Streit um Abbrüche

Warum die evangelische Kirche ihrer ethischen Verantwortung nicht gerecht wird
Der Chefarzt des Zentrums für Frauenheilkunde am Klinikum Lippstadt, Joachim Volz, klagt vor dem Arbeitsgericht Hamm gegen zwei Weisungen seines Arbeitgebers.
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Der Chefarzt des Zentrums für Frauenheilkunde am Klinikum Lippstadt, Joachim Volz, klagt vor dem Arbeitsgericht Hamm gegen zwei Weisungen seines Arbeitgebers.

Aus wirtschaftlichen Gründen haben sich die evangelische und die katholische Klinik im westfälischen Lippstadt zu einem gemeinsamen Krankenhaus zusammengeschlossen. Daraufhin wurde dem langjährigen Chefarzt der Gynäkologie, Joachim Volz, untersagt, Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer Indikation vorzunehmen. Ein Fall für die Gerichte. Warum die evangelische Kirche dadurch ein massives Glaubwürdigkeitsproblem hat, erläutert der emeritierte Bonner Sozialethiker Hartmut Kreß.

Im westfälischen Lippstadt ist eine Kon­troverse entbrannt, die bundesweit große Aufmerksamkeit findet. Die evangelische und die katholische Klinik von Lippstadt haben sich aus ökonomischen Gründen zu einem gemeinsamen Krankenhaus zusammengeschlossen. Für das fusionierte Klinikum sollen laut Gesellschaftsvertrag das Arbeitsrecht der katholischen Kirche sowie die katholischen Moralnormen gelten. Auf dieser Basis wurde dem langjährigen Chefarzt der Gynäkologie, Joachim Volz, im Januar 2025 per Dienstanweisung untersagt, weiterhin Schwangerschaftsabbrüche gemäß medizinischer Indikation durchzuführen. Konkret betraf dies unter anderem den Fall, dass eine Frau die Schwangerschaft abbrechen wollte, weil dem Fetus Teile des Gehirns fehlten (Anencephalie). Solche Feten sind nicht lebensfähig; nach der Geburt werden sie auf jeden Fall sterben.

Der katholische Standpunkt

Nach deutscher Gesetzeslage (Paragraf 218a Absatz 2 Strafgesetzbuch) sind solche Abbrüche nicht nur straffrei, wie es für Abbrüche in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten gilt, wenn die Frau eine psychosoziale Pflichtberatung absolviert. Vielmehr hat das Gesetz festgelegt, dass Abbrüche gemäß medizinischer Indikation eindeutig rechtmäßig sind. Hiermit trägt es dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Schutz ihrer psychischen Gesundheit Rechnung.

Von dieser Gesetzeslage weicht die Klinik in Lippstadt ab, seitdem die katholische Kirche dort den Ton angibt. Einen Schwangerschaftsabbruch duldet die Klinik unter bürokratischen Auflagen nur noch im extremen Ausnahmefall. Leib und Leben der Frau müssen direkt bedroht sein, und es muss ausgeschlossen sein, dass der Fetus physisch irgendwie am Leben erhalten werden kann. Der Hintergrund ist die Lehre der katholischen Kirche, für die jede Abtreibung ein Mord ist. Papst Franziskus hat oftmals geäußert, Ärztinnen und Ärzte würden bei Abtreibungen die Handlanger von „Auftragsmorden“. Dogmatisch beruht dies darauf, dass Gott nach katholischer Lehre der befruchteten Eizelle am Tag 1 eine unsterbliche Geistseele eingebe, durch die sie absolut unantastbar werde. Diese Doktrin gilt seit dem Jahr 1869. Zuvor hatte die Kirche zumeist gelehrt, die Einstiftung der Geistseele durch Gott erfolge am 90. Tag nach der Empfängnis. Der Chefarzt Joachim Volz, der in Lippstadt ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe aufgebaut hat, setzte sich gegen die neue Dienstanweisung zur Wehr. Er initiierte eine Online-Petition mit der Überschrift: „Ich bin Arzt & meine Hilfe ist keine Sünde: Stoppt die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen!“. In knapp sechs Wochen wurde die Petition von fast 300 000 Menschen unterschrieben. Volz möchte die Frauen nicht im Stich lassen, die sich ein Kind gewünscht haben, dann durch pränatale Diagnostik von gravierenden Schäden des Kindes erfahren und sich in schwerer physischer und psychischer Bedrängnis befinden. Im Einklang mit der ihn unterstützenden Ärztekammer hält er es für medizinisch und für ethisch unhaltbar, diese Frauen wegzuschicken. Die neue Klinikleitung erlegt ihnen jedoch auf, dass sie nicht bei dem Arzt ihres Vertrauens bleiben dürfen, sondern sich anderswo, möglicherweise weit entfernt, eine Klinik suchen und den Abbruch dort durchführen lassen müssen.

