Mendelssohns Taschenuhr

Warum zum Begreifen mehr gehört, als Wissen

„Geben Sie sie vorsichtig weiter und lassen Sie sie bitte nicht fallen“. Mit diesen Worten reichte der Nachfahre der Mendelssohns, der uns durch die kleine Berliner Mendelssohn-Ausstellung in der Jägerstraße in Berlin-Mitte führte, mir eine kleine goldene Taschenuhr, die er einer grauen Kiste entnommen hatte. Eine Weile ruhte sie in meiner Hand, ein kostbares Werk des Londoner Uhrmachers Joseph Rose & Sons, die aus Familienbesitz in das kleine Berliner Museum gekommen ist. Es handelt sich um die Taschenuhr, die den Geschäftsmann und Philosophen Moses Mendelssohn begleitete und ihm vermutlich bei seinen vielen Beschäftigungen half, rechtzeitig vor Ort zu sein und präzise den Schabbat einzuhalten. Gebaut wurde die Uhr in exakt dem Jahr, in dem Mendelssohn seine Frau heiratete. Ob sie aus Anlass der Hochzeit nach Berlin gekommen ist, wissen wir nicht – vom Vater erhielt sie ein Sohn, der sich selbst mit dem Bau von Uhren beschäftigte. Jüngst restauriert, könnte man sie sogar aufziehen und zum Gehen bringen.

Mendelssohns Taschenuhr. Foto: Mendelssohn-Remise

Mendelssohns Taschenuhr. Foto: Mendelssohn-Remise

„Geben Sie sie vorsichtig weiter und lassen Sie sie bitte nicht fallen“. Nicht sehr oft darf ich in Museen und Sammlungen solche Kostbarkeiten in die Hand nehmen und meinen Nachbarn weiterreichen. Normalerweise ruhen solche Stücke in einer Vitrine und der Kurator, der sie herausnimmt, trägt weiße Stoffhandschuhe und nimmt Rara dieser Art höchstens ganz vorsichtig in die eigene Hand. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die ich leite, besitzt ein Archiv mit mancherlei Kostbarkeiten; die ebenso klugen wie umsichtigen Mitarbeitenden erinnerten mich jüngst daran, dass es ohnehin am besten ist, Originale gar nicht mehr zu zeigen und sich mit Kopien zu behelfen. Kaum auszudenken, was passiert wäre, wenn irgendeiner derer aus unserer Gruppe, die Mendelssohns Taschenuhr in der eigenen Hand auch noch fotografierten, das edle Werk auf den harten Steinboden hätte fallen lassen. Die kostbaren Zahnräder kann man ja nicht aus irgendeiner Serienproduktion nachbestellen und wieder einbauen, wenn sie zerbrochen sind.

Gerade feiert die Berliner Akademie, die auf die vormals Preußische Akademie der Wissenschaften zurückgeht, ihren dreihundertfünfundzwanzigsten Geburtstag. 1771 wollte man Mendelssohn, der mit vielen prominenten Denkern seiner Zeit im Austausch stand, als Mitglied zuwählen. Der König, der bis 1918 die Zuwahlen bestätigen musste, bestätigte die Zuwahl eines Juden nicht – obwohl er sonst so große Stücke auf seine Toleranz hielt und keine Probleme hatte, Atheisten, Agnostiker und Katholiken in die Akademie zuwählen zu lassen. Erst im folgenden Jahrhundert gelang es Alexander von Humboldt, den König davon zu überzeugen, einen jüdischen Naturwissenschaftler zuzuwählen, der allerdings später und nach seiner Wahl zum Christentum konvertierte. Zum Jubiläum haben wir eine Galerie der Nicht-Zugewählten eröffnet und einige der Frauen und Männer darin aufgehängt, deren Nicht-Zuwahl wir heute überhaupt nicht mehr verstehen (https://www.bbaw.de/galerie-der-nichtzugewaehlten).

