Schwarzbrot für die Zukunft
Wer hätte vor zehn Jahren geahnt, dass die Kirche ein so unendlicher Raum der Möglichkeiten ist? Menschen werden zu Spontan-Taufen eingeladen, Ehrenamtliche schmieren auf öffentlichen Plätzen Hoffnungsbrote für Passanten, Pfarrerinnen touren mit mobilen Kaffeewagen durch die Gegend und kommen neu in Kontakt mit Menschen, Biergärten werden zu liturgischen Orten. Paare lassen sich spontan bei Hochzeitsfestivals trauen. Die goldene Kehrseite des Mitgliederschwunds und des damit einhergehenden Ressourcendrucks ist eine neue Freiheit.
Für Aktionen, die früher zu einem ernsten Gespräch mit der Kirchenleitung geführt hätten, gibt es heute tosenden Applaus in den Synoden. Kaum etwas scheint unmöglich im Moment. Das Land ist hell und weit. Neue Gestalten kirchlicher Präsenz entstehen an unzähligen Orten. Manches davon ist innovativ, vieles zumindest frisch und einladend. Ein neuer Pioniergeist belebt die Kirche. Endlich können die loslegen, die sich immer schon anderes vorstellen konnten als das kirchengemeindliche Normalprogramm.
Die Landeskirchen lassen all das nicht nur geschehen, sondern innovative Projekte werden explizit gewollt und gefördert. Erprobungsräume werden eingerichtet oder finanzielle Ressourcen in Form von Innovationsfonds bereitgestellt. Alle Zeichen stehen auf Veränderung, könnte man meinen. Und in der Tat erleben wir einen nie dagewesenen common sense in der Kirche, dass Transformation notwendig ist.
Schöner Wildwuchs
Schaut man aber genauer hin, so wird deutlich, dass all die entstehenden innovativen Dynamiken als schöner Wildwuchs am Rande der Organisation blühen, aber bisher wenig systemverändernd wirken. Es gelingt uns gegenwärtig kaum, all das Neue wirklich zu integrieren und die darin wahrnehmbaren zarten Konturen zukunftsweisender Kirchenbilder zum Kompass umfassender organisationaler Veränderungsprozesse zu machen. Strategische Förderung neuer Formen ist gut und richtig. Aber der Applaus auf Synoden für all das, was mit Innovationsmitteln möglich wurde, hat auch etwas Verführerisches. Es ist eine Form der Selbstberuhigung: um Innovation haben wir uns ja gekümmert, an die etablierten Strukturen, müssen wir ja nicht ran.
Kirchenentwicklung ist nicht bloß Glitzer und Feuerwerk mit innovativen Projekten, es ist vor allem auch Schwarzbrot, kleinteilige Arbeit an organisationalen Strukturen und der Organisationskultur. All die neuen Gestalten von Kirche sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiterhin so etwas wie eine systemimmanente Widerständigkeit unserer Organisation gegen Veränderung gibt. Der Grund dafür liegt nicht im Wesen des Christentums begründet. Das Evangelium Jesu Christi wird ja von jeher gerade in der produktiven Spannung von Tradition und Innovation lebendig und für Menschen erfahrbar und relevant. Der Grund für die Veränderungsallergie wird stattdessen durch eine systemische Sichtweise deutlich.
Allergie gegen Veränderung
Die Allergie gegen Veränderungen betrifft Organisationen in all ihren Spielarten. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) hat beschrieben, dass soziale Systeme gekennzeichnet sind von stabilen Kommunikationsmustern, Abgrenzung nach Außen, gegenseitige Beobachtung der Akteure und Gruppen sowie ein Konglomerat aus formellen und informellen Regeln. Gerät ein System unter Druck, lösen sich diese Konstitutionsprinzipien nicht etwa auf, sondern sie verstärken sich. Vor allem die eingespielten Kommunikationsmuster sind es dann, die immer wieder die Grenze markieren zwischen dem, was als möglich angesehen wird und dem, was als völlig unmöglich verworfen wird, bevor die Idee wirklich durchdacht ist.