Juristische Auseinandersetzung

Um im Sinne der Patientinnen eine Klärung herbeizuführen, hat Volz gegen das ihm auferlegte Verbot arbeitsrechtlich geklagt. Dabei berief er sich darauf, dass der bisherige evangelische Klinikträger die von ihm vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche stets akzeptiert hatte. Außerdem hatte er die gesetzliche Bestimmung auf seiner Seite, der gemäß bei einem Betriebsübergang Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen unzulässig sind (Paragraf 613a Bürgerliches Gesetzbuch).

Trotzdem hat das Arbeitsgericht Hamm am 8. August 2025 seine Klage abgewiesen. Zur Begründung stützte sich das Gericht auf das kirchliche Arbeitsrecht. Der deutsche Staat hat Kirchen über die von ihnen getragenen Sozial- oder Gesundheitseinrichtungen eine Bestimmungsmacht zugestanden, wie es in keinem anderen Staat vorstellbar ist. Aus Sicht des Arbeitsgerichts Hamm war das Lippstädter Klinikum befugt gewesen, dem Chefarzt Abbrüche gemäß medizinischer Indikation zu verbieten, weil es sich hierfür auf die Moraldoktrin der katholischen Kirche stützen konnte. Das Gericht ging noch einen Schritt weiter und erklärte es für rechtens, dass das Klinikum gegen Volz sogar ein Doppelverbot verhängt hatte. Die neue katholische Klinikleitung untersagte ihm nicht nur Schwangerschaftsabbrüche im Klinikum selbst, sondern darüber hinaus in seiner in Bielefeld betriebenen kassenärztlich zugelassenen Arztpraxis. Diese Praxis ist auf Kinderwunschbehandlungen spezialisiert. Das zweite Verbot ist deklaratorisch und symbolisch. Denn in der Bielefelder Kinderwunschpraxis hat Volz nie Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt.

Juristisch hatte die Klinik das zweite Verbot darauf gestützt, auch Nebentätigkeiten eines Chefarztes seien genehmigungspflichtig. Der Sache nach befremdet allerdings, dass Volz für Bielefeld medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche untersagt wurden, die dort gar nicht vorkommen. Theoretisch hätte die katholische Klinikleitung ihm stattdessen die Behandlungen verbieten müssen, die in seinem Kinderwunschzentrum den Schwerpunkt ausmachen, nämlich die außerkörperlichen Befruchtungen zum Zweck der Sterilitätstherapie. Solche reproduktionsmedizinischen Behandlungen werden vom katholischen Lehramt als „in sich selbst schlecht“ bewertet und sind lehramtlich strikt verboten, weil sie mit der katholischen Lehre über Embryonen, über die Ehe und über den natürlichen Akt der Fortpflanzung nicht vereinbar seien.

Wie ist es zu beurteilen, dass das Arbeitsgericht Hamm der neuen Klinikleitung Recht gab? Das Gericht ignorierte, dass der deutsche Gesetzgeber Schwangerschaftsabbrüche gemäß medizinischer Indikation ausdrücklich gestattet. Es hat einäugig nur die Bestimmung des Grundgesetzes aufgegriffen, der zufolge eine Religionsgemeinschaft über ihre eigenen Angelegenheiten selbst bestimmen darf. Diese Norm entstammt der Weimarer Reichsverfassung, findet sich dort in Artikel 137 Absatz 3 und ist in den Grundgesetzartikel 140 inkorporiert worden. Das Arbeitsgericht Hamm ließ aber außer Acht, was ebenfalls im Grundgesetz zu lesen ist, nämlich: Das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen steht unter dem klaren Vorbehalt, dass sie sich an die „für alle geltenden Gesetze“ zu halten haben. Ein solches Gesetz ist die Erlaubnis des Schwangerschaftsabbruchs nach medizinischer Indikation in Paragraf 218a Absatz 2 Strafgesetzbuch. Daher sind die Schwangerschaftsabbrüche gesetzeskonform und rechtmäßig, die die neue Klinikleitung in Lippstadt verboten hat und die sie dem Arzt symbolisch auch für seine Bielefelder kassenärztliche Praxis untersagt hat.

