Verwegene Gottesrede

Dietrich Bonhoeffer und unser Reden von Gott heute. Eine (freundliche) Replik auf den zeitzeichen-Beitrag von Günter Thomas
zeitzeichen 4-25
Foto: zeitzeichen

Im April-zeitzeichen gab es einen Schwerpunkt zu Dietrich Bonhoeffer, der vor 80 Jahren von den Nazis ermordet wurde. Der dort vom Bochumer Theologen Günter Thomas verfasste Beitrag („Aus der Sackgasse“) über die späte Theologie Bonhoeffers regte wiederum den Basler Praktischen Theologen und Professor em. Albrecht Grözinger zu einer Antwort an.

Im Umfeld des Gedenktages an den gewaltsamen Tod Dietrich Bonhoeffers am 9. April vor 80 Jahren stand vor allem der „politische Bonhoeffer“ im Vordergrund. Dies hat seine einsehbaren Gründe. Angesichts der vielfältigen politischen Verunsicherungen unserer Gegenwart, angesichts des Missbrauchs Bonhoeffers für einen populistischen Nationalismus, aber auch angesichts einer Öffentlichkeit, für die religiöse Sprache und Symbole immer mehr zu einer Fremdsprache werden, in einer solchen Situation findet ein politischer Bonhoeffer sicher mehr Interesse als ein sich in theologische Fragen vertiefender intellektueller Bonhoeffer. Die vielfältigen öffentlichen Veranstaltungen und Bekundungen auch von kirchlicher Seite machen dies deutlich. Das ist nicht zu tadeln, sondern legitimer Ausdruck unserer gegenwärtigen politischen Herausforderungen. 

Deshalb war es durchaus verdienstvoll, dass Günter Thomas in seinem Artikel im Bonhoeffer-Schwerpunkt von zeitzeichen in diesem Monat den theologischen Bonhoeffer in den Vordergrund rückte. Allerdings machte er in diesem Artikel Bonhoeffer für eine verhängnisvolle Traditionsspur haftbar, nämlich für eine Selbstsäkularisierung der evangelischen Kirche in Deutschland, die letztlich in eine lähmende Gottesfinsternis führt. Eine Gottesfinsternis, die fatalerweise gerade auch durch die Kirche befördert wird. 

Nun benennt Günter Thomas für seine Sicht durchaus Phänomene, die nicht einfach von der Hand zu weisen sind, sondern einer kritischen Reflexion sowohl würdig als auch bedürftig sind. Ich möchte hier jedoch einen anderen Akzent setzen. Ich sehe von Bonhoeffer eine Traditionsspur für unsere Gegenwart ausgehen, die gerade vor dem bewahrt, was Günter Thomas befürchtet, nämlich in eine „Gottesfinsternis“ zu führen.

Erstarrte und versteinerte Landschaft

Ich muss dazu biografisch beginnen. Dieser Bezugspunkt unterscheidet mich von Günter Thomas, der der nächsten theologischen Generation angehört. Er blickt bereits auf eine Zeit zurück, in der meine Generation Akteur war. Dies mag unseren jeweiligen Blickwinkel sowohl schärfen wie verdunkeln. Für uns – ich spreche jetzt ungefähr von den Jahren 1966-1974 – war Dietrich Bonhoeffer einer der wichtigsten Bezugspunkte im Theologiestudium. Seine These von der „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“ stellte für uns eine Freiheitserfahrung dar, die aus heutiger Sicht angesichts der gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Freiheitsräume wohl kaum mehr nachvollziehbar ist. 

Wir waren damals mit einer erstarrten und versteinerten kirchlichen Landschaft konfrontiert. Eine kirchliche Landschaft, die irgendwo mit der restaurativen Landschaft der späten Adenauer-Republik (deren Verdienste unbestreitbar sind) korrespondierte. An den Schalthebeln der Macht saßen die Veteranen des Kirchenkampfes, deren Verdienste zweifellos ebenso unbestreitbar sind. Aber wir hatten damals den Eindruck, der sich geschichtlich oft wiederholt, dass nämlich die Revolutionäre, wenn sie an die Macht gelangen, sehr schnell zu den verbissensten Bewahrern werden. 

