Das große Unbehagen

Judenhass in Bachs Passionen? – Gedanken am Karsamstag
Programme Bachpassionen 2025
Die vier Programme der Passionen, die der Autor 2025 hörte oder mitsang.

Der heutige Samstag ist der Tag zwischen Karfreitagsruhe und Osterjubel. An diesem Tag denkt zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick an die von ihm so geliebten Passionsoratorien von Johann Sebastian Bach, die er in den vergangenen Wochen mehrfach zelebrierte – hörend wie singend. Aber immer war da irgendwie der große Elefant im Raum dabei …

Es ist vollbracht! Ich setze mich nieder und wage an diesem Karsamstag einen ersten Rückblick auf meine persönliche „Passionssaison“ 2025: Zweimal durfte ich die Johannespassion „live“ als Zuhörer erleben und zweimal bei der Matthäuspassion selbst mitsingen. Wunderbar! Doch es geht mir um etwas anderes, Grundsätzlicheres. Wohlan:

1. Die Johannespassion lernte ich Kind in der Kantorei kennen. Anfang 1977 begannen wir mit den Proben, und es war wahnsinnig schwer und wahnsinnig schön. Von Anfang liebte ich den fesselnd-düsteren Eingangschor „Herr unser Herrscher“ und darin besonders den trotzig-elegischen Ruf „Zeig uns durch deine Passion!“, dessen Sinn ich natürlich nicht verstand, aber der sich doch wohlig in mich fräste. Ein herber, düsterer Gloriasatz, so erkannte ich später, und ein treffliches Gleichnis für Überwindung im Leiden und durch Leiden, und als Pendant dazu das tolle Klangpaar am Schluss, zunächst mit dem – gedämpft-triumphalen Schlusschor „Ruht wohl, Ihr heiligen Gebeine“, die wir eben „nicht weiter beweine(n)“ müssen, weil durch Jesu Leiden und Sterben unser Grab nicht mehr Not bringt, sondern uns den Himmel auf- und die Hölle für immer zuschließt und dann dem Choral „Ach, Herr, lass Dein lieb Engelein“, der diese g-Moll-Passion ins goldene Es-Dur wendet und im unverstellten Gloria-Ruf endet: „Herr Jesu Christ, ich will dich preisen ewiglich!“. Herrlich! Herrlich! Herrlich!

1.1     Keine Ahnung, ob ich das damals schon rational so nachvollziehen konnte, aber meine Gefühle gingen in diese Richtung, und genau das ist der Zauber Johann Sebastian Bachs. Seine Musik lässt einen ganz wichtige, existenzielle Wahrheiten kosten und genießen, ohne sie rational irgendwie nachzuvollziehen zu müssen. Mich erfüllten schon sehr bald nach dem ersten Kennenlernen 1977 besonders die Choräle der Johannespassion.

1.2.    Dazu einige Beispiele. Neben dem schon erwähnten Schlusschoral liebte ich besonders „Wer hat dich so geschlagen“ und „Ach, großer König“ – die hatten sogar zwei Strophen, und natürlich „Petrus, der nicht denkt zurück“. Die Zeilen „Jesu, blicke mich auch an, wenn ich nicht will büßen, wenn ich Böses hab getan, rühre mein Gewissen“ waren mir schon damals sehr eindrücklich. Und obwohl oder vielleicht gerade, weil für den Zehnjährigen inhaltlich kaum verständlich, übte „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ eine besondere Anziehungskraft aus. Die Zeilen „Dein Kerker ist der Gnadenthron / die Freistatt aller Frommen / denn gings’t du nicht die Knechtschaft ein, müsst uns’re Knechtschaft ewig sein“ lösten damals bei mir Gefühle aus, die man heute als zwischen Lust und Sado-Masochismus changierend beschreiben könnte. 

