Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Bügeln, Friedhofsleerer und betreutes Denken – Reaktionen auf meine Kritiker
Enthüllung des Bonhoeffer-Denkmals iN Weimar, 9.4. 2025.
Foto: picture alliance
Enthüllung eines Denkmals des Bildhauers Walter Sachs für Dietrich Bonhoeffer zum 80. Jahrestag seiner Ermordung am 9. April 1945 in Weimar.

In der vergangenen Wochen wurde in drei Texten zum Teil heftige Kritik an einem Beitrag von Günter Thomas im aktuellen Bonhoeffer-Schwerpunkt in der Aprilausgabe von zeitzeichen geübt. Nun geht der Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum auf den Widerspruch gegen seine Deutung des „Spätwerks“ von Dietrich Bonhoeffers ein.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Dietrich Bonhoeffer erachte ich für einen der kreativsten und hellsichtigsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er hat in schwerlich überbietbarer Weise eine theologische Existenz, eine aktive politische Zeitgenossenschaft und ein Engagement für die Kirche verwoben. Von Bonhoeffer habe ich viel gelernt und tue es immer noch. Er ist einer meiner Referenztheologen.

Just aufgrund seiner Qualitäten hat sich Bonhoeffer wie kein anderer Theologe innerhalb kürzester Zeit entwickelt – bei einem hohen Grad an kommunizierter Gewissheit und rhetorischer Prägnanz in der jeweiligen Entwicklungsphase. Aber auch dieser Theologe ist nicht frei von der unausweichlichen Gleichzeitigkeit von Blindheit und Weitsicht. Seine Theologie gleicht nicht umsonst einem kubistischen Gemälde. Anders formuliert, seine Theologie ist zerknittert, bietet Kanten, Bruchlinien, größere und kleinere Flächen, dunklere und hellere Zonen, Schattierungen und Lücken. 

Nun bat mich zeitzeichen um einen kurzen, 13000 Zeichen nicht überschreitenden Beitrag zum Themenfeld „religionsloses Christentum“. Die Frage nach dem Verständnis und der Bedeutung dieses Motivclusters wollte ich nicht einfach ‚archäologisch‘ beantworten, sondern in Gestalt der Folgen dieser Idee.

Daher frage ich: Wo stehen wir, wenn wir auf dieses Cluster von Motiven blicken und wo stehen wir kirchlich, theologisch, spirituell? Landauf und landab wird die kirchliche Arbeit durch massive Sparrunden gestresst, ohne dass dies durch Rhetoriken des Aufbruchs wirklich abgemildert werden kann und irgendwo eine Bodenbildung in Sicht ist. Selbstverständlich möchte ich nicht die gelungene und wirkungsreiche kirchliche Arbeit in Verkündigung, in sozialen, politischen und prägnant diakonischen Feldern kleinreden. Darum geht es nicht. Aber es ist doch unübersehbar, dass die Landschaften religiös bedürfnisfreier Gottesvergessenheit wachsen. Unstrittig ist doch, dass wir, abgesehen von der musikalischen Arbeit, das Ende eines breitenwirksamen und zugleich noch kirchlich eingefassten Kulturprotestantismus erleben. Unbestreitbar ist doch das dramatische Schrumpfen des Sozialprotestantismus der Jahrzehnte nach 1964. Keine moralische Selbstradikalisierung und keine Selbststilisierung als NGO vermögen dies zu ändern. Wer das bezweifelt, sollte sich exemplarisch die Entwicklung der Altersstruktur und der verkauften Tickets des Kirchentags anschauen. Der holländische katholische Theologe Jan Loffeld hat hierzu unlängst überaus pointiert das Notwendige gesagt

