Der Theologe und Autor Klaas Huizing ist auf dem Dorf aufgewachsen. Er hat dort schon vor Jahrzehnten erstaunlich viel Liberalität erlebt. Nie hat er eine abfällige Bemerkung gehört über den queeren Bauern im Nachbardorf, der in Frauenkleidern auf seinem Trecker saß. Aber irgendwann wollte Huizing raus aus dem Dorf. Nun lebt er gerne in Städten und vermisst einen Garten nur äußerst selten.
Ich komme vom Dorf. Ich kann Trecker fahren – mit Vorliebe die der Marke Deutz. Ich kann sensen und eine Sense dengeln. Ich war häufig dabei, wenn Kühe kalbten. Ich habe bis heute eine nicht therapierte ästhetische Schwäche für Kühe – wegen ihrer dramatisch außenstehenden Augen. Mein dörfliches Schönheitsideal. Ich liebe den Geruch eines Kuhstalls in den Herbst- und Wintermonaten: herrlich duftend nach getrocknetem und fermentiertem Gras. Meine Nase kann noch heute den Schleckenklee herausfiltern. Silage, das extrem lange anhaftende Parfum des Dorfes. Ich spreche Plattdeutsch. Grafschafter Platt. Eine Regionalsprache. Kein Dialekt, bitteschön. Grafschaft, du hast es besser. Und: Ich liebe Dorfromane und Filme, in denen ein Dorf, gerne abfällig trostloses Kaff genannt, Protagonist ist und die Erzählmuster Neues und zugleich Aufregendes versprechen.
Und doch: Ich bin aus dem Provinznest unmittelbar nach dem Abitur hinausgeklettert, beileibe nicht hinausgeworfen worden. Nach dem frühen Tod meines Vaters hätte meine Mutter mich sehr gerne in ihrer Nähe gewusst. Der ominöse Ruf der Freiheit? Das Glücksversprechen der Großstadt? Das trifft meine Motivation nicht präzise. Der Enge eines calvinistisch dominierten und ritualisierten Alltags entfliehen? Das schon eher. Aber das Script für den Auszug war eher ein Bildungsroman. Hin zu den Universitäten. Universum. Ein Gegenmodell zum Dorf. Gerne lebe ich in Städten und vermisse einen Garten äußerst selten. Eine Weide, ja eine Weide vermisse ich schon. Meine Bibliothek – ich bin bekennender Bibliomane – sind mir kritische Wälder. Richtig: Mit meiner Primärkompetenz: dengeln, sensen, treckern, Assistenz bei Kalbgeburten, Plattdeutsch konnte ich in den großen Städten wenig anfangen, ich musste also umschulen.
Und trotzdem habe ich immer das Dorf verteidigt, wenn in einem Gespräch eine abfällige Bemerkung fiel. Hinterwäldler. Erzkonservative. Eigenbrödler. Tölpel. Der Gegenschimpf Lackaffe will dann sofort auf meine Zunge. Nein. Eine erste Richtigstellung: Mein Dorf war bereits hübsch divers, als der Begriff noch nicht bekannt war. Von Amerika, genauer: den Trumpisten geht, das hat sich herumgepostet, inzwischen eine Bewegung aus, die bereits die Nennung des Wortes Diversität unter Strafe stellt und alle als woke denunzierten Universitäten finanziell auszutrocknen droht.
Noch ein Klimawandel
Noch ein Klimawandel kündigt sich also an. In meinem Dorf gab es vier Kirchen: reformiert, lutherisch, katholisch, holländisch-reformiert. In versöhnter Verschiedenheit. Und versprengte Religionsabstinenzler gab es auch. Die blieben unbehelligt. Wie die zunächst sehr wenigen türkischen Gastarbeiter ihren Glauben lebten, wurde allerdings erst mit reichlicher Verspätung Thema. In einem Nachbardorf gab es einen queeren Bauern, der in Frauenkleidern auf seinem Trecker saß. Niemals habe ich eine abfällige Bemerkung über ihn gehört. Ein enger Freundeskreis bei uns im Dorf lebte das Projekt offene Ehe. Auch auf dem Dorf war – leicht verzögert – Mitte der Siebziger die sexuelle Revolution angekommen. Ich sprach meine Mutter nebenbei auf das Gerücht an. Sie nuschelte: Partnertausch. Öfter mal was Neues. Ich war erstaunt darüber, dass meine Mutter dieses Wort Partnertausch überhaupt kannte und wie gelassen sie, eine überzeugte Calvinistin, damit umging.