Absoluter Goldstandard

1.3.    Des Weiteren natürlich „In meines Herzens Grunde, dein Nam und Kreuz allein“ – absoluter Goldstandard: die dreifachen Quartsextbewegungen auf „Erschein mir in den Bilde“ von Sopran, Alt und Tenor! Und sehr anrührend auch der nächste Choral „Er nahm alles wohl in Acht“. Darin berührte mich schon als Junge die Wortfolge „Seiner Mutter noch bedacht, setzt ihr ein Vormunde …“ und dann die klare Ansprache im B-Teil: „O, Mensch, mache Richtigkeit, / Gott und Menschen liebe, / stirb darauf ohn alles Leid, / und dich nicht betrübe“ – Es ist Lebensmotto und Zuspruch auf engstem Raum und das auch noch in Reimform. Erhebend! 

1.4.    Schließlich, auch hochgeliebt, „Jesu, der du warest tot“. Dieser Choral ist inkludiert in die herrliche Bassarie „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ mit dem hoffnungsfrohen Cellosolo. Da rührte mich, schon allein lautmalerisch, der Satz „Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen; doch neigest du das Haupt und sprichst stillschweigend Ja!“.

1.5.    Nun bin ich bei den Arien angelangt: Deren Quartett zum Schluss von Alt („Es ist vollbracht“), Sopran („Zerfließe, mein Herze“ – mit dem vom Tenor gesungenen herrlichen Arioso „Mein Herz, in dem die ganze Welt mit Jesu Leiden gleichfalls leidet“ vorab – und dann eben vom Bass „Mein teurer Heiland“ – ist der absolute Höhepunkt. Ebenfalls sehr beeindruckend, obwohl textlich bleibend kryptisch, das Bass-Arioso „Betrachte meine Seel‘“. Die rasante Arie „Eilt, ihr angefocht’nen Seelen“ hingegen war mir als Kind verleidet, weil ich immer Angst hatte, die schweren „Wohin“-Einwürfe des Chores zu verpassen. Geschah dies – und es geschah oft! – dann gab es Schelte der strengen, zuweilen cholerischen Kantorin meiner Nordsee-Jugend und endloses Wiederholen.

1.6.    Ich hoffe, dass mit den bis hier genannten und markierten (Hör-)Beispielen auch Menschen, die die Johannespassion nicht gut oder gar nicht kennen, meine großen Gefühle für diese Musik nachvollziehen können. Schon als Kind verliebte ich mich in diese Klangrede – singend und hörend. Eine letzte Erinnerung: Zu meinem 11. Geburtstag im März 1977 bekam ich eine Kassette mit Auszügen der Johannespassion geschenkt. Ich habe sie leider nicht mehr, aber sehe sie noch deutlich vor mir (und habe sie als LP im Netz gefunden: Deutsche Grammophon, Münchner Bachchor, Karl Richter). Verzaubert von den ersten Proben mit der Kantorei hatte ich sie mir sehnlich gewünscht, aber war dann enttäuscht, dass viele Choräle auf der Kassette fehlten, die ich so liebte.

Ärgernis oder Herausforderung?

2.       Doch weg von (meinen) Gefühlen und hin zum Problem, zum großen Elefanten im Raum, wie ich es salopp im Vorspann formuliert habe. Warum ist das Problem ein „Elefant im Raum“? Nun, weil es für viele nicht existent scheint und für manche ein (nur) ein lästiges, überflüssiges Ärgernis darstellt. Für Andere hingegen ist es eine geistige und geistliche Herausforderung, und zu letzteren möchte ich mich zählen. Also: Für mich besteht dieser „Elefant im Raum“ darin, dass in den Passionen Bachs judenfeindlichen Passagen gibt. Und zwar in beiden Passionen spezifische, die bereits in den sehr unterschiedlichen Texten und Traditionen des Matthäus- und des Johannesevangeliums angelegt sind. Das Problem liegt – zumindest bei Bach – nicht in den Arien und Chorälen, sondern in der Vertonung des Evangeliums selbst:

2.1.    Anders als in den drei sogenannten synoptischen Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas steht bei Johannes häufig stereotyp und undifferenziert die Juden geschrieben, wenn vom Volk und von den Gegnern Jesu die Rede ist. Und in der Passionsgeschichte des Johannes ist zu beobachten, dass die Rolle des Pilatus, der über die Verurteilung Jesu zu entscheiden hatte, sehr positiv dargestellt wird – im Gegensatz zur Rolle der Juden

