Was ist Wahrheit?

Wie ich entdeckte, was „Sprachmist“ bedeutet
Foto: privat

Wer den Text bloß einmal gehört hat, kann ihn kaum vergessen. Ich spreche von einer Urszene des Neuen Testaments: dem Zusammenprall zwischen der Weltmacht Rom und dem Wanderprediger Jesus. Es sind Wahrheitssekunden.

Pontius Pilatus will seinen schwer fassbaren Delinquenten überführen: „Bist du der König der Juden?“ Aber die verdächtige Existenz, die da vor ihm steht, macht es dem Präfekten nicht gerade einfach. Der Gefangene erklärt nämlich: Er sei gar kein weltlicher König. Aber Pilatus verspürt überhaupt keine Lust, sich in seiner ureigenen Umgebung, dem Prätorium, vorführen zu lassen; er will das letzte Wort behalten. Darum setzt er nach: „So bist du dennoch ein König?“ Darauf reagiert Jesus im Johannesevangelium mit einer klaren Aussage: „Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“.

Für den Vertreter der damaligen Supermacht ist das ein ganz und gar ungeheuerlicher Anspruch – ein Mensch, der für die Wahrheit Zeugnis ablegt, einer, dessen Stimme wahrhaftig sein soll – deckungsgleich mit seiner ureigensten Existenz? Damit kann der ausgebuffte Politiker, der zwischen Machtgehabe und Ratlosigkeit schwankt, gar nichts anfangen. Aber seitdem schallt durch die Jahrhunderte der Satz aus Johannes 18,38: „Was ist Wahrheit?“ Und längst ist die Frage des römischen Statthalters zu einem geflügelten Wort geworden.

Vor etwa zwei Jahrzehnten bekam ich ein Büchlein des Philosophen Harry G. Frankfurt zum Geburtstag geschenkt. Das kleine Ding wurde von mir zuerst kaum beachtet. Dann verschwand es in einem großen Schrank. Vielleicht passierte das nicht ganz zufällig. Was auf dem Einband stand, behagte mir nicht sonderlich: ein Titel zum Fremdschämen oder Wegschauen. Dabei steht auf dem Cover nur ein einziges Wort. Das aber hat es in sich. Es ist der englische Kraftausdruck: BULLSHIT.

Ein Wörterbuch übersetzt das kurz und unappetitlich mit „Kuhscheiße“. Im übertragenen Sinn geht es um „Sprachmist“ oder gebildeter ausgedrückt: um verbalen Schwachsinn oder nichts als heiße Luft. Bullshit werde immer dann produziert, erklärt der amerikanische Sprachphilosoph, wenn einer am liebsten verschleiern möchte, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Nach Harry G. Frankfurt redet ein „Bullshitter“ einfach so völlig gleichgültig drauflos, ohne sich überhaupt um die Pilatus-Frage zu kümmern. „Lügen und Bluffen sind zwei Formen der verfälschenden Täuschung. 

Das für das Wesen der Lüge wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist aber die Wahrheitswidrigkeit: Der Lügner ist seinem Wesen nach jemand, der bewusst etwas Falsches oder Unwahres behauptet. Auch für den Bluff ist es typisch, dass ein falscher Eindruck erzeugt wird. Doch anders als bei der schlichten Lüge geht es hier weniger um Falschheit als um Fälschung. Daher die größere Nähe des Bluffs zum Bullshit. Denn das Wesen des Bullshits liegt nicht darin, daß er falsch ist, sondern daß er gefälscht ist.“ Wer sich auf diese Weise mit „Sprachmist“ durchzumogeln versuche, so Frankfurt, „ist deutlich freier. Sein Blickfeld gleicht eher einem Panorama als einem Brennpunkt. Er beschränkt sich nicht darauf, an einer bestimmten Stelle eine Unwahrheit einzuführen … Er ist darauf vorbereitet, bei Bedarf auch den Kontext zu fälschen.“

Obwohl der analytische Philosoph sich bewusst auf eine nichtreligiöse, pragmatisch-nützliche Perspektive beschränkt, setzt er sich am Ende mit Augustinus und seiner Abhandlung Über die Lüge auseinander. Darin unterscheidet der spätantike Denker acht Arten der Lüge. Aber bloß die allerletzte Form, in der es um eine Lust und ein Vergnügen am Lügen geht, das zum menschlichen Habitus geworden ist, erscheint dem Theologen als „Lüge in Reinkultur“. „Jeder Mensch lügt gelegentlich“, kommentiert Harry G. Frankfurt, „aber es gibt nur wenige Menschen, die oft (oder gar immer) aus Lust an der Unwahrheit und der Täuschung lügen.“

Spannend, dass der Autor zunächst darauf beharrte, dass nicht die Lüge der eigentliche Feind der Wahrheit sei, sondern Bullshit. Erst in seinem späteren Essay Über die Wahrheit scheint Frankfurt sich der Position des Kirchenlehrers zu näh­ern, wenn er über die Produzenten von „Sprachmist“ – aktuell fallen mir zum Beispiel Donald Trump, J. D. Vance und Elon Musk ein – urteilt: „Vielmehr sind sie, und das ist das Wesentlichste, Schwindler und Blender, die den Versuch unternehmen, mit dem, was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Gesprächspartner zu manipulieren. In erster Linie interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation herbeizuführen.“

Wahrheit lässt sich also niemals bloß von ihrer Nützlichkeit her bestimmen. Sie hat, wie das Johannesevangelium zeigt, eine existenzielle, auf Leben und Tod gehende Dimension – es geht um Wahrhaftigkeit in Person. 

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