestalten. Da braucht es keine goldene Kickboxhose, um zu irritieren, aber sie ist ein gutes Bild für die Rolle, die wir einnehmen. So viel ist bei uns nicht mehr so wie in Westfalen oder Nordelbien, dass wir schwer in den Austausch auf Augenhöhe kommen, geschweige denn in einen Austausch, den wir inhaltlich einmal anführen. Dabei könnten wir das.
So ist die kirchliche Wirklichkeit des Ostens von zwei Seiten aus angefragt oder zumindest oft unverstanden, und dazu kommt noch ein Drittes: Das Selbstverständnis unserer Kirche im Osten ist an vielen Orten, dass sich an dem Kleinsein und Kleiner-Werden nichts mehr ändern wird. Dass nur noch die Möglichkeit besteht, dieses Kleinwerden zu gestalten und zu ordnen und eventuell die gute Stimmung zu erhalten. Aber dass es mit Präsenz in der Weite des Raumes vorbei ist, daran gibt es auf allen Ebenen, außer vielleicht der Ebene der Gemeinde vor Ort, keinen Zweifel mehr.
Dazwischen gibt es diese Feine-Sahne-Lothar-König-Welt, die nur ein Beispiel dafür ist, dass der Protestantismus im Osten etwas kann und vielleicht manchmal sogar etwas so gut kann, dass der Westen mal mit Gewinn zugucken kann. Es könnte nur sein, dass eine erste Akklimatisierung stattfinden muss, weil nicht jeder die goldene Kickboxhose auf Anhieb versteht.
Bevor ich hier weiterschreibe, muss ich mich aber wiederholen oder besser selber noch einmal verstärken: Es ist hier vorbei! Kirchliches Leben, wie wir es hier lange noch gewohnt waren und was nun auch in den westdeutschen Landeskirchen langsam seine erste spürbare Reduzierung erfährt, ist hier tatsächlich vorbei. Die Fläche ist nicht mehr versorgbar, und es gibt seit mindestens zwei Generationen keine kulturellen Brücken hin zu der überwiegenden Mehrheit der Menschen, mit denen wir leben. Es ist Tabula Rasa. Das birgt große Gefahren. Es kann sein, dass kirchliches Leben in manchen Regionen endet. Nicht nur gering ausgeprägt sein wird, sondern zu Ende ist. Und was dann übernimmt, ist der stumpfe Atheismus einer autoritären Rechten oder einer Putin-Linken, deren beider Geschichtsbegriffe nach einem religiösen Schema entworfen sind. Es geht stets und ohne Rücksicht um die Vertreibung alles Alten und um die Einrichtung eines ominösen Neuen und angeblich wirklich Guten. „Merkel muss weg“, „Die Ampel muss weg“ oder „Globalize the Intifada“ sind in ihrem elimininatorischen Charakter ernst gemeint. Fragen Sie mal zum Beispiel alle Kleinstadtbürgermeister hier, die nicht bei der AfD sind.
Die Kirche im Osten steht in dieser Auseinandersetzung, und sie kann nicht anders, als diese selbstbewusst zu führen. Es gibt nämlich kein Reservoir aufrechter Demokraten oder inaktiver Christen, die mit moralischen Appellen erreich- und aktivierbar wären, um 20 Prozent Wähler extremer Parteien aktiv zu stellen. Hier wählen 80 Prozent so, und wenn es gut läuft, nur 47 Prozent. In einer Welt wie dieser gestaltet sich kirchliche Kommunikation, auch die binnen-kirchliche, anders als in den oft noch geheizten Stuben des Westens. Hier sieht sie oft so aus wie Monchis goldene Kickboxhose. Die versteht auch niemand, aber manchmal geht es nur mit ihr, und man kann sie auch nicht immer erklären.
Was ich damit sagen will: Es gibt einen atmosphärischen Unterschied zwischen Protagonisten im Osten und im Westen, den zu nivellieren oder auszubalancieren zumindest manche von uns jungen ostdeutschen Evangelischen nicht mehr in der Lage sind, weil die Situation zu ernst geworden ist. Zu ernst, weil unsere Gemeinden wegsterben, zu ernst, weil das, was danach kommt, die Vollkatastrophe wäre.
Ich sage, wäre: Denn es ist möglich, auf unsere ganz eigene Art, diese Entwicklung zu verlangsamen, vielleicht sogar umzudrehen. Dafür haben wir keine finanziellen, geschweige denn strukturelle Ressourcen. Jeder von uns muss seine eigene und mindestens eine Vakanzgemeinde leiten. Jeder von uns unterrichtet in der Schule und hat zwei oder drei Beerdigungen in der Woche, mindestens. Das ist alles nicht schlimm, aber es lässt halt keine Zeit für die Ochsentour durch die Gremien, um Prozesse sanft und kühl und vor allem langsam mitzugestalten. Vielleicht geht es gerade disruptiver zu, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt, das, was wir verändern wollen, noch zu verändern.