2.2.     So zum Beispiel an dieser Stelle: Kurz nachdem sich „die Juden“ – von Pilatus vor die Wahl gestellt – für die Freilassung von Barrabas anstelle von Jesus entschieden haben, heißt es in der Version der Lutherbibel, die Bach in seiner Passion vertonte: 

Da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn. Und die Kriegsknechte flochten eine Krone von Dornen und satzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurkleid an und sprachen: Sei gegrüßet, lieber Judenkönig! Und gaben ihm Backenstreiche. Da ging Pilatus wieder heraus und sprach zu ihnen: Sehet, ich führe ihn heraus zu euch, daß ihr erkennet, daß ich keine Schuld an ihm finde. Also ging Jesus heraus und trug eine Dornenkrone und Purpurkleid. Und er sprach zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch! Da ihn die Hohenpriester und die Diener sahen, schrieen sie und sprachen: Kreuzige, kreuzige!“ (Johannes 19, 1-6) 

Dieses „Kreuzige, kreuzige“ hat Bach in der Johannespassion in einem Chorsatz vertont, der das Geifern der entfesselten Menge äußerst effektvoll darstellt.

2.3.    Das „Kreuzige, kreuzige“-Motiv kehrt in Bachs Johannespassion wieder, nämlich, als der letzte Versuch des Pilatus scheitert, Jesus doch noch freizubekommen. Da rufen „die Juden“ laut Evangeliumstext: „Weg, weg mit dem. Kreuzige, kreuzige“, und Bach vertont es in gleicher Weise. Solch paarweise Entsprechung in der musikalischen Umsetzung ist noch bei weiteren Chören der Juden in der Johannespassion vorhanden, zum Beispiel wenn sie bei Pilatus die Todesstrafe für Jesus fordern – dort heißt es: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz soll er sterben“ – und wenn sie wenig später Pilatus, als er Jesus freilassen will, mit dem römischen Kaiser drohen. Dort heißt es: „Lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht“. 

„Perfidia Judaica“

2.4.    Man kann in dieser gleichen Vertonung recht verschiedener Texte, die eigentlich nach den „normalen“ Regeln der barocken Musikpraxis auch recht unterschiedlich vertont werden müssten, eine klare Aussageabsicht Bachs vermuten. Dazu die Musikwissenschaftlerin Dagmar Hoffmann-Axthelm: (…) die symmetrisch um den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ angeordneten Juden-Chöre stellen eine musikalisch-rhetorische Figur dar. Es sind dies musikalische Konfigurationen, die die Komponisten im 17. und 18. Jahrhundert dazu verwandten, durch Musik einen außermusikalischen Sinn zu formulieren. Die rhetorische Figur, die Bach hier wählt, heißt Perfidia, und sie dient dazu, die Emotion hartnäckiger Verstocktheit musikalisch sinnfällig zu machen — und zwar durch „hartnäckige“ Wiederholungen“[1]. Dass die Juden verstockt seien, ist ein Vorwurf, der sich seit dem Altertum durch die christliche Judenpolemik zieht. Eine Polemik, die die Diskriminierung der Juden im sogenannten christlichen Abendland über Jahrhunderte beförderte und sich immer wieder in Verfolgung und Pogromen entlud – übrigens häufig in der Karwoche. Und festzuhalten ist: Johann Sebastian Bach setzt das Motiv der Perfidia in seiner Johannespassion als Perfidia Judaica, als Schmähung der hinterhältigen Juden, ein. 

