Anders als das homogene Stadtleben
Wir alle brauchen offenbar die Farben, Düfte und stillen Verheißungen des Landlebens als Gegengewicht zu piepsenden Handys und U-Bahnen voller Menschen, denen das Unglück des Lebens im Kapitalismus ins Gesicht geschrieben steht. Aber wir werden das Glück des Landlebens nicht wirklich ausschöpfen können, wenn wir es vornehmlich antipodisch zu dem Leben in der Stadt denken, warnt die Autorin Hilal Sezgin, die vor 18 Jahren aufs Land zog.
Die schlimmsten Verleumder des Landlebens sind die Hochglanzmagazine, die die Freuden des Landlebens besingen. Da liegen Bündel getrockneten Lavendels und stehen Fläschchen selbst gekochten Holunderbeersafts auf dem Tischchen mit dem Vintage-Leinen, und der Rechen, mit dem buntes Laub geharkt wurde, lehnt an der Wand. Von der Arbeit selbst, vom Ringen mit dem Material, sieht man da nichts, und natürlich strahlt immer die Sonne. Die Küche, in der eben noch die Holunderbeeren durch die Flotte Lotte gekurbelt wurden, ist bar aller roten Spritzer, und sogar das viel fotografierte Paar Gummistiefel frei von Matsch.
Es sind solche Klischees, um derer willen viele Städter das Land aufsuchen; sie – wir alle! – brauchen offenbar die Farben, Düfte und stillen Verheißungen des Landlebens als Gegengewicht zu piepsenden Handys, künstlich unintelligenter Software und U-Bahnen voller Menschen, denen das Unglück des Lebens im Kapitalismus ins Gesicht geschrieben steht.
Aber wir werden das Glück des Landlebens nicht wirklich ausschöpfen können, wenn wir es vornehmlich antipodisch zu dem Leben in der Stadt denken – das war jedenfalls das Erste, was ich vor 18 Jahren lernte, als ich in dieses kleine Dorf in der Lüneburger Heide zog, nach ebenso vielen Jahren in der Stadt. Ich bemerkte, dass das Landleben zu viel Eigendynamik besitzt, um nur als Kulisse für ein besseres, beschaulicheres, viele würden sagen: achtsameres Leben zu dienen. Das gilt jedenfalls, wenn man nicht nur am Wochenende „hinaus“ fährt, um die Marmeladenrezepte der erwähnten Magazine auszuprobieren, sondern wirklich hauptsächlich auf dem Land lebt und im Dorfleben Wurzeln schlägt. Was die Menschen auf dem Land beziehungsweise in meinem 500-Seelen-Dorf angeht, erlebte ich die erste große Überraschung. Ich war gründlich mit dem Dogma des städtischen Lebens imprägniert, dass nur in der Stadt soziokulturelle Vielfalt, also auch die Toleranz gegenüber Minderheiten möglich oder jedenfalls an der Tagesordnung sei. Und es muss auch etwas dran sein an den vielen Berichten von Punks, queeren Menschen oder auf andere Weise nicht den Konventionen des Mainstreams entsprechend lebenden Leuten, die sich in ihrem Dorf ausgegrenzt fühlten und erst in der Stadt ein Biotop zum Aufblühen fanden. Ich kann aber ganz ehrlich sagen, dass mir als queerer muslimischer Frau, die noch dazu versucht, in dem Massentierhaltungsland Niedersachsen für eine tierfreie Ernährung zu werben, eine unfassbare Toleranz und sogar Herzlichkeit entgegengebracht wird.
In meiner Heimatstadt Frankfurt am Main hatte ich mit schöner Regelmäßigkeit gerade von Menschen meines Milieus, also Journalist:innen und weiteren Kulturschaffenden, Sätze mit kaum verhohlener islamfeindlicher Konnotation vernommen. In meinem jetzigen Dorf habe ich in 18 Jahren einen einzigen islamfeindlichen Witz, eine einzige gegen Geflüchtete gerichtete Bemerkung gehört und nur eine Person kennengelernt, die bisweilen auf unangenehme Weise auf mein „Türkischsein“ anspielt. – Allein, dass ich diese Vorfälle noch erinnern und an einer Hand abzählen kann! Die meisten islamfeindlichen Kommentare begegnen mir in den sozialen Medien, auf den Facebookseiten meiner Berliner Kolleg:innen. Selbstverständlich kennen sie alle irgendwie einen „türkischen Gemüsehändler“ oder Friseur, aber diese oberflächlichen Kontakte scheinen einer echten sozio-kulturellen Durchmischung nicht zu helfen.