Zweite Richtigstellung: Und auch das ist ein übles Gerücht: Die Dörfler lebten und leben nicht im eigenen Haus in einer Plüschhölle – Plüsch war die dörfliche Variante von velvet underground; und sie lebten und leben auch nicht draußen vor der Tür in einer Waschbetoneinöde mit hitzebeständigen Plastikstühlen und verstaubten Häkeldecken, sondern auf einem trittsicheren Waschbetonstrand (Terrasse, Eingang, Blumenbeeteeinfassungen). Waschbeton war durchaus mal Avantgarde und fassadentauglich. Wie alle Stereotypen überzeichnen auch die genannten und sind oft einfach ermüdend oder schlicht falsch.
Bis heute gibt es ein eingeübtes Vokabular, um Einheimische und Fremde, Dörfler und Städter voneinander unversöhnlich abzugrenzen: nämlich als Barbaren (altgriechisch: stammeln, stottern). Kunst, sagen wir: große Kunst, schafft es, diese scharfe, denunzierende Abgrenzungs- und Abschottungs-Vokabel so umzuleiten, dass sie zur Selbsterkenntnis führt und im Idealfall zu einer Neuorientierung anleitet. Der südafrikanische Autor John Maxwell Coetzee inszeniert diesen Turnaround in seiner großartigen Parabel Warten auf die Barbaren.
Die Barbaren
Jüngst ist ein französischer Film, eher Komödie als Drama, mit dem Titel Die Barbaren: Willkommen in der Bretagne (Regie und Hauptrolle: Julie Delpy, 2024) erschienen, der ebenfalls die Zuordnung des Begriffs kurzzeitig umkehrt. Herrschte in dem bretonischen Dorf zunächst noch Einmütigkeit darüber, eine ukrainische Familie im Dorf aufzunehmen, wird ihnen, da aktuell die ukrainischen Flüchtlinge versorgt waren, von der Verwaltung eine syrische Familie zugeteilt, und prompt verfliegt die Einmütigkeit, und Islamophobie macht sich unter den so genannten Einheimischen breit. Der Film zeigt sehr plastisch, wie eine Selbstbildhinterfragung einsetzt und Transformationsprozesse angeschoben werden. Die Barbaren, das sind wir. Der Stresstest wird komödiantisch bestanden und der toxische affektive Populismus eingedämmt.
Es gab aber nicht nur Zuzug in den Dörfern von außen, sondern auch innerhalb des Landes aus den Ballungszentren. Spätestens seit Ende der Neunziger des letzten Jahrhunderts gab es einen freiwilligen Auszug der Städter Richtung Dorf – zunächst kein Massenauszug. Dann kam es in den Zehnern und vor allem in den vergangenen Jahren laut ZDF zu einer Stadtfluchtbewegung. Die Gruppe der Zugezogenen war und ist nicht homogen, Familien flohen und fliehen vor den dramatisch steigenden Mieten (und stehen morgens im Stau), im Motivationsarsenal gab und gibt es aber auch Eliten mit einem überreichen Vokabularienschatz, die nicht nur dem Lärm und dem Stress und der Hitze der Großstadt entfliehen, sondern sich als Anhänger des Schrumpfens zu erkennen geben, späte Kinder und Prophetinnen des „Club of Rome“-Berichts über die Grenzen des Wachstums (1972). Diese sendungsstarke Gruppe will die grassierende Selbstausdehnung und den Statusehrgeiz des auf Wachstum und Autonomie-Ausweitung setzenden Liberalismus reduzieren. Sie sind Bekennende der degrowth-Bewegung, um Ökonomie und Ökologie in eine Balance zu bringen. Das geht manchmal nicht ohne Friktionen mit den Dorfbewohnern ab, die über diesen Zuzug nicht flächendeckend begeistert sind, spätestens dann nicht, wenn missionarische Obertöne im Stimmengewirr auszumachen sind und Städter im Manufactum-Tarndress den konventionellen Bauern die Pflicht zum Öko-Turn beibringen wollen. Barbaren auch hier.