Die Theologie Karl Barths, die einst ein revolutionärer Aufbruch war und dann durch den Kirchenkampf während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hindurch trug, wurde jetzt zum dogmatischen Korsett festgeschrieben. Der späte Karl Barth hat diese Entwicklung durchaus gesehen und gelegentlich knurrend kommentiert. Und auf der anderen Seite gab es die Bultmann-Schule, die aber mit ihrer Anlehnung an eine von Martin Heidegger entlehnte unpolitische Existenzphilosophie für uns 68er ebenso wenig attraktiv war. 

Diese – wenn man so will – theologische und ekklesiologische Lücke konnte dann die Theologie des späten Bonhoeffers füllen. Ein politisch engagierter Theologe, der zugleich die ganze bisherige Theologie einer kritischen Revision unterzog. 

„Etsi deus non daretur“

Verstärkt wurde diese Wirkung Bonhoeffers durch eine Doppellektüre. In dieser Zeit trat auch Dorothee Sölle, vor allem mit ihrem Buch „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“, in die theologische Landschaft ein. Wir haben Sölle und Bonhoeffer ineinander gelesen. Deren beiden Spitzensätze interpretierten sich für uns gegenseitig: „Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen ‚etsi deus non daretur‘“ (Bonhoeffer) und „… wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht“ (Sölle). Bonhoeffer und Sölle haben – und damit widerspreche ich der Sicht von Günter Thomas – meine Generation auf die theologische Spur gesetzt, gerade die Gottesfrage ernst zu nehmen. Wie reden wir von Gott angesichts einer Menschheitskatastrophe, die Bonhoeffer und Sölle beide im Blick hatten?

Gewiss, der späte Bonhoeffer hat, den Umständen der Gefängnishaft geschuldet, vieles nur angedeutet. Sein Religionsbegriff bleibt schemenhaft und kann dem heutigen theologischen und religionswissenschaftlichen Diskurs nicht standhalten. Wahrscheinlich hat er – das ist zumindest meine Sicht – auch weniger „Religion“ gemeint, sondern bestimmte metaphysische Grundannahmen, die er nicht mehr für tragfähig hielt. Bonhoeffer hat aber die entscheidenden Fragen gestellt hat, auf die er selbst keine Antworten mehr geben konnte. 

Und damit bin ich bei unserer unmittelbaren Gegenwart, die sich von der Gegenwart Bonhoeffers und von der Gegenwart des Studiums meiner theologischen Generation auf zweifache Weise unterscheidet. Bonhoeffer lebte in der Zeit einer politischen verfolgten Kirche. Wir lebten damals in einer Zeit der Volkskirche, deren materielle Ressourcen so reichlich wie nie flossen (darauf hat Günter Thomas zu Recht hingewiesen). Die Kirche heute ist nicht verfolgt, und die Hoch-Zeiten der Volkskirchlichkeit sind vorbei. Und doch scheint mir die Theologie des späten Bonhoeffer weiterhin aktuell zu sein.

Am Nullpunkt

Ich habe mich die letzten Tage noch einmal in die Lektüre der Briefe aus dem Gefängnis vertieft. Und ich habe immer wieder gestaunt über die Radikalität, mit der Bonhoeffer sich den theologischen Grundsatzfragen stellt. Er wähnt sich gleichsam an einem Nullpunkt. Das verbindet ihn mit dem frühen Karl Barth der Römerbriefkommentare. Karl Barth sah das vom Kulturprotestantismus bestimmte religiöse Individuum auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verbluten. Und Dietrich Bonhoeffer sah angesichts des verbrecherischen nationalsozialistischen Regimes und angesichts des Vernichtungskrieges, den die deutsche Wehrmacht im Osten Europas in Kooperation mit den sie begleitenden Mordkommandos führte, die Selbstverständlichkeit des Redens von Gott radikal in Frage gestellt. In gewisser Weise hat er in seinen Gefängnisbriefen die berühmt gewordene Formulierung Dorothe Sölles „… wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht“ präfiguriert. 