Tatsächlich ist mir die Homogenität auch meines eigenen früheren städtischen Lebens erst auf dem Dorf so richtig aufgefallen: Gewiss, in der Statistik sieht die städtische Bevölkerung sehr divers aus. Aber wenn man einlädt oder ausgeht, trifft man doch meist nur Menschen ungefähr des eigenen Alters, Bildungsstands und Einkommensgrads. Die allermeisten der zig hundertausend Mitbürger:innen weiß man zu ignorieren. Auf dem Dorf hingegen grüßt nicht nur jede jeden, sondern man lernt auch, mit ihnen zu kooperieren. Man leiht einander Gerätschaften, hilft einander aus der Patsche, plaudert mit ihnen auf Bürgersteigen und an Gartenhecken.
Brav bei Fuß
Auf meiner letzten Geburtstagsfeier saßen ein ungelernter Landarbeiter und ein Professor der Soziologie nebeneinander und unterhielten sich über die männliche Dominanz in der katholischen Kirche; weil sie beide den Hintergrund des jeweils Anderen nicht einzuschätzen vermochten, führten sie das Gespräch mit erhöhter Behutsamkeit. So wie sich auch zwischen den Jägern des Dorfes und mir meist irgendwelche Themen finden, auf der wir als Menschen zueinander sprechen können, während mein Gesprächspartner komplett in Botanikgrün gekleidet ist und der auf Hatz trainierte Jagdhund brav bei Fuß sitzt, derweil ich an mein Auto lehne, auf dem ein großer Aufkleber prangt: „Wer Tiere achtet, isst keine.“
Ich habe also nicht nur den Eindruck, dass meinen „Besonderheiten“ mehr Toleranz entgegengebracht wird, sondern ich musste auch meine eigene Offenheit im Umgang ganz praktisch trainieren. Wie gesagt, damit zweifele ich nicht anders lautende Erfahrungsberichte an. Auch ich habe Fernsehbilder gesehen von ländlichen Gebieten, in denen Geflüchteten fremdenfeindliche Schilder zur Begrüßung entgegengestreckt wurden. Aber es ist eben keine Zwangsläufigkeit. Städtische Offenheit versus dörfische Borniertheit, so funktioniert der Gegensatz einfach nicht. Wie auch ein zweites Paar von zu Klischees geronnenen Unterschieden, was nämlich das Verhältnis zur Natur angeht. Offensichtlich ist in der Stadt weniger Erfahrung mit der (nicht-menschlichen) Natur und auf dem Land entsprechend mehr Anlass dazu gegeben: In der Stadt gibt es eine Menge Menschen und viel Asphalt, auf dem Land laufen weniger Menschen auf mehr begrünten Quadratmetern herum. Aber folgt daraus auch automatisch ein qualitativ anderes Naturverhältnis? Ein klares: Jein. Oft denke ich, dass in der Stadt die Naturbeherrschung einfach schon größtenteils abgeschlossen ist und nur noch „Instandhaltungsmaßnahmen“ zum Fernhalten alles Nicht-Menschlichen nötig sind: die dem Laien meist unsichtbaren Giftkampagnen gegen Ratten und Kaninchen, das Begraben von Grün unter Asphalt und Steinen (das in vielen Städten ja bereits rückgängig gemacht wird), das Vertreiben von Wildschweinen und Waschbären, die die Unverschämtheit besitzen, sich nicht an menschliche Hinweisschilder und Ortsbegrenzungen zu halten.
Auf dem Land hingegen, das ist mein trauriger Eindruck, ist die Naturbeherrschung allerorten und zu jeder Zeit voll im Gange. Übers gesamte Land verstreut finden sich große Hallen mit Schornsteinen und Silos, in denen hunderte Millionen Lebewesen eingesperrt und auf ihren Tod hin gemästet werden. (Ja, wirklich: Es sind etwa eine Milliarde Wirbeltiere in Deutschland jedes Jahr.) Dass mancherorts Menschen Rehkitze mit Drohnen aufspüren, ändert leider nichts daran, dass jede Mahd und jede Ernte eine Vollkatastrophe für kleine Lebewesen ist – von immer geringerem menschlichem Bemühen begleitet, den Schaden klein zu halten: Auf jeder Landmaschinenausstellung werden die Traktoren noch größer und die Motoren noch stärker.
„Ich muss hier raus“, sagte einmal eine Bekannte aus der Großstadt in der kalten Jahreszeit, „ich ertrage die Fußgängerzonen voller Pelzkrägen nicht mehr.“ – „Komm bloß nicht hierher!“, musste ich sie warnen, „hier steht an jeder Biegung des Wegs ein Hochsitz.“ Wie oft wird die schöne Abendstimmung von Schüssen jäh durchbrochen, manchmal von mehreren kurz hintereinander, wenn die erste Kugel das Tier nicht tödlich erwischt hat. Das Schlimmste aber sind in jedem November die Treibjagden, bei denen sich an den Rändern der Dörfer eine Unzahl von ansonsten gemäßigten Männerstimmen zu einem martialischen Geheul verdichtet, das große und kleine Tiere durch die Wälder hetzt. Am liebsten würde man sich Kopfhörer aufsetzen oder das Dorf fliehen – wenn dies nicht irgendwie feige und unsolidarisch gegenüber denen wäre, die ja nicht entfliehen können.