Dritte Richtigstellung: Barbaren sind wir zuweilen alle. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat in ihren atmosphärisch sehr präzisen Gesellschaftsromanen dieses laut vorgetragene Evangelium der Selbstbeschränkung im Klein-Klein des Alltags untersucht. Ich lese diese Romane auch als immer wieder neu zu moderierenden Streit zwischen Schrumpfungsversuchen und Verlustängsten (Andreas Reckwitz). Verzicht tut weh, und es ist bis auf Weiteres offen, ob der Schritt vom schmerzenden Verzicht zur gespürten Einsicht führt: Verzicht tut gut! Und noch verschärfend gesagt, ob es eine charismatische Figur gibt, die diesen Spagat vorlebt, moderiert und massentauglich macht. Charismatiker, sprich: Gute Charismatiker und Charismatikerinnen fallen nicht vom Himmel. (Mein Schreibprogramm unterringelt die Wörter Charismatiker und Charismatikerinnen rot, kennt sie also nicht einmal. Wenn das kein Zeichen ist!) Und: Wie wird verhindert, dass es im Prozess der Umgestaltung zu Opferclustern in Stadt und Land kommt? Ist ein softer Übergang überhaupt denkbar? Und von wo aus wird eine neue Orientierung ausgehen?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: In einem urbanen Umfeld entwickelt sich ein Talent zu einem Politprofi, das die mediale und digitale Öffentlichkeit bespielen kann, gut vernetzt ist und begeisternd redet und handelt. Die Partei „Die Grünen“ hat mit Luisa Neubauer fraglos ein Ass im Ärmel. Die französische Philosophin Corine Pelluchon, die in Deutschland viel Zuspruch erfährt, setzt politisch übrigens auf die Tierschutzparteien aller Länder. Zweitens könnte sich eine Bewegung aus dörflicher Verankerung heraus entwickeln. Dörfliche Strukturen haben – meine vierte Richtigstellung – einen riesigen Vorteil: Einwohnerinnen und Einwohner kommen mit diversen Milieus täglich in Kontakt und können sehr viel besser lernen, zu moderieren und Polarisierungen zu vermeiden. Kompromisse gehören hier zur Tagesordnung. Ich gestehe: In meinem urbanen Leben verlasse ich mein universitäres Milieu nur selten, bleibe bequem und kuschelnd in meiner Blase. Eine sich aus dörflichen Strukturen entwickelnde Bewegung müsste nicht zwangsläufig in eine Parteigründung münden. Aber politisch muss sie werden.
Zum Abschluss eine kleine Erinnerung an eine Geschichte aus dem Alten Testament: In politischen Kontexten kann sich demütig gebender Verzicht auch fatale Folgen zeitigen. Die auch poetisch großartig arrangierte Jotamfabel, zu finden im Buch der Richter (9,5–21), warnt vor der Wahl eines falschen Königs. Hintergrund ist die Wahl des Königs Abimelechs, ein unehelicher Sohn Gideons, der zum König von Sichem gewählt wurde.
Wählende Bäume
Die Fabel geht so: Bäume, die einen König wählen und salben wollen, fragen zuerst die edlen Bäume wie Ölbaum, Feigenbaum und Weinstock an. Diese Bäume verzichten nacheinander, weil sie sich auf ihre Primärkompetenz beschränken wollen und lieber verwurzelt bleiben, als über die anderen Bäume zu schweben. Die Findungskommission fragt schließlich den Dornbusch, der zustimmt, der Schatten zu spenden verspricht, von den anderen aber einen Vertrauensvorschuss verlangt, verpackt in die Drohung, sie andernfalls im Dornbuschfeuer zu vernichten. Der Dornbusch droht vorab mit Waldbrand. (Bekanntlich offenbart sich Gott dem Mose in einem nach dieser Geschichte als zwielichtig zu deutenden Dornbusch. Und das Folteropfer Jesus wird mit einer Dornenkrone verhöhnt. Ich muss darauf verzichten, diese Geschichte hier weiterzuverfolgen.) Gewählt wird Abimelech, weil er zum engeren Clan aus Sichem zählt, nicht zu den 70 anerkannten Söhnen Gideons, auch genannt: Jerubbaal. Einer von uns. Aus unserer Mitte, unser Stammbaum, werden die Einwohner von Sichem gesagt haben. Abimelech meuchelt unter tatkräftiger Hilfe aus Sichem alle Halbbrüder aus dem anderen Stammbaum, bis auf Jotam, der versteckt überlebt und die Fabel erzählt. Als König von Sichem führt Abimelech die Stadt letztlich ins Verderben, denn als die Einwohner sich gegen ihn auflehnen, zerstört er die Stadt und tötet die Einwohner. Dem König selbst fällt nicht der Himmel auf den Kopf, sondern ein Mühlstein, von einer Frau zielsicher von einer Festigungsanlage losgeschickt. Schwer verletzt, fordert Abimelech seinen Waffenträger auf, ihn zu erstechen, damit es nicht heiße, er sei durch Frauenhand gestorben. Ein Idiot noch im Tod.
In der Fachwissenschaft herrscht Uneinigkeit darüber, ob mit dieser Fabel das Königtum per se kritisiert wird: Taugt kein König zum Lebensbaum für ein Volk? Auch die biblischen Geschichten bleiben skeptisch. Charismatische Herrschaft, sofern sie nicht ausgrenzt, sondern ansteckend lebensdienlich ist, bleibt von der Kritik nicht betroffen. Auch Jesus von Nazareth, der charismatische Wanderprediger (Gerd Theißen), war bekanntlich Dörfler. Wer Talent hat, auch das lehrt die Fabel, darf sich nicht getarnt demütig verweigern, eine öffentliche Person zu werden, die Verantwortung übernimmt und andere animiert. Fazit: Woher kommt Gutes? Leichter Vorteil: Dorf.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.