Barock anmutende Metaphysiken

Die Lage ist so dramatisch, dass der für die Flughöhe seines Beobachtungsballons berühmte Großmeister der bundesrepublikanischen Religionslandschaftsdeutung, Friedrich Wilhelm Graf (in der FAZ an Ostern), auf konservativ-restaurativen Katholizismus, sogenanntes musikalisches Christentum und evangelikale und freikirchliche Milieus verweist, um Jan Loffelds Diagnose etwas entgegenzusetzen. Wie groß muss die Verzweiflung im liberalen Beobachtungsballon sein, dass zur Auffindung von irgendwie kirchengezogenem Glauben auf religiöse Gruppen verwiesen wird, die die Wende zu einer nachkantianisch-ethischen Religion verweigern und mit geradezu barock anmutenden Metaphysiken unterwegs sind, kurz: die das tun, was ein Münchner liberaler Geist für theologisch unappetitlich erachten muss?

In dieser großkulturell komplexen, aber in ihrem Richtungssinn eindeutigen Entwicklung haben Pfarrerinnen und Pfarrer, verantwortliche Laien, theologische Fakultäten und die Kirchenleitungen vier Optionen: 

1. Sie können Durchhalteparolen kombinieren mit einem ‚So tun, als sei nichts geschehen‘. 

2. Sie können sich schulterzuckend verantwortungsbefreit mit einem operativen Fatalismus höherer Ordnung als Opfer gesellschaftlicher und kultureller Großtrends begreifen, sozusagen als unschuldig-ohnmächtiges Treibholz auf dem stürmischen Meer der Zeit. 

3. Sie können faktisch oder gezielt zugunsten erhoffter Resonanz ihr Leitthema auszuwechseln suchen. 

4. Sie können aber auch – ohne sich selbst zu überschätzen – beginnen, selbstkritisch danach zu fragen, was zumindest ihr kleiner eigener Anteil an der gegenwärtigen Situation sein könnte. 

Nach meiner Beobachtung dominiert in den Fakultäten und in den Kirchen die Auffassung, dass man eigentlich alles richtig mache und in der Krise nach dem von Bonhoeffer vorgeschlagenen Themenwechsel das Gleiche nur intensiver tun müsse – von ökosozialer Gerechtigkeitssuche bis kritisch-philologischer Wissenschaft –, hier und da angereichert um kurze Ausflüge in die Option 2. Um in meinem Bereich zu bleiben: Dass an einer Evangelisch-theologischen Fakultät aktuell von sechs Bewerbungsvorträgen in interkultureller Theologie kein einziger auch nur in homöopathischer Dosierung auf Kirchen als Akteure im religiösen Feld oder gar auf Herausforderungen für die Rede von Gott eingeht, stört so gut wie niemanden: Option 1. kombiniert mit 3., mit 2. als Notfallreserveoption. 

Von ehrlichem Umgang weit entfernt

Die in Kirchen und Fakultäten um sich greifende Mischung aus offener Verleugnung, untergründiger Verzweiflung und operativer Gleichgültigkeit wird nur zu überwinden sein, wenn die Frage nach eigenen Fehlorientierungen zugelassen wird. Nur so können, psychodynamisch formuliert, Wege aus der Passivität in die Handlung gefunden werden. Niemand wird behaupten, dass die Wege aus der Vergangenheit in unsere Gegenwarten nur mit Fehlern gepflastert waren. Niemand hat für die Zukunft den einen goldenen Schlüssel in der Hand. Selbstverständlich. Die Debattenlage in zeitzeichen lassen meines Erachtens allerdings ahnen, wie weit wir von einem ehrlichen, reifen und dann produktiven Umgang mit den Gegenwartskrisen noch entfernt sind.

In dieser Situation geht es mir darum zu fragen, ob in der berühmten Bonhoefferschen Formel vom religionslosen Christentum und in seiner mächtigen protestantisch-kirchlichen Rezeptionsgeschichte nicht nur eine Lösung, sondern auch ein Problem stecken könnte. Und das ist in der Tat meine These: Bonhoeffers programmatischer Lösungsvorschlag eines religionslosen Christentums hat das Problem, das es zu lösen beanspruchte, faktisch vertieft. Er wurde weithin zur selbsterfüllenden Prophezeiung. 