Die Kirchen steht unter einem solchen Druck, der auch zu einer Verfestigung eingespielter Strukturen und Muster führt statt zu ihrer Verflüssigung. Ob eine wirkliche Transformation der Kirche möglich ist, wird sich perspektivisch nicht an der Quantität innovativer Projekte entscheiden, sondern daran, ob es gelingt, eine Entwicklungsbewegung in eine noch unbestimmte Zukunft spielerisch zum Alltagsrisiko unserer organisationalen Veränderungsprozesse zu machen. Vielmehr als um innovative Leuchttürme geht es darum, nach und nach kirchliche Muster beweglicher zu machen.
Erschöpft von Glitzer und Gloria
Die Last der Transformation kann nicht auf den Schultern derjenigen liegen, die ein innovatives Projekt nach dem Anderen aus dem Boden stampfen. Schaut man genauer hin, sind das auch häufig immer wieder dieselben Akteurinnen und Akteure und manch einer von ihnen ist auch mittlerweile erschöpft von Feuerwerk, Glitzer und Gloria. Kirchenentwicklung ist nicht die Initiative Einzelner. Sie wird auch nicht top-down von Kirchenleitungen verordnet. Wirkliche Kirchenentwicklung geschieht als ein Wandel, als die Summe kleiner Handlungen und Entscheidungen vieler Beteiligter.
Es ist die Art und Weise, wie ein Kirchenvorstand neue Formen findet, ins Gespräch zu kommen, so dass nicht immer derselbe alte Hase das letzte Wort hat, sondern die zwei Neuen im Team wirklich gehört werden. Es ist die neue coachende Haltung mit der eine Dekanin den berufseinsteigenden Pfarrer empowert. Es ist die gute Idee der Mitarbeiterin des Kirchenkreisamtes, einen Bürokratievorgang für alle einfacher zu gestalten. Es ist das verlässliche Onboardingkonzept, mit dem wir sicherstellen, dass Menschen, die neu in unsere Organisation kommen, gut anfangen und gern bleiben. Es ist der Synodalvorstand, der daran denkt, für das gelungene Projekt im nächsten Doppelhaushalt Finanzen einzuplanen. Es ist der Kirchenjurist, der am Telefon nicht sagt „Das geht nicht!“, sondern fragt: „Was braucht ihr? Ich schreibe Euch das Gesetz dazu!“
Ins Unbekannte
All diese kleinen und größeren Veränderungen sind Teil der Kirchenentwicklung. Immer wieder im Alltag unserer Organisation neue Durchlässigkeiten zu erzeugen, wird uns perspektivisch in Bewegung versetzen. Kaum eine dieser Mikrobewegungen wird Synodenapplaus ernten. Aber wenn wir alle daran arbeiten, wird der Geist der Veränderung nicht bloß in Leuchtturmprojekten wirksam, sondern im Alltag unserer Kirche. Den großen turn, der plötzlich alles verändert, den wird es nicht geben. Kirchenentwicklung geschieht da, wo es gelingt, dass wir uns von der Sehnsucht nach dem einen leitenden Ziel-Foto verabschieden und stattdessen ins Unbekannte gehen. Wir wissen nicht, wo die Reise hingeht und fangen trotzdem miteinander an.
Wochenaufgabe für Sie: Schauen Sie doch mal, ob sich Ihnen vielleicht ein Raum bietet in den kommenden sieben Tagen, unsere kirchliche Struktur beweglicher zu machen. Denken Sie nicht bloß darüber nach, sondern tun Sie es auch. Wiederholen Sie diese Wochenaufgabe mindestens 51 weitere Male. Es könnte sein, dass die Kirche dann schon deutlich mehr nach Zukunft schmeckt.
Katharina Scholl
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.