Mission als Wesenskern
Diese Veränderung muss aber sein. Die atheistische Gesellschaft ist nicht gut, und um sie zu verändern, braucht es eine neue Stärke unserer Kirche. Die muss auf eine neue, von Christus und seinem Schicksal geprägte Art und Weise gefunden werden. Um die atheistische Gesellschaft zu verändern, müssen unsere Gemeinden wieder wachsen. Deshalb ist Mission zum Wesenskern meiner Arbeit hier vor Ort geworden. Fast alles dient der Mission. Mission heißt nicht, etwas Neues auszuprobieren, sondern konkret so zu arbeiten, dass mehr Menschen in unsere Gemeinden kommen. Mission heißt die Erhöhung der Zahl jener, die sich taufen lassen und wieder eintreten. Dieser Begriff von Mission ist kontrovers, und um jetzt nicht auszusteigen, müssen Sie an die goldene Kickboxhose von Monchi denken.
Räume prägen
Die braucht es im Hinterkopf, wenn ich das Zweite anmerke: Es braucht eine Stärke und Präsenz unserer Gemeinden, die auf etwas anderem fußt als auf die normale Verwurzelung in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Viele Dinge finden im Osten selbstverständlich ohne die Kirche statt. Ihr wird kein Raum einfach so gegeben. Unsere Aufgabe hier ist es, Räume neu zu entdecken und sie erfolgreich zu prägen. Eine große Rolle spielt dabei das Internet, und auch da kann es sein, dass sich Formen etablieren, die binnenkirchlich zuerst für Irritation sorgen, weil sie dem, was in Großstadt oder Westdeutschland gut klappt, kaum entsprechen und auch nicht entsprechen können.
Damit Mission und Präsenz eine Chance haben, braucht es als Drittes theologische Impulse aus der Kirche der atheistischen Gesellschaft für die atheistische Gesellschaft. Unsere Theologie tut gut daran, auf die Verkündigung der Kirche in der atheistischen Gesellschaft bezogen zu sein, und zwar in beiderseitiger Richtung. Wir machen die Beobachtung, dass heutige Verkündigung in der atheistischen Gesellschaft anknüpft an archetypische Erfahrungen, die Menschen hier mit dem Leben Jesu machen, und dass sie durch anschließende kirchliche Katechese ihren Weg zu Glauben und Taufstein finden. Dies stellt die heutige, überwiegend historisch beschreibende Arbeit in Frage, weil es uns auffordert, neu mit dem lebendigen Gott zu rechnen, wo ihn fast alle seit drei Generationen vergessen haben. Ja, in der atheistischen Gesellschaft begegnen wir Gott, wir bringen ihn als Kirche nicht erst dahin. Wir erschließen und feiern als Kirche diese Erfahrung.
Dem müsste notwendig die Erarbeitung einer kritischen Theologie folgen, die nicht nur unseren Gottesbegriff, sondern auch unsere Form der theologischen Arbeit von Gottes Handeln in Jesus in Frage stellen lässt. Wenn Menschen inmitten der vollständig atheistischen Gesellschaft Gott treffen, ist es eine drängende Frage an die Kirche und ihre Theologie, inwiefern wir es erlauben, Selbsterniedrigung und Hingabe an die atheistische Gesellschaft und das Leben in ihr der ganzen göttlichen Natur zuzubilligen. Denn nichts anderes bleibt uns angesichts der Erfahrungen in der atheistischen Gesellschaft und in der Betrachtung des Schicksals Jesu Christi übrig. Kritische Theologie, denken wir nur an den ersten großen Theologen des 21. Jahrhunderts, Bruce McCormack, muss nun den Versuch unternehmen, dies christologisch zu fassen und für ein neues dogmatisches System fruchtbar zu machen. Das brauchen wir um der Verkündigung in der atheistischen Gesellschaft des Ostens und des Westens willen.
Ich denke, es ist hinlänglich deutlich geworden: Wir müssen unsere Kirche ganz schnell, ganz radikal verändern. Eine Kirchenzeitung hat nach der Betrachtung einer kürzlich veröffentlichten Hallenser Studie dazu die passende Frage gestellt: „Sind junge ostdeutsche Evangelische dafür die neuen Trendsetter?“ Meinen Ausführungen können Sie entnehmen: Ja!