Der Versuch einer Analyse des Ensembles „religionsloses Christentum“ stößt unweigerlich auf die Frage nach der angemessenen Bonhoefferinterpretation. Dass mit Bonhoeffer-Elementen und einigen fragwürdigen Ergänzungen ein Baukasten-Bonhoeffer geschaffen werden kann, ist nicht erst seit Eric Metaxas Interpretationen auf der extremen Rechten ein Problem. Der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit Hanfried Müller hat vor vielen Jahren von links den Weg gebahnt. In den vergangenen Jahrzehnten dominierte allerdings ein ‚gebügelter‘ Bonhoeffer, bei dem tendenziell nahezu alle Knitterfalten zugunsten einer weitestgehend flachen synchronen Bonhoeffer-Theologie weggebügelt werden. Wenn Florian Höhne meine kritische Interpretation eines Textes aus dem Jahr 1944 mit dem Verweis auf einen Bonhoeffertext von 1934 zu entkräften sucht, dann lädt er dazu ein, beim Bügeln zuzuschauen. Was die Texte der Ethik und die Gefängnisbriefe Bonhoeffers angeht, so stößt meines Erachtens das Bügeln an deutliche Grenzen. Ralf Frisch hat hier wegeweisende Beobachtungen gemacht

Ensemble von Vorstellungen

Statt verzweifelt immer heißer und mit immer mehr Dampf zu bügeln oder alternativ dazu, schlicht Inkohärenz und Widersprüche zu diagnostizieren, halte ich eine dritte Zugangsweise für fruchtbar und sinnvoll. Bei Dietrich Bonhoeffer müssen wir, so meine Interpretationsthese, von einem Denken in mehreren, zum Teil gleichzeitigen und nicht immer ineinander überführbaren Modellräumen ausgehen. So gibt es auch in den Briefen aus dem Gefängnis so etwas wie eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Genau dies ist mein Vorschlag, wenn ich von einem Ensemble von Vorstellungen um religionsloses Christentum in seiner Spättheologie spreche. Soweit die Erläuterung dessen, was ‚hinter‘ meinem Beitrag steht.

Nun zu einzelnen Aspekten in den Kritiken.

Der facettenreiche Religionsbegriff Bonhoeffers konnte bei dieser Kürze nicht Thema sein – und das ist bedauerlich. Die Rezeptionen (A-theistisch an Gott glauben, Gott ist tot-Theologie, Stadt ohne Gott et cetera, et cetera) sind eindeutiger und weniger erläuterungsbedürftig.

Wie die Rezeption des Motivs des religionslosen Christentums in der ehemaligen DDR verlaufen ist, bedarf eingehender Forschung – von der ich mir manchen produktiven Impuls für die Kirche der Zukunft erhoffe. Evident scheint mir aber, dass die Kirchen der DDR nicht einen Weg der Selbstsäkularisierung beschritten.

Immer wieder – massiv in der Antwort von Florian Höhne, aber auch in der wohltuend nachdenklichen Replik von Albrecht Grözinger – wird mir vorgehalten, die Unterstellung eines operativen Atheismus oder einer Gottesvergessenheit innerhalb der Kirche sei maßlos übertrieben. So lange allerdings die gewählte Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, verkündet, „Habt keine Angst vor dem Leben“ sei die Übersetzung der Osterbotschaft und wir feierten an Ostern „den Sieg des Lebens über den Tod“, so lange glaube ich an meiner These festhalten zu dürfen. Für diese von spezifisch Christlichem befreite Osterbotschaft reicht nämlich die nordische Edda, ein entspannt-verklärter Blick auf einen blühenden Fliederstrauch oder performativ schlicht die richtige Mischung aus Sex, Drugs and Rock’n Roll. Und niemand widerspricht. Im Gegenteil: Diese Botschaft war an Ostern von mehr als einer Kanzel zu hören. Ich musste sie am Ostersonntag selbst ertragen. Über jede Ausnahme freue ich mich, selbstverständlich. 