Für Bonhoeffer hat dies sicher auch ein Abschiednehmen von den einstmaligen Selbstverständlichkeiten seines eigenen theologischen Denkens bedeutet. Ich staune, durch die Lektüre der Gefängnisbriefe hindurchgegangen und dadurch sensibilisiert, welch hohe theologischen Töne Bonhoeffer noch im Übergang von den 1930er- zu den 1940er-Jahren anstimmen konnte. Theologische Töne, die heute nicht selten zum Format einer zeitlosen Kalenderweisheit eingeschrumpft werden. Nein, leicht ist Bonhoeffer der Abschied von seiner eigenen theologischen Vergangenheit sicher nicht gefallen. Das spürt man seinen Formulierungen immer wieder ab.

Sowohl Barth wie Bonhoeffer wähnen sich in ihrer historischen Situation gleichsam an einem theologischen Nullpunkt. In anderer Weise stehen auch wir heute – sicher weniger dramatisch als bei Barth und Bonhoeffer – an einem historischen Einschnitt. Gerade die Radikalität der Theologie Barths und Bonhoeffers war mit einer gewissen Paradoxie doch eingebettet in eine einigermassen gesicherte Volkskirchlichkeit und ein kulturelles Verankertsein des Christentums, die nach 1945 in der neu begründeten Bundesrepublik Deutschland noch einmal eine kurze Blütezeit erlebte. Wir stehen heute am Übergang hin zu dem, was wir dann einmal Post-Volkskirchlichkeit nennen mögen. Und in dieser Situation gewinnt für mich die Theologie des späten Bonhoeffer eine erneute Aktualität.

Wegbrechende Selbstverständlichkeiten

Bereits der nicht gerade im Verdacht eines theologischen Radikalismus stehende Gerhard Ebeling hat die Theologie des späten Bonhoeffer als ein elementares Sprachproblem begriffen: Wie reden wir von Gott heute? Heute stellt sich uns die Frage: Wie reden wir von Gott angesichts der wegbrechenden volkskirchlichen und kulturellen Selbstverständlichkeiten? Jahrhundertelang war das Reden von Gott eingebettet in eine starke Institution Kirche und getragen von einer ganz selbstverständlich vorausgesetzten kulturellen Kundigkeit der Menschen in der Sprache und den Symbolen der christlichen Überlieferung. Beides bricht heute weg. 

Wie Barth und Bonhoeffer in ihrer Zeit stehen wir heute an einem Nullpunkt – dem Nullpunkt der Epoche der beginnenden Postvolkskirchlichkeit. Und zu diesem Nullpunkt gehört, dass wir ganz neu lernen müssen, ohne die alten institutionellen und kulturellen Stützen von Gott zu reden. Das verbindet uns – in aller Verschiedenheit – mit der Situation des Nullpunktes, von dem aus der späte Bonhoeffer seine Theologie tastend neu zu formulieren versuchte: Wie sprechen wir heute von Gott?

Ich stimme mit Günter Thomas darin überein, dass sich die Zukunft der Kirche mit daran entscheidet, wie in der Kirche von Gott geredet wird – nicht nur auf der Kanzel, sondern in den seelsorglichen Gesprächen des Alltags bis hin zur Begleitung sterbender Menschen. Das Reden von Gott vollzieht sich heute in einem Umfeld, in der die Sprache und die Symbole der christlichen Überlieferung für viele Menschen zu einer Fremdsprache geworden sind. Reden von Gott bedarf heute einer Mehrsprachigkeit, in der Prediger*innen und Seelsorger*innen geübt sein müssen – nämlich die Sprache der Tradition und zugleich einer Sprache, die die Menschen unserer Gegenwart sprechen und verstehen. Das ist genau die Thematik, an der sich die späte Theologie Bonhoeffers abgearbeitet hat.