Goethes Locke

Wenn man Mendelssohns Taschenuhr in den Händen halten darf und nicht nur einfach vor der Vitrine steht, in der sie geschützt vor schweißnassen Händen liegt, dann kommt einem diese beeindruckende Gestalt noch einmal ganz anders nahe. Der Philosoph Mendelssohn interessierte sich für das Zusammenwirken verschiedener Teile in einem harmonischen Ganzen – ob er wohl seine Uhr auch gelegentlich als kleines Sinnbild dieser großen Harmonie gesehen hat oder sie ihm einfach nur eine wichtige Stütze des Alltags war? Was er wohl dachte, wenn die Uhr ihm den Beginn oder das Ende eines Feiertags anzeigte? Die gelehrten Geselligkeiten Berlins mied er, weil er als frommer Mensch die Speisegebote nicht übertreten wollte, aber man damals auch noch nicht gelernt hatte, Rücksicht zu nehmen auf Menschen, die nicht alles essen wollen, was auf unsere christlichen Tische kommt.

Ich verstehe alle Kuratorinnen und Kuratoren, die schützend ihre Hände über Kostbarkeiten halten, die einst Menschen wie Mendelssohn gehörten. In einer Welt, in der vor allem Menschen Museen besuchten, die alle selbst solche Kostbarkeiten zu Hause hatten, war das auch nicht schlimm. Nie werde ich vergessen, wie ich in Heidelberg meinen Antrittsbesuch bei der Witwe eines bedeutenden Theologen machte, die selbst wissenschaftlich gearbeitet hatte und ihrerseits Tochter eines bedeutenden Theologen war. Sie zeigte mir eine kleine Eckvitrine in einer märchenhaft schön eingerichteten Wohnung und in der Vitrine ein kleines Glasschälchen. „Das ist eine Locke von Goethe“ kommentierte sie das weiße Haar, das in dem Schälchen lag. Und dann lenkte sie meinen Blick auf ein Ölbild eines Militärs, das über der Eckvitrine hing: „Dieser General kommandierte die Barrikade, gegen die 1848 Richard Wagner in Dresden anstürmte“. Heute sind, wenn ich recht weiß, alle drei Stücke in einem Heidelberger Museum. Heute haben die meisten Menschen keine Locke Goethes, keine Taschenuhr von Mendelssohn oder einen bedeutenden, wenn auch etwas revolutionsfeindlichen General zu Hause. An die Stelle der Objekte sind Filme getreten. Digitale Rekonstruktionen kommen in Mode. Aber eine digitale Rekonstruktion der Wohnung von Erika Dinkler-von Schubert (so hieß die Frau, von der ich gerade schreibe) ersetzt nicht das Gefühl, etwas selbst in die Hand nehmen zu dürfen.

Beeindruckendes Armreliquiar

Ich weiß noch, wie verwundert meine katholischen Kolleginnen und Kollegen reagierten, als ich vor vielen Jahren den Pfarrer der einstigen Klosterkirche von Benediktbeuern bat, mir das Reliquiar des Heiligen Benedikt von Nursia zu zeigen, das den Ruhm des Klosters begründet hat. In einem kostbar geschmückten silbernen Armreliquiar befindet sich, durch ein Glasfenster recht gut sichtbar, eine Speiche eines rechten Unterarms. Der Tradition nach hat Karl der Große kurz vor 800 diese Reliquie dem bayerischen Kloster geschenkt, weswegen es neben Monte Casino und St. Benoit sur Loire zum wichtigsten Wallfahrtsort Benedikts, des Patrons Europas, wurde. Aber nicht nur meine kirchenhistorischen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich vor Ort bei einer Tagung war, reagierten verwundert: Ich erinnere mich gut, wie der über das Ansinnen des evangelischen Professors auch eher verwunderte katholische Ortspfarrer zögerlich den Holzschrank öffnete und das Stück etwas verlegen hervorholte. 

Natürlich verehre ich als evangelischer Christenmensch keine Reliquien und erwarte von den materiellen Überresten kanonisierter Heiliger auch keine übernatürlichen Wunder, aber mich beeindrucken solche Überreste von Personen, über die ich sonst nur in Büchern lese, und machen sie mir ein Stück weit besser vorstellbar. Und trotz aller theologischen Fragezeichen verstehe ich, dass Menschen etwas empfinden, wenn der Segen im Gottesdienst mit einem Armreliquiar Benedikts ausgeteilt wird und das für berührender halten, als wenn ich allein meine eigenen Hände zum Segen erhebe. Ich durfte übrigens auch das Armreliquiar Benedikts in die Hände nehmen und werde diesen Moment so wenig vergessen wie gestern den Augenblick, als ich Mendelssohns Taschenuhr halten durfte. Geschichte verstehen hat eben immer mit begreifen zu tun.

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Beiträge zu „Kultur“