Katholische Widersprüchlichkeit

Doch es gibt noch weitere juristische Fragezeichen. Zwar verbietet die katholische Kirche ihren Kliniken in Deutschland überall die staatlich erlaubten Schwangerschaftsabbrüche gemäß medizinischer Indikation. Jedoch bleibt sie inkonsequent. Die Klageschrift des Chefarztes Volz hat Beweismaterial bereitgestellt, das belegt, wie verschiedene katholische Kliniken das ihnen auferlegte Verbot umgehen. Anders gesagt: Die katholische Kirche in Deutschland hält in den von ihr getragenen Einrichtungen die Verbotsnorm, für die sie sich auf die katholische Moraldoktrin beruft, nicht durch. Sie verhält sich also selbstwidersprüchlich. Aufgrund dieses Sachverhalts hätte das Arbeitsgericht Hamm das in Lippstadt ausgesprochene Verbot juristisch nicht akzeptieren dürfen. Volz wird den Gerichtsweg jedenfalls weiter beschreiten.

Bei alldem ist zu fragen: Wo bleibt die evangelische Kirche? In Lippstadt handelt es sich um einen Wiederholungsfall. Im Jahr 2019 haben bereits in Flensburg eine evangelische und eine katholische Klinik fusioniert. Wie in Lippstadt erklärte die katholische Seite schon dort ihr Nein zum Schwangerschaftsabbruch für unverhandelbar. Die evangelische Seite beugte sich dem katholischen Diktat. Das Nachsehen haben die Patientinnen, die sich im Flächenland Schleswig-Holstein um Ausweichmöglichkeiten bemühen müssen.

Nun ist zweifelhaft, ob eine einzelne evangelische Einrichtung überhaupt berechtigt ist, für eine fusionierte Klinik die liberalere evangelische Position zum Schwangerschaftsabbruch einfach aufzugeben und die rigoristische katholische Moraldoktrin zu übernehmen, so dass die katholische Lehre dann auch für alle Beschäftigten maßgebend wird. Auf diesem Weg kam im Januar 2025 in Lippstadt ja die Dienstanweisung zustande, die dem Chefarzt Volz medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche untersagte. Das Bundesverfassungsgericht hat vorgeschrieben, dass die Pflichten, die bei kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen gelten sollen, den Beschäftigten nicht von einer einzelnen Einrichtung auferlegt werden dürfen. Sie müssen vielmehr von der verfassten Kirche festgelegt werden (Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 4.6.1985 – 2 BvR 1703/83 u. a., 2. Leitsatz). Das Gleiche muss dann aber auch gelten, wenn eine evangelische Einrichtung auf ihren evangelischen Standpunkt verzichtet und sich die katholische Position zu eigen macht, weil sie mit einer katholischen Einrichtung auf der Basis der katholisch-religiösen Doktrin fusioniert. Das Arbeitsgericht Hamm hat offenkundig nicht nachgeprüft, ob die leitenden Organe der Evangelischen Kirche von Westfalen – Kirchenleitung, Synode – mit der Übernahme der katholischen Doktrin über den Schwangerschaftsabbruch tatsächlich einverstanden waren. Die evangelischen Kirchen werden sich mit den verfassungs- und den kirchenrechtlichen Aspekten von Fusionen jedenfalls verstärkt auseinandersetzen müssen.

Evangelische Profillosigkeit

Für die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit ist erheblicher Schaden entstanden. Schon in der Vergangenheit war immer wieder zu beobachten gewesen, dass sich die evangelische Kirche zu biomedizinischen Fragen letztlich der katholischen Auffassung angeschlossen hat, obwohl sie die katholische theologische Begründung eigentlich nicht teilt. Ein Beispiel ist die pauschale Ablehnung der Präimplantationsdiagnostik, die die Evangelische Kirche in Deutschland im Jahr 2011 ausgesprochen hat. Was Schwangerschaftsabbrüche gemäß medizinischer Indikation anbelangt, wären die evangelischen Kirchen besser beraten, wenn sie dabei blieben, das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und ihr Recht auf gesundheitliche Versorgung zu respektieren. Wenn sie sich heute mit katholischen Einrichtungen zusammenschließen, verlassen sie diese Linie. Hiermit tragen sie selbst dazu bei, dass das evangelische Profil erodiert, die Reputation der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit weiter abnimmt und Menschen wegen der katholischen Kirche und deren Lehre aus der evangelischen Kirche austreten. 

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