„Seismograph der Gesellschaft“

Der Zentralrat der Juden in Deutschland feiert sein 75-jähriges Bestehen.
„Wenn Juden bedroht sind, steht es um die Gesellschaft und die Demokratie meist nicht gut“, mahnte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland,  beim Jubiläumsempfang.
Foto: epd-bild/Christian Ditsch
„Wenn Juden bedroht sind, steht es um die Gesellschaft und die Demokratie meist nicht gut“, mahnte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, beim Jubiläumsempfang.

Beim Festakt zum 75. Jubiläum des Zentralrats der Juden mahnten Josef Schuster und Friedrich Merz zur klaren Solidarität mit Israel – und warnten eindringlich vor wachsendem Antisemitismus in Deutschland.

Um kurz nach sechs stieg die Spannung im Lichthof des Jüdischen Museums in Berlin. Nicht nur die Sitzreihen vor der Bühne waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch dahinter standen die Gäste dicht gedrängt, als zarte Geigentöne den Beginn des offiziellen Programms ankündigten. Rund 1000 Gäste, darunter auch EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs und Diakoniepräsident Rüdiger Schuch, waren der Einladung des Zentralrates der Juden in Deutschland gefolgt. Denn dieser feierte nicht nur den Beginn des Jahres 5786 nach jüdischem Kalender, sondern auch sein 75-jähriges Bestehen. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz war da, der als Festredner nach den einleitenden Worten von Zentralratspräsident Josef Schuster die Festrede halten sollte. 

Und das alles einen Tag nach Beginn der neuen Offensive der israelischen Armee in Gaza, die Israel mit dem Kampf gegen die Hamas und als Reaktion auf das von der Terrororganisation verübte Massaker am 7. Oktober 2023 begründet. Das Agieren der israelischen Armee stößt aber international immer mehr auf Kritik, auch in der Bundesregierung. Immerhin hatte Friedrich Merz angekündigt, dass Deutschland keine Waffen mehr nach Israel liefern werde, die im Krieg im Gaza-Streifen eingesetzt werden können. Weitergehende Sanktion hatte die EU-Kommission am Vormittag vorgeschlagen, die Bundesregierung hatte sich dazu noch nicht positioniert. Würde Friedrich Merz das nun tun? Und wie würde Josef Schuster reagieren? 

Natürlich – Schuster ist nicht der Botschafter Israels in Deutschland. Er hatte aber doch in der Vergangenheit immer wieder klargemacht, dass er von der Bundesregierung auch die volle militärische Unterstützung Israels erwartet. So auch an diesem Abend: „Solidarität mit Israel darf nicht relativiert werden. Sie ist keine außenpolitische Option, sondern immer wieder betonter Teil unserer Staatsräson“, sagte Schuster. „In den letzten Monaten hörte man immer wieder, dass Freunde zueinander ehrlich sein müssten. Nur sollten wir vor lauter Ehrlichkeit aber nicht die Freundschaft und gemeinsame Werte aus den Augen verlieren.“ 

Es folgten einige Sätze der Distanzierung von Israels Regierung: „Nicht alle Entscheidungen der Regierung Netanyahu sind für uns nachvollziehbar“, sagte Schuster. Mit den Äußerungen einiger seiner Kabinettsmitglieder haderten auch Juden außerhalb Israels. „Das darf aber niemals als Rechtfertigung dafür dienen, dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland von Israel abwenden oder die Unterstützung reduzieren. Aus gutem Grund heißt es Staatsräson und nicht Regierungsräson. Deutschland muss für die Sicherheit Israels einstehen, unabhängig davon, wie der Regierungschef heißt.“ Merz sei „ein echter Freund“ der jüdischen Gemeinde und auch „in enger Freundschaft und tiefer Empathie“ mit Israel verbunden, sagte Schuster. „Lassen Sie sich von diesem Weg nicht abbringen, weder von anderen europäischen Ländern noch von einzelnen Parlamentariern in unserem Bundestag.“ Großer Applaus im Saal.

Merz reagierte auf diese Sätze Schusters. Ausdrücklich bekräftigte er die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel. Das deutsche Bekenntnis zur Existenz und zur Sicherheit des Staates Israel sei „unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unserer Verfassung“. Aber: Kritik an der Politik der israelischen Regierung muss möglich, sie kann sogar nötig sein", sagt Merz. Dissens in der Sache sei „keine Illoyalität an unserer Freundschaft". Das dürfe aber nicht zum Vorwand für Judenhass werden.

Denn dass das Jubiläum in einer Zeit gefeiert wird, in der in Deutschland der Antisemitismus immer offener zu Tage tritt, darauf wiesen beide Redner hin. „Es wird ungemütlicher für Juden“, sagte Schuster. Der Antisemitismus, der seit jeher an den extremen Rändern verwurzelt sei, „bis direkt in die Mitte unserer Gesellschaft vorgedrungen“. Er zeige sich nicht nur in seinen gewalttätigen Auswüchsen, sondern zunehmend auch im Alltag. Er richte sich gegen Juden, aber er bedrohe stets die ganze Gesellschaft. „Juden sind der Seismograph einer Gesellschaft. Wenn sie bedroht sind, steht es um die Gesellschaft und die Demokratie meist nicht gut.“

Der Bundeskanzler hatte bei diesem Thema noch vor wenigen Tagen aus Anlass der Wiedereröffnung der Synagoge in der Münchener Reichenbachstraße darauf verwiesen, Politik und Gesellschaft hätten „zu lange die Augen davor verschlossen, dass von den Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, ein beachtlicher Teil in Herkunftsländern sozialisiert wurde, in denen Antisemitismus geradezu Staatsdoktrin ist“. An diesem Abend war sein Tenor ein anderer: Der Antisemitismus sei nie weg gewesen aus Deutschland. „Israelkritik und die krudeste Täter-Opfer-Umkehr sind immer öfter ein Vorwand, unter dem das Gift des Antisemitismus verbreitet wird«, erklärte Merz. „Unser Land nimmt an der eigenen Seele Schaden“, so Merz, wenn Kritik an der israelischen Regierung zum Vorwand für Judenhass wird. „Die Bundesrepublik wäre für immer entwurzelt gewesen ohne jüdisches Leben, ohne jüdische Kultur in unserem Land. Und wenn wir darum heute 75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland feiern, dann feiern wir auch das Geschenk, dass Jüdinnen und Juden hier wieder Heimat gefunden haben.“

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Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 

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