In Pathos gekleidet

Als „mündige Menschen aus gottvertrauender Freiheit […] das Leben gemeinsam feiern, das Schwere gemeinsam tragen und an relativen, diesseitigen Verbesserungen gemeinsam arbeiten“ (Florian Höhne in seiner Kritik auf zeitzeichen.net) – das leben mit oder ohne die vage Hintergrundsimagination eines göttlichen Grundes immer mehr Menschen – metaphorisch gesprochen, mit der Kombination aus Brigitte-Abo, Helene Fischer-Konzert und SPD-Parteibuch. Das alles zu tun ist gut und wichtig, ist aber trotz aller Überschneidungen schwerlich das sachliche Gravitationsfeld der Kirche. Es ist ein mehr oder weniger kaschierter theologischer Atheismus, der in ein – nicht zu verachtendes – humanistisches Ethos und Pathos gekleidet ist. Christen feiern nicht das Leben, sondern Gott, den Geber und den Kritiker des Lebens, den Beobachter des gewaltdurchsetzen Lebens, den viel zu oft viel zu passiven Begleiter, den Leben Versprechenden und Erneuernden, den Tröster der im und unter dem Leben Leidenden. Sie feiern den Friedhofsleerer, den Kommenden, der letztendlich all diejenigen aufrichten wird, für die das Leben ein übler Verräter war und die sich von ihrer Mündigkeit nichts kaufen konnten. Feiern sie den, der auch die Verlorenen der Vergangenheit erlöst, so ist das ganz ohne Metaphysik nicht zu denken. Aber ja, sie feiern den, der aller Gewalt im Leben am Ende gewaltig den Garaus machen wird. Könnte es nicht etwas weniger sein? Nein! Ohne den Friedhofsleerer würde alles einer kleinbürgerlichen Feier in der Sackgasse gleichen (1. Korinther 15,32). 

In diesem nächsten Aspekt meiner Erwiderung hoffe ich insgeheim, dass ich Florian Höhnes Kritik missverstanden habe. Habe ich ihn richtig verstanden, verdienen seine Überlegungen scharfen Widerspruch. 

Wir teilen meines Erachtens die Auffassung, dass demokratische Gesellschaften starke Institutionen brauchen. Sie sorgen für die Lebensqualität der Menschen und, richtig justiert, für das unerlässliche Maß an Humanität in der Gesellschaft. Darum müssen sie verteidigt und tatsächlich kritisch justiert werden. Diese Auffassung ist Kern meiner sozialethischen und sozialphilosophischen Orientierungsbemühungen. So weit, so gut. Wer meine Arbeit kennt, weiß das. Aber nun beginnt es abenteuerlich zu werden. Im Weiteren zeigt sich, dass meine Sorge gegenüber einer Sakralisierung der Politik berechtigt ist.

Höhne kritisiert meine Aufforderung zur Desakralisierung der Politik mit einer aufschlussreichen Assoziation beziehungsweise Gleichung: Deskralisierung der Politik = Infragestellung von Institutionen = Deinstitutionalisierung = Einfluss des Rechtsextremismus = „Hohngelächter aus der rechten Ecke, nein, mittlerweile fast: von der rechten Seite des Parlaments“. Dagegen plädiert er dafür, dass die Institutionen in ihrer „Selbstverständlichkeit“ des Vollzugs nicht als „Diskursgegenstand“ in Frage gestellt werden dürfen – weil dies zu gefährlichen „Kollateralschäden“ führe. Die Offenheit der Deskralisierung ist darum „ethisch problematisch“, denn: Die Institutionen „ähneln dem Heiligen“. Wow! Ist dies die aktuellste Öffentliche Theologie? Ich dachte immer, die Institutionen des liberalen demokratischen Rechtsstaats bewährten sich im Vollzug ihrer Aufgabe, und da durch ihre Leistung für die Bürger und vor den Bürgern. Solchermaßen funktional begründet die Barmer Theologische Erklärung von 1934 die Aufgaben des Staates, jenseits einer Quasiheiligsprechung von Ordnungen.