Alte Schafe streicheln
Doch nachdem ich nun einerseits die mangelnde städtische menschliche Durchmischung und andererseits die ländliche Naturunterwerfung beklagt habe, bedeutet dies, dass es letztlich doch egal ist, wo man lebt? Nun, ich sehe Vor- und Nachteile auf beiden Seiten; Aussagen, wo es „besser“ sei, erübrigen sich, weil menschliche Vorlieben so unterschiedlich sind. Wofür mein eigenes Herz schlägt, ist nichtsdestotrotz klar: Ich möchte den Blick aufs Grün in allen Himmelsrichtungen nicht mehr missen; habe mein Bett so gestellt, dass ich nur Blätter, Himmel und Wolken durchs Fenster erblicke, und meine Einbauküche so angeordnet gelassen, dass ich beim Kochen direkt in den Wald schaue. Ich möchte morgens den Nebel über den Wiesen liegen sehen und abends meine alten Schafe streicheln.
Vor allem aber liebe ich den Wechsel der Jahreszeiten, und sie waren eigentlich der Grund, warum ich hierhergezogen bin. In der Stadt erlebt man den Jahreslauf nur in Ausschnitten oder einfach als „Wetter“, doch auf dem Land wird man in die Stimmung der Natur gleichsam von allen Seiten hineingezogen. Zugegeben, den Matsch des Februars und März muss man schlicht überleben. Spätestens im Mai dann aber schießt das Grün mit einer Intensität hoch, dass es fast grotesk ist: Das Chlorophyll holt die Energie der Sonne auf unsere Erde und befeuert das Wachstum. Reh- und Hirschmütter führen ihre Kleinen bis fast an mein Küchenfenster heran. Nachts höre ich manchmal spielende (oder streitende?) Frischlinge quietschen.
Im Sommer die Farbwechsel der Blüten, der reifenden Grassamen, zunehmend leider auch der verdorrenden Gräser und Kräuter. Man muss achtgeben, wenn man noch ein paar Kirschen abbekommen will, bevor Amseln und Krähen sie verzehren. Ein Waschbär raschelt nachts im Mirabellenbaum, Haselnüsse beginnen zu reifen. Eicheln fallen. Blätter verfärben sich, jeder Baum seinem eigenen Zeitgefühl folgend. Wenn Stürme durch den Wald ziehen, ob noch belaubt oder unbelaubt, rauschen und ächzen die Äste und erinnern uns im Haus daran: Ihr seid geborgen. In manchen Wintern gibt es noch Schnee wie im Märchen: große, unberührte Flächen aus weißem Glitzer, der knirscht, wenn wir die Stiefel hinein versenken. Die Abdrücke von Füchsen, Rehen und Katzen. Das Wissen, dass unter der Schneedecke Mäuse flitzen.
Mit allen Sinnen steht man als einzelnes Menschlein inmitten des unübersichtlichen, überbordenden lebendigen Treibens; kriegt nasse Schuhe und nasse Füße, der Duft des Frühlings verfängt sich in den Haaren; man pflückt Blüten, die man angeblich in den Salat tun kann, repariert einen Zaun und holt sich einen Splitter. Man fasst tausenderlei Dinge und Materialien an: Werkzeuge, Pflanzen, Rinde, Sand; hilft einer Schnecke über die Straße und hat Schleim an den Fingern. Rückenschmerzen von all dem Laubrechen gestern, aber so ein Laubpusterscheusal kommt nicht in Frage. Holt eine Spatenladung Erde aus dem Beet, sieht, dass darunter Ameisen wohnen – eine richtige Babystube! –, stopft den Klumpen wieder zurück. Interagiert mit Mensch, Tier und Erde, pflückt die Holunderbeeren, wartet, bis sich alle Ohrenkneifer in Sicherheit gebracht haben, beruhigt die mitkochende Freundin, die unvermutet eine Art Ohrenkneiferphobie an den Tag legt. Schwingt den Löffel, kurbelt die Flotte Lotte, putzt die Küchenmöbel bis in die Puppen. Denkt: Ob es das wert war, so viel Mühe für die drei Flaschen? – Oh ja, das war es. Vitamine für den Winter, und was für ein sattes Purpur-Violett! Danke, liebes Erdenleben.
LITERATUREMPFEHLUNG
Hilal Sezgin: Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren. Verlag Knesebeck, München 2023, 304 Seiten, Euro 24,–.
Hilal Sezgin
Hilal Sezgin ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in der Lüneburger Heide.