3.       Und nun zumindest ein kurzer Blick in die Matthäuspassion[2], das mutmaßlich drei Jahre nach der ersten Fassung der Johannespassion aufgeführte große, doppelchörige Passionsoratorium: Hier verwendet Bach das kompositorische Prinzip der Perfidia nicht. Aber zum Text des Matthäusevangeliums gehört der Satz „Sein Blut komme über uns und uns’re Kinder“, den Matthäus der Menge in den Mund legt, die mit Pilatus um Jesu Schicksal ringt. Und gerade an dieser Stelle wird die Menge zum einzigen Mal (!) in der Passionsgeschichte des Matthäus als „das ganze Volk“ bezeichnet. In dem entsprechenden Chor haben Bachforscher ein anderes interessantes Detail ausgemacht: Genau siebzig Mal erklingen in diesem Chor die Worte „über uns“. Hat Bach hier einen Hinweis auf das Jahr 70 nach Christus eingebaut, das Jahr, in dem die Römer den Jerusalemer Tempel zerstörten, oder ist die Zahl 70 hier ein Zufall? 

3.1.    Das ist eher unwahrscheinlich, denn – salopp gesagt – Bach hatte es mit Zahlen. Dafür gibt es Indizien und zwar jenseits aller Spekulationen auf dem weiten Feld der Zahlensymbolik innerhalb der Musik Bachs: Das einzige Buch, das aus Bachs theologischer Bibliothek erhalten ist, ist eine vom lutherischen Theologen und Mathematiker Abraham Calov kommentierte Luther-Bibel aus dem Jahre 1681. In dieser Bibel finden sich Einzeichnungen Bachs, die von der Forschung mangels anderer Zeugnisse begierig aufgegriffen und gedeutet werden. Am berühmtesten und oft zitiert ist der Satz, den Bach handschriftlich in dieser Bibel neben Vers 13 aus Kapitel 5 des Zweiten Buches der Chronik aus dem Alten Testament geschrieben hat: Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden=Gegenwart In dieser Bibelstelle wird die festliche Musik zur Einweihung des Jerusalemer Tempels erwähnt und gewürdigt. Aus dem kurzen handschriftlichen Satz in der Calov-Bibel haben Forscher immer wieder versucht, eine großangelegte Musiktheologie Bachs zu entfalten. 

3.2.    Demgegenüber rätselhaft erscheint eine weitere knappe handschriftliche Eintragung Bachs in dieser Calov-Bibel. Sie steht im 3. Buch Mose in Kapitel 26, Vers 38, einem Ausschnitt aus einer längeren Gottesrede an das Volk Israel, in der es heißt: „Und ihr sollt umkommen unter den Völkern, und eurer Feinde Land soll euch fressen“. Diesen Vers kommentiert Abraham Calov, der Bibel-Herausgeber, mit folgendem Satz: Dergleichen (haben) auch biß auff diese Stunde die überbliebene(n) Jüden nach ihrer endlichen Zerstörung und Zerstreuung erfahren müssen über 1600 Jahr …“ Calov zieht also in seinem Kommentar eine Linie von der Zeit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 nach Christus in seine eigene Zeit. Interessant ist nun, dass Johann Sebastian Bach an dieser Stelle in seinem Exemplar die Zahl „1600“ eigenhändig durchgestrichen und durch „1700“ ersetzt hat. Es scheint Bach also wichtig zu sein, dass diese „Zerstörung und Zerstreuung“ in seiner Zeit schon länger fortdauert. Aber kann man anhand eines solch kleinen Details wirklich auf Bachs Gesinnung schließen? Sicher nicht. Aber das Bach es mit Zahlen hatte, das schon.

Logischer Unsinn!

4.       Damit zurück zur Matthäuspassion: Der Satz „Sein Blut komme über uns und seine Kinder“ diente in der Kirchengeschichte als Beleg für die ewige Verfluchung des jüdischen Volkes, da es angeblich Jesus zu Tode gebracht habe und paradoxerweise dafür angeblich um Bestrafung bittet. Doch selbst wenn man diese – aus der Perspektive der heutigen Bibelforschung absolut unwahrscheinliche – Möglichkeit annähme, führt sie mitten hinein in ein Paradoxon der christlichen Theologie: Für unsere Sünden und zu Heil musste Jesus sterben, durch sein Blut sind wir erlöst lehrt die klassische Dogmatik des Christentums. Wenn das aber so ist, warum um Himmels willen werden dann die Juden als „Christusmörder“ verfolgt und verfemt, die dieses Heilsopfer durch die Kreuzigung herbeiführten beziehungsweise beförderten? Nach den einfachsten Gesetzen der Logik ist das Unsinn! Verhängnisvoll aber ist[3], wie sehr das unverbundene und damit unheilvolle Nebeneinander von geglaubter Heilswirkung des Kreuzestodes Jesu und historischer Verdammung der Juden als Christusmörder über fast zwei Jahrtausende parallel liefen und auch heute noch gedacht wird. 

4.1.    Zu beobachten ist aber auch dies: Zur Zeit Bachs begannen neue Gedanken die christliche Passionstheologie zu prägen. Gedanken, die wegführten vom stellvertretenden Sühnopfer Jesu für die Sünder und hin zu einem mehr menschlichen, mitleidenden Passionsverständnis – die Aufklärung brach sich auch in der Theologie Bahn. Doch neben ihr, ja, ihr zum Trotz, verband sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts der christlich gefärbte Judenhass mit dem neu aufkommenden, zunehmend rassisch gefärbten sogenannten Antisemitismus. Und dieser Antisemitismus führte im vorigen Jahrhundert zur Katastrophe, zur Vernichtung der europäischen Juden, zur Shoah. 

4.2.    Natürlich wäre es absolut übertrieben zu behaupten, dass gerade Bachs Passionen für die Nazis eine besondere Rolle gespielt hätten. Aber auch Theologie und die Kirchenmusik in Deutschland, besonders die evangelische, waren in weiten Teilen mit deren Ideologie kontaminiert. So bewertete der evangelisch-lutherische Pfarrer Friedrich Hermann Haufe in einem Vortrag auf dem Deutschen Bachfest 1937 die besagte Stelle aus der Matthäuspassion wie folgt: „Die ganze dramatische geschichtliche Wirklichkeitsspannung, die mit der Tatsache Jesus Christus vor uns steht, die zwingt zu der dramatischen Wucht der großen Volkschöre, und zu den fanatisch frechen und pfeifenden Widerstandschören des Volkes, zu dem Barrabamgeheul. ... Bis auf den heutigen Tag ruft Juda: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“[4] 

„Ich“ der Gläubigen

4.3.    Solche Sätze sind übel – wie vieles, was damals geschrieben und gesagt wurde. Natürlich reden wir heute nicht mehr so. Aber es kann nicht übersehen werden, dass der schlimme, unlogische und ungerechte Judenhass der christlichen Kirche wesentlich zu solchem Denken führte. Dabei muss man einräumen, dass gerade Bachs Passionen in ihrer lyrischen Kommentierung in Gestalt der Arien überhaupt nicht judenfeindliche Tendenzen ausschmücken oder ausbauen. 

4.4. Nur ein Beispiel: In der Matthäuspassion lenkt Bachs Textdicher Christian Friedrich Henrici (genannt Picander) gerade keine Emotionen auf irgendwelche antijüdischen Gedanken, sondern betont vielmehr im Sinne der lutherischen Dogmatik, das „Ich“ des/der heutigen Gläubigen. Dies wird in den Chorälen und Arien deutlich. Und es gibt eine Choralstrophe von Paul Gerhardt, die Bach in beiden Passionen verwendet hat, in der es heißt: „Du bist ja nicht ein Sünder / wie wir und uns’re Kinder, von Missetaten weißt du nicht“.[5]

5.       Seit Jahrzehnten haben die Kirchen in Deutschland nun einen anderen Weg eingeschlagen. Sie sind sehr bemüht, ihre eigene Verstrickung in die jahrhundertelange Geschichte des Judenhasses zu erkennen und damit umzugehen. 

5.1.    Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat vor neun Jahren – im Herbst 2016 im Zuge der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum – eine „Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes“ abgegeben, in der es heißt: „Wir sehen uns vor der Herausforderung, unser Verhältnis zu Gott und unsere Verantwortung in der Welt auch von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk her theologisch und geistlich zu verstehen und zu leben. Wo in Verkündigung und Unterricht, Seelsorge und Diakonie das Judentum verzeichnend oder verzerrt dargestellt wird, sei es bewusst oder unbewusst, treten wir dem entgegen. Wir bekräftigen unseren Widerspruch und unseren Widerstand gegen alte und neue Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus.“ Sollte die evangelische Kirche dies wirklich ernst nehmen wollen, dann stellt sich die Frage, inwieweit die Passionen Bach, die zweifellos zu den bedeutendsten Werken der Musikgeschichte gehören, in Zukunft noch „einfach so“ aufgeführt werden können. 

5.2. Die sieben Wochen vor Ostern gehen heute zu Ende und damit auch die Zeit der zahlreichen Aufführungen der Passionen von Johann Sebastian Bach, die sich, allem anderen kirchlichen Traditionsabbruch zum Trotz, großer Beliebtheit erfreuen. Aber, wie ich in diesem Text zu skizzieren versucht habe, kommen „Die Juden“ darin sehr schlecht weg. Sie werden als hinterlistig und schuldig, als blut- und rachsüchtig in den Evangelien bezeichnet. Und die meisterhaft dramatische Vertonung Bachs transportiert diese Affekte natürlich in weit höherem Maße, als wenn die betreffende Textstellen im Gottesdienst „nur“ gelesen werden.

5.3. Der Vorwurf an die Juden, „Christusmörder“ zu sein, durchzieht von Beginn an die gesamte Kirchen- und Theologiegeschichte. Das bleibt ein unverzeihlicher Webfehler der überlieferten Passionsgeschichte, der immer wieder zu Verfolgungen und Pogromen – übrigens häufig am Karfreitag! – führte. Dieses Denken ist unzweifelhaft ein geistiger Vorläufer der Schoah, der Vernichtung jüdischer Menschen in der Nazizeit. Erst nach 1945 wurde man sich dieser besonderen Schuld allmählich bewusst und begann sie zu reflektieren. Eine offizielle Erklärung der EKD erfolgte erst 2016, als man in Hinsicht auf das Reformationsjubiläum 2017 die Traditionsbestände kritisch sichtete (siehe oben 5.1.)

5.4.    Meist völlig unberührt davon sind allerdings heute immer noch die meisten Bachpassionskonzerte – die judenfeindliche Grundierung bleibt unkommentiert . Es ist immer noch die Ausnahme, dass im Zuge von Konzertprojekten dieses Problem mit flankierenden Veranstaltungen und sogar musikalischen Interventionen gedacht wird. In diesem Zusammenhang regte Gerhard Wegner, Theologe und Antisemitismusbeauftragter der niedersächsischen Landesregierung, jetzt kürzlich an, man sollte vorerst auf die Aufführung der Bachschen Passionen verzichten.

5.5. Wäre das die Lösung? Ich meine nicht. Denn die Bachschen Passionen gehören – ihrer Judenfeindschaft zum Trotz – zu den größten musikalischen Kunstwerken der Weltgeschichte, und sie sind für viele, besonders auch durch die Texte der Arien und Choräle, wichtige Glaubenszeugnisse. Was aber könnte helfen? Auf jeden Fall – und darin ist Wegener recht zu geben – sollte es möglichst keine unkommentierten Aufführungen geben. Das Problem, das vielen Bachliebhabern weiterhin nicht bewusst ist, sollte bewusst gemacht werden. Dafür gibt es viele Wege und viele werden auch ausprobiert[6].

5.6. Ein Weg wäre beispielsweise, es wie zu Bachs Zeiten zu machen: In beiden Passionen ist von Bach selbst nach einem guten Drittel eine Pause des Musizierens vorgesehen, in der damals in Leipzig eine meist einstündige Predigt folgte. Dieser „natürliche“ Einschnitt in der Aufführung könnte für eine „Predigt“ beziehungsweise Reflexion genutzt werden, in der zumindest die christliche „Passionsschuld“ an den Juden benannt und problematisiert würde. Im besten Falle wäre sogar noch Raum für Gedanken, wie christliche Passionstheologie heute besser betrieben werden könnte. Es muss ja nicht ganz eine Stunde sein …

6. Eigentlich sollte mein Karsamstags-Text 2025 damit enden, lediglich zu skizzieren, wie eine solche Reflektion beziehungsweise Predigt möglicherweise aussehen könnte, also wie eine Reflexion oder Predigt, konkret an der vorgesehenen Stelle, der Predigtpause zwischen den Chorälen Nr. 14 („Petrus, der nicht denkt zurück) und 15 („Christus, der uns selig macht“), gehalten werden könnte. Denn das erscheint mir der beste Weg, das Ärgernis des Beschweigens des Problems der antijüdischen Durchdringung aufzuheben, wie eben unter 5.6. angedeutet[7] . Nun ist, wie ich heute am Karsamstagsmorgen sah, gestern genau so etwas geschehen, und zwar anlässlich der Aufführung der Bach‘schen Johannes-Passion in der Himmelfahrtskirche zu München-Pasing. Diese Aufführung war als „Kantatengottesdienst“ angelegt. Sie soll am Ende dieses Textes in Gänze zitiert werden, den Regionalbischof Thomas Prieto Peral dankenswerter auf seiner Facebookseite öffentlich gemacht hat. Möglicherweise wäre es gut, wenn man diesen „Pausen-Platz“ in Bachs Passionen künftig mit so etwas bereichern würde …

7. Predigt von Regionalbischof Thomas Prieto Peral anlässlich der Aufführung der Johannespassion im Karfreitagsgottesdienst in der Himmelfahrtskirche in München- Pasing am 18. April 2025[8]:

Friede sei mit Euch von dem der war, der da ist und der kommen wird. Amen. 

7.1.    Wenn ich die Johannes-Passion höre, dann bin ich mit allen Sinnen und Gedanken mittendrin in der Leidensgeschichte Jesu. Mit seiner Musik zeichnet Bach das Leben und Sterben Jesu in solcher Anschaulichkeit nach, als würde man die Gefühle der Personen mit durchleben - drängende Unruhe bei Jesu Gefangennahme. Den schmalen Grat zwischen Wollen, Mut und der Furcht, die die Oberhand gewinnen will. Wir hören von Verrat und das Toben der Menschenmassen. Wir spüren den Schmerz bis in die tiefste Verlassenheit und das verzweifelte Weinen im Angesicht des Kreuzes.

7.2.    Aber die Musik tröstet auch wieder. Bach kann das. Nachher werden wir hören, wie noch im Sterben, mitten im „Es ist vollbracht“ die Tonart wechselt von Moll zu Dur. Bach komponiert die Hoffnung, den Trost für die gekränkten Seelen schon mitten in die Finsternis hinein. Er will, dass wir es tief in uns spüren: Christus hat dieses Leiden auf sich genommen für uns. Er kennt unsere Finsternisse, unsere Ängste und Schmerzen. Er hat sie am Kreuz getragen. 

7.3.    Manche nennen Bach auch den „fünften Evangelisten“. Denn Johann Sebastian Bach will mit seiner Passionsmusik nicht bloß erzählen, was im biblischen Text steht, er will predigen. Dazu hat er zum biblischen Text weitere musikalische Elemente eingefügt wie zum Beispiel die Choräle, die wir heute als Gemeinde mitsingen. Damit werden wir Teil des Geschehens und steigen hinein in die Geschichte. Wir haben gesungen: „Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich / auf Erden wie im Himmelreich“. Die Musik trägt die Theologie: wir verstehen die Passionsbotschaft und wir fühlen sie. Nachher am Ende werden wir bitten „Ach Herr, laß dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen …“. Unser eigener Tod wird zum Thema: Wir legen unsere Seele in Gottes Hände. Wir bitten, dass uns Engel ins himmlische Paradies tragen mögen. Dass wir uns fallen lassen können wie ein Kind in die Arme der Eltern. Das tut gut, wenn man die Welt sich gerade so anschaut. Wir sind geborgen in Gottes Liebe. 

7.4.    Dennoch müssen wir heute auch innehalten und kritisch auf einige Töne dieser Passionsgeschichte hören. So großartig und heilig das Geschehen ist