Alte, unheilvolle Tradition

Was aber hier bei Florian Höhne zustimmend aufgerufen wird, ist eine alte und unheilvolle Tradition innerhalb eines urdeutschen Protestantismus. Kein Brite würde theologisch so argumentieren. Es ist eine im Gewand der Fürsorge raffiniert verkleidete Demokratiefeindlichkeit. Dieses tief wurzelnde, ganz und gar anti-emanzipative Plädoyer für ein betreutes Denken durch Besserwissende und die Heiligsprechung der Ordnungen findet sich nicht nur bei rechten Demokratiefeinden. Für lange Zeit war dieser emanzipationsferne Betreuungsimpuls eine Neigung der Konservativen. Tatsächlich war er aber schon immer auch die größte Versuchung der Linken und reicht dort weit zurück. Während Leo Trotzki die Arbeiter insgesamt als Akteure der Revolution ansah, war es für Lenin die Partei, die das wohlverstandene Eigeninteresse der Arbeiter formuliert und als nicht zu hinterfragende heilige Institution die Arbeiter rundum betreut. Nun scheint Florian Höhne dieser Versuchung erlegen zu sein. Schade auch. 

Dagegen möchte ich festhalten: Der Witz ist weltweit ein sensibler Freiheitsindikator! Die freie und zuweilen unbequeme Kritik von Institutionen ist Anzeige einer liberalen und lebendigen Demokratie! In der Leistung der Institutionen steckt die Bewährung und in der Kritik deren Verbesserung. Wer sorgenvoll die Kritik der Institutionen moralisch ächten und verbieten will, hat sich in Wahrheit den rechtsextremen Feinden der liberalen Demokratie schon anverwandelt. Wer meint, so denken zu müssen, flirtet mit einer illiberalen Post-Demokratie – nur eben von links. Es ist, bildlich gesprochen, als wolle man aus Furcht vor den Rechten sein Heil in der DDR suchen. Doch welcher post-demokratische politische Sittenwächter vermag das diabolische Hohngelächter vom befreienden Witz, der nach Peter L. Berger Zeichen guter Transzendenz ist, tatsächlich immer treffsicher zu unterscheiden? Nur ein Teufel oder ein Gott könnte es. 

Was mich selbst betrifft, wundere ich mich aber immer wieder über die Strategie, mir mehr oder weniger subtil irgendwie eine demokratiefeindliche Kappe aufzusetzen. Florian Höhne insinuiert, aber auch der Beitrag von Gottfried Brezger auf zeitzeichen.net ächtet subkutan jeden, der nicht in wirklich gleicher Weise seine Sorgen teilt und speziell seinem Antitotalitarismus zustimmt. Die Framing-Strategie ist: „Der leitet Wasser auf die falschen Mühlen, also gehört er dorthin.“ Ich frage mich immer wieder: Meinen die das im Ernst? Wird so etwas im moralisch-emotionalen Furor, nach drei Glas Wein oder im Modus Nietzscheanischer Nachtgedanken geschrieben? Ist dies, um in der Sprache des bayerischen Ministerpräsidenten zu sprechen, die letzte Patrone zur Rettung der eigenen theo-politischen Positionierung? Mir fällt zu diesem warnend streuenden Raunen, das Verdachtsmomente erfindet, nichts mehr ein. Allerdings rieche ich das intellektuelle Odeur des Totalitären, die Zumutung, die richtige Haltung zu zeigen, einen Hass auf das freie Kabarett. Ich hoffe inständig, ich irre mich. 