Verwegene Gottesrede

Reden von Gott heute wird immer ein Wagnis der Sprachfindung sein. Verwegene Gottesrede gewissermassen. Eine solche verwegene Gottesrede ist nicht neu. Wir finden sie im Grunde in allen theologischen Neuaufbrüchen von Luther über Schleiermacher bis hin zu Barth und Bonhoeffer. Wenn Luther sagt „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel“ – so ist das verwegene Gottesrede. Und wenn es im Kirchenlied von Johannes Rist heißt: „O große Not! Gott selbst liegt tot“ – so ist auch dies verwegene Gottesrede. Und zu verwegener Gottesrede gehört mit Sicherheit auch der Satz „Gott ist queer“. 

Solche verwegene Gottesrede ist immer umstritten, theologisch und ästhetisch kritisierbar. Die Kontroversen um den Predigtsatz „Gott ist queer“ haben uns dies jüngst eindrücklich vor Augen gestellt (vergleiche zeitzeichen 7/2023). Aber auch der Satz „O große Not! Gott selbst liegt tot“ wurde damals offensichtlich für zu verwegen befunden, weshalb er dann sehr schnell immer wieder abgemildert wurde in „O große Not! Gotts Sohn liegt tot“. Und vor Jahren brach ein befreundeter Basler Universitätskollege aus der Literaturwissenschaft angesichts von Luthers Rede von Gott als einem glühenden Backofen voll Liebe in den Ruf aus „Was für ein Kitsch!“ Offensichtlich gehört zur Verwegenheit der Gottesrede auch deren Umstrittenheit. Vielleicht ist die Umstrittenheit, auf jeden Fall aber deren Verletzlichkeit ein unhintergehbares Kennzeichen eines verwegenen Redens von Gott. Auch das können wir aus den tastenden Versuchen der Theologie des späten Bonhoeffers lernen. 

Eigene Anstrengung gefordert

Günter Thomas hat in seinem Artikel eine direkte Spur gezeichnet von Bonhoeffers Spättheologie hin zu einer kirchlichen Gegenwart einer radikalen Diesseitigkeit, die den Hoffnungshorizont der biblischen Verheissungen, ja letztlich die Rede vom lebendigen Gott hinter sich gelassen hat. Und ich will gar nicht bestreiten, dass es in unserer Gegenwart solche theologischen Abstürze gibt und manches Misslungene und Unfertige. Sicher, das gibt es. Ich entdecke dies auch, wenn ich ab und zu meine eigenen Predigten aus der Vergangenheit lese. Aber ich versuche jetzt hier, eine gegenteilige von Bonhoeffer ausgehende Spur zu zeichnen. Diese Spur führt uns direkt in die Verwegenheit des Redens von Gott in unserer postvolkskirchlichen Gegenwart. Man kann sich bei der Lektüre der Spättheologie Bonhoeffers nicht beruhigt zurücklehnen, sie fordert uns zu unserer eigenen Anstrengung verwegener Gottesrede heraus. 

Die Wahrnehmungen unserer kirchlichen Gegenwart mögen da verschieden sein – nein, sie sind verschieden! Die einen sehen eine EKD, die „Gott vergessen hat“, wie wir vor einiger Zeit in einem Artikel der WELT lesen konnten. Die Autor:innen, darunter Günter Thomas, sehen eine in Gottesfinsternis dahin dämmernde Kirche. Ich kann mich dagegen diesen Wahrnehmungen nicht anschließen. Wenn ich Gottesdienste in der Schweiz und in Deutschland besuche, dann höre ich Predigten (und als langjähriger Lehrer der Homiletik habe ich das Hören von Predigten gelernt), denen ich abspüre, dass sich der Prediger oder die Predigerin als Person in die verwegene Gottesrede einbringen. Und ich spüre dies nicht zuletzt auch in Andachten und Predigten von kirchenleitenden Männern und Frauen. Ich sage dies ausdrücklich, weil diese in kirchenleitender Verantwortung Stehenden gerne in besonderer Weise für eine fortschreitende Selbstsäkularisierung der Kirche verantwortlich gemacht werden.

Insofern gilt: Die verwegene Gottesrede, von der und mit der die Kirche lebt, die kann man in vielfältiger Weise antreffen in der bunten protestantischen kirchlichen Landschaft Deutschlands und der Schweiz. Dass dies so ist, ist nicht zuletzt auch eine Wirkung der wuchtigen theologischen Sätze, die Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle notiert hat.  

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