Symbol des Etwasismus?

Ein theologischer Blick auf das Logo des neuen Gesangbuchs der EKD
Gesangbuch
Foto: EKD

Auf dem Kirchentag in Hannover wurden jüngst Layout und Logo des neuen Evangelischen Gesangbuchs vorgestellt, das in diesem Jahr in einigen Modellregionen in seine Erprobungsphase tritt und in drei Jahren das traditionelle „EG“ vom Beginn der 1990-er Jahre ablösen soll (vergleiche zz 2/2024). Der Nürnberger Theologe Ralf Frisch lässt sich von den neuen Formen zu einer (nicht?) ganz ernstgemeinten gedanklich-theologischen Reise anregen …

Es ist ein Kreuz. Oder besser gesagt: es ist kein Kreuz mehr, das jüngst auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover präsentierte Logo des neuen, ab 2028 erscheinenden Gesangbuchs der EKD. Vielmehr ist es so etwas Ähnliches wie ein Kreis. Ein Kreis aus verschiedenfarbigen, voneinander durch kleine Abstände abgesetzten Segmenten. Ein bunter Kreis. So bunt wie die Kirche, der die Zukunft gehören soll.

Den Apple-User alter Schule erinnert das neue Logo an das bewegliche Scrollrad des ersten iPod, das später Touch Wheel hieß und ein avantgardistisches Naviga­tionstool war, von dessen weltbewegender Genialität das Gesangbuch der Zukunft offen­kundig zehren möchte, um wenigstens einen kirchenbewegenden Eindruck zu ma­chen. Die Gesangbuch­präsen­tation für den Kirchentag beschwört mit dem logountermalten Slogan „Zeit für eine neue Playlist“ Steve Jobs legendäre Keynotes jedenfalls geradezu herauf – zweifellos in der Hoffnung, dass das, was in Form und Funktion stets revolutionär war, auf die evangelische Kirche abfärbt, deren Gegenwart eher an den traurigen Moment des Technologiedisrup­tions­verlierers Nokia als an die reformatorischen Revolutionen der Kirchengeschichte erinnert. 

Den avancierten Autofahrer erinnert das Logo allerdings auch an Designideen, die weniger bahnbrechend, sondern vielmehr überambitioniert in Erscheinung treten – genauer gesagt an die je nach Ambientewunsch andersfarbig illuminierbaren Drehknöpfe in den Cockpits, die frei nach einem beliebten schwedischen Möbelhaus signalisieren: „Entdecke die Möglichkeiten!“ Wer – before or after Elon went crazy – schon einmal in einem solchen Auto saß, hat womöglich auch schon erfahren dürfen, wie es angesichts unzähliger verwirrungsstiftender Bedienelemente ist, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und beim Studium der erwähnten Möglichkeiten Gefahr zu laufen, abseits der Straße in just jenem Wald zu landen. Zu viele Möglichkeiten drohen vom Eigentlichen und am Ende auch vom Verkehr abzulenken. Nicht jede Innovation, der die Zukunft gehören soll, hat augenscheinlich das Zeug, den Weg in die Zukunft zu weisen. 

Angegessene Pizza    

Aber verlassen wir den verminten automobilen Assoziationsraum besser. Autofahren und die EKD, das ist ja bekanntlich eine heiße Kiste. Reden wir lieber über das Essen. Man könnte als Freund der italienischen Küche angesichts des neuen Gesangbuchcovers beispielsweise auch auf die Idee kommen, in den sechs Kreissegmenten des Gesangbuchlogos eine angegessene Pizza zu entdecken und an jene Speisekarten zu denken, aus denen man (wie aus dem Gesangbuch) nach Nummern bestellt, weil es dort um die tausend Gerichte gibt, die am Ende keine Kellnerin, kein Koch und wahrscheinlich auch kein Gast mehr voneinander unterscheiden kann. Daher also prakti­scherweise „361“ statt „Schinken, Salami, Thunfisch, Peperoni, Sardellen, Kapern und Champignons“.

Das mit der Pizza könnte durchaus Appetit machen – während des Got­tes­­dienstes vermutlich aber auch auf Anderes als auf die sechs Themenrubriken, die den sechs Farben zugeordnet sind und sechs Aspekte von Zeit symbolisieren sollen, genauer – und natürlich im modischen Plastiksprachendesign der Großbuchstabenakzentuierung gesagt: TagesZeit (Momente im Tageslauf), JahresZeit (Kir­chenjahr und Jahreskreis), FeierZeit (Gottesdienst feiern), AlleZeit (Psalmen singen und be­ten), LebensZeit (wachsen, reifen, weitergehen) und WeltZeit (glauben, lieben, hoffen). Was die Junk-Food-Assoziation anbelangt, so dürfte allerdings auch die keine gute Idee sein, weil aus der Perspektive des guten Christseins nur bio-achtsames Essen gutes Essen ist, Fast Food etwa auf Evangelischen Kirchentagen also ebenso wenig beliebt sein darf wie Fast Drive.                                                                                                                                                                                              

Doch Spott beiseite. Den Designerinnen und Designern des smoothen und soften neuen Logos ist etwas gelungen, was ihnen mit keiner Variation der guten alten Kreuzesform gelungen wäre. Sie haben nämlich den Eindruck entstehen lassen, hier erblicke ein interreligiöses Gesangbuch das Licht der Welt. Man könnte von einem blendenden Blend, vielleicht sogar von einer großartigen Entprovinzialisierung sprechen. Das Evangelische emigriert aus seinem hochgefährdeten Kulturraum. Und es tut das anders als das von je her skandalöse Kreuz weich, schonend und rücksichtsvoll, also ohne Anstoß zu erregen und ohne Andere all zu übergriffig in ihren religiösen oder nichtreligiösen Gefühlen zu verletzen. Mit dem neuen Logo transzendiert sich das Evan­gelische selbst, um mit dem Kosmischen zu verschmelzen, dessen unendliche Sphären und Kreis­läufe offenbar das knorrige und kantige, alle humanistischen Illusionen vor den Kopf stoßende Kreuz sanft ablösen sollen. 

Anschmiegsame Rundungen

In einer Epoche, der sich der Lauf der Dinge nicht mehr ohne Weiteres als Heilsgeschichte, allenfalls als Apokalypse erschließt, erscheint der Griff zur beruhigenderen Kreisform als konsequent, wenn er auch eine Kapitulation darstellt – und zwar die Kapitulation einer Kirche, die mit dem Kreuz keinen Blumentopf mehr zu gewinnen können meint und daher glaubt, mit anschmiegsamen Rundungen weniger zu irritieren als mit all zu sichtbarer, all zu selbstbezüglicher, all zu ewiggestriger und all zu verstörender Christozentrik.                                                                                                       

Daher also der Kreis, dessen Segmente sich gewissermaßen an den Händen fassen und so zu einer starken diversen Gemeinschaft und ganz offenbar zugleich zu einer offenen Kirche werden. Dass im Kreislogo ein Segment fehlt, legt ja nahe, dass im Kreis der Segmente auch jedes andere bunte Segment Platz hat, es sich also um eine einladende Diversität handelt, die integrativ, versöhnungsbereit und vorurteilsfrei jeden Neuankömmling und jede Neuankömmlingin in ihrer Runde begrüßt. Vorausgesetzt natür­lich, er oder sie ist der Farb­harmonie dieser bunten Kirche zuträglich und schmutzt nicht politisch. 

Dass die Kreisform irgendwie nach oben offen ist, ließe sich mit etwas gutem theologischen Willen vielleicht sogar so deuten, dass das Gesangbuch der EKD sogar offen ist für Gott. Und in der Tat wird auf der Website der EKD im Blick auf den Inhalt des neuen Gesangbuchs ausdrücklich, wenn auch orthographisch und syntaktisch etwas holprig beteuert: „Auch das Vater unser und Apostolisches Glaubensbekenntnis werden selbstverständlich nicht fehlen.“ Christinnen und Christen dürfen sich also freuen.          

„(N)ach rechts oben“

Aber wie konnte der EKD der Fauxpas unterlaufen, sich ausgerechnet einen „nach rechts oben geöffneten Kreis“ einfallen zu lassen! Man kann nur beten, dass dieses fatale politische Signal von niemandem bemerkt oder gar aufgespießt wird. Breiten wir also auch an dieser Stelle diskret den Mantel des Schweigens darüber.

Schön finde ich, dass man dem neuen Logo schon auf den ersten Blick ansieht, dass es im Deutschland der Cannabisfreigabe entstanden ist. Es hat – natürlich im Rahmen der gebotenen protestantischen Nüchternheit – durchaus etwas Psychedelisches. Man muss sich zwar lange anstrengen, aber irgendwann beginnen die Kreissegmente auf dem Cover tatsächlich zu flirren, und es stellt sich so etwas wie ein Gefühl transzendentalen Meditierens ein. Wer von diesem Gefühl erfasst wird, feiert geradezu ein Fest des Nichtwiedererkennens mit dem christlichen Glauben.

Gut möglich, dass es den Macherinnen und Machern des Logos genau darum gegangen ist, wenn auch vielleicht unwillkürlich. Faktisch haben sie jedenfalls eine Bildstrategie christentumstranszendierender universaler Anschlussfähigkeit verfolgt. Man meint wirklich, das Gesangbuch einer neuen, nachchristlichen Religion vor sich zu haben. So gesehen ist das Logo ein Ikonoklasmus. Eine radikale Disruption, die zwar anders als das Kreuz nicht scharfkantig daherkommt, aber gleichwohl ein Stich ins Herz des Glaubens ist. Womöglich ist dieser Stich sogar eine Art designerassistierter Suizid einer christlichen Kirche, die als christliche Kirche nur überleben zu können glaubt, wenn sie weder auf gegenwärtige noch auf künftige Hochverbundene, vor allem nicht mehr auf Wiedererkennbarkeit setzt. Mehr scheint sie sich von dem unlängst von Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufs Korn genom­menen „Etwasismus“ zu versprechen. „Etwasismus“, das ist der Glaube an irgend­etwas Höheres oder Tieferes, sprich an den Gott der Beliebigkeit und der Gleich­gül­tigkeit aller spiritueller Überzeugungen, die gut sind, sofern sie dem Selbst und zugleich der selbstlosen Humanität guttun. Das Logo des neuen Gesangbuchs eignet sich wunderbar als Symbol dieses Etwasistentums, das sein Heil in der Unbestimmtheit sucht und dessen Glaube dogmatisch gesehen folglich derart unscharf ist, dass er allenfalls diejenigen Grenzen kennt, die die Sozial- und Politromantik der Zwischenmenschlichkeit ihm setzen könnte.            

Prophetische Assoziation

Um an dieser Stelle noch einmal ein Gleichnis aus dem Automobildesign zu bemühen: das Bildprogramm des neuen Logos erinnert an jene Automobilhersteller, deren außer Form geratene Autos man auch beim zweiten Blick keiner Marke mehr zuordnen kann und deren proportionsvergessene, für niemanden wirklich attraktive Ästhetik den Sackgassen der Evolution, etwa Dinosauriern kurz vor dem Aussterben ähnelt. Die Sonne wird es an den Tag bringen, ob diese Assoziation prophetisch ist, ob also eine an ihren eigenen Symboltraditionen zunehmend desinteressiertere Kirche mit diesem Logo vorauseilend ihr Schicksal besiegelt.

Apropos Sonne. Vielleicht kehrt im neuen Logo ja nicht nur buddhistischer Gleichmut, sondern der alte Sonnengott zurück ins nachchristliche evangelische Christentum. Müsste ich dem bunten Kreiskunstwerk einen Titel geben, würde sich „Die Solarisierung Gottes“, „Re is back“ oder „Here comes the sun!“ anbieten. Ich weiß zwar nicht, ob dieses Lied der Beatles zwischen den Buchdeckeln des neuen Gesangbuchs zu finden sein wird. Aber im Unterschied zum Logo hätte das Lied den Charme, dass man seinen Text produktiv christlich missverstehen könnte: „Here comes the son.“ Das wäre „all right“. Dass sich aber im heidnischen Sol invictus das wahre ikonische und theologische Gesicht des Christentums zeigt, ist nicht nur „not all right“, sondern eine Bankrotterklärung. Es ist die Bankrotterklärung einer evangelischen Kirche, die allem Möglichen mehr Überzeugungskraft zutraut als ihrer christlichen Botschaft, der – mit Jan Loffelds vielzitiertem Buchtitel zu reden – nichts fehlt, wenn Gott fehlt und die sich im Kreis der zyklischen Rhythmen des Naturlaufs sichtlich wohler fühlt als unter dem Kreuz und am leeren Grab Jesu Christi.

Man sage jetzt bitte nicht, so sei das frische neue Logo weiß Gott nicht gemeint und es handle sich um eine typisch Frischsche schwarzweißmalende und verzerrende Fehlinterpretation eines unverstaubten und lebensbejahenden Anliegens! Images speak louder than words. Sonst bräuchte es ja kein Logo.

Man könnte das Ganze nämlich tatsächlich auch ganz anders sehen. Nämlich so, dass nicht der Kreis, sondern die leere Mitte dieses Kreises die Pointe ist. Also das, was die Designerinnen und Designer des Logos womöglich nicht sagen wollten, aber wie alle großen Künstlerinnen und Künstler nun natürlich im Nachhinein als die eigentliche Botschaft ihres Werks für sich reklamieren können. Wenn die leere Mitte und die offene Durchbrochenheit des Logos des Pudels Kern wären, wenn also seine entscheidende Aussage im Nichtgesagten und Undarstellbaren läge, dann würde sich das neue Symbol der EKD in guter alter mystischer und negativ-theologischer Tradition bewegen. Es befände sich entgegen dem Augenschein meines schroffen Ersturteils überraschenderweise in der besten Gesellschaft eines christlichen Glaubens und einer christlichen Spiritualität, die wie der berühmte Zeigefinger im Kreuzigungsretabel von Mathias Grünewalds Isenheimer Altar über sich selbst auf einen ganz Anderen hinausweisen. Auf den kommenden Gott, mit dem selbst in den innersten Kreisen der Kirche zunehmend weniger zu rechnen scheinen. Auf den auferstandenen Christus, der mitten unter die Seinen tritt und ihnen die Angst vor der Irrelevanz und der Bedeutungslosigkeit nimmt. Auf die Freiheit des Geistes, der den Muff unter den Talaren und aus den all zu sehr mit sich selbst beschäftigten Gremien der Kirche beseitigt und unvermutet sogar die Ungeister einer auf die schiefe Bahn geratenen Welt austreibt.

Vielleicht deuten die Lücken und Offenheiten des Logos gar auf so etwas wie die Möglichkeit von Mission, also auf die Selbstüberschreitung der Kirche auf diejenigen hin, die es zu bunt oder zu eigenwillig treiben, als dass die Kirche trotz aller Diversitätsbekenntnisse etwas mit ihnen zu tun haben und sich auf Kontroversen mit ihnen einlassen wollte.

Unerwarteter Trost

Könnte es sein, dass das neue Logo in Gestalt der ungestalteten Mitte und in Gestalt des fehlenden Kreissegments nicht nur denjenigen, die anders anders sind, sondern gerade derjenigen letzten Wirklichkeit einen Platz freihält, die gottessensiblere Gemüter im Raum der öffentlichen Theologie der EKD so oft schmerzlich vermissen? Könnte es sein, dass gerade das, was im Logo des neuen Gesangbuches zu fehlen scheint, gerade dadurch, dass es fehlt, auf den hinweist, der in unserer Kirche und unserer Welt fehlt? Könnte es sein, dass das oder der Vergessene gerade dort am stärksten ins Auge sticht, wo am wenigsten von ihm zu sehen ist oder von ihm erwartet wird? Könnte das wirklich sein?

Wenn es so wäre, dann wäre das ein unerwarteter Trost. Und dann wäre ich am Ende, also auf den letzten Blick, unversehens mit dem Logo des neuen Gesangbuchs und mit meiner Kirche versöhnt. 

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Foto: Johannes Minkus

Ralf Frisch

Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.

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