Schuldenberg ohne Sondervermögen

Am Ende sollen eine Beobachtung und ein Wunsch stehen. Mich verwundert die immer wieder besonders bei Vertreterinnen und Vertretern des linken und sozialen Protestantismus zu beobachtende Selbstgefälligkeit und moralische Selbstveredelung – etwas, das die meisten theologisch Konservativen in der EKD in den letzten Jahren eher verloren haben (nota bene: Auch der missionarische Élan vital hat die Seiten gewechselt): „Wir mögen vielleicht in einer Krise stecken, aber Schuld sind die anderen, denn wir machen und machten alles richtig. Wir stehen theologisch und politisch sicher auf der richtigen Seite der Geschichte“. Kurz: „Bitte nicht stören.“ So das Muster. Die Kritiken von Florian Höhne und Gottfried Brezger passen meines Erachtens gut da hinein. 

Ich gestehe, ich verfüge nicht über ein so sonniges theologisches Gemüt. Mir ist dieser milde Blick auf die kirchliche Gegenwart einfach nicht gegeben. Für ungestörte Lebensvertrauensfeiern in der Sackgasse fehlt mir der unerlässliche Hang zur Gemütlichkeit. Ich sehe mehr Krise und sehe tatsächlich Fehler. Die für die geforderten ‚Haltung‘ nötige moralische Einfalt haben mir Hiob, Paulus und Friedrich Nietzsche ausgeredet. Ich wundere mich daher über diese intellektuelle Behäbigkeit und Verantwortungsverweigerung, in der man sich mit dem Vorwurf von „Pauschalierungen, Polarsierungen und binären Logiken“ Nachdenklichkeit vom Leib halten möchte, so als liefe alles rund.

Speziell von denen, die die Forderung der Nachhaltigkeit und Verantwortung auf ihrem Plakat haben, wünsche ich mir mehr Verantwortung für die ökonomischen, spirituellen und personellen Ressourcen der Kirche. Es ist ganz einfach: Ohne Kirche keine Kirche für andere. Das ist zunehmend die bittere Erfahrung. Ein Beispiel: Nicht darüber nachzudenken, was es ökonomisch ‚kostet‘, mal eben die CDU/CSU hinter die Brandmauer zu werfen, hat wenig mit echter Prophetie (Prophetie war immer, dies kann man bei Dietrich Bonhoeffer lernen, einsam und persönlich so riskant wie kostspielig. Prophetische Stimmen singen nie im Opernchor allgemeiner Empörung) oder politischer Klugheit zu tun, aber viel mit einer selbstgerechten Rücksichtslosigkeit gegenüber denen, die in der Zukunft für Hilfeprojekte, Pensionsverpflichtungen und Gebäudelasten werden aufkommen müssen. In letzteren steckt ein Schuldenberg, für den es keine Sondervermögen geben wird. Und ich sehe niemanden, der den von Dietrich Bonhoeffer vorgeschlagenen Weg der Armut zur Lösung des Problems beschreiten möchte. Die viel beschworenen zukünftigen Generationen scheinen im Fall der Christenmenschen offensichtlich vielen ziemlich gleichgültig zu sein. So manches ließe sich hier anführen. Das Problem betrifft selbstredend auch die in Eigenlogiken gefangenen theologischen Fakultäten – Orte, an denen verantwortungsarm viele Erbsen gezählt und geschliffen werden. 

Und ja, ich wünsche mir mehr selbstkritische theologische Nachdenklichkeit gegenüber den Leitideen der letzten 70 Jahre. Mit dem ritualisierten Zitieren von vormals sprachlich und sachlich luziden, aber zu Poesiealbumsvignetten verkommenen Programmformeln Bonhoeffers ist für die Zukunft wenig gewonnen – auch wenn mancher Impuls von ihm noch seine Zeit vor sich hat. Zukunftswerkstätten mit ehrlich selbstkritischen Rückblicken sind erforderlich. Und die Verwegenheit, gegenläufig zu Bonhoeffers Spättheologie, beim Thema zu bleiben, eben beim „etsi Deus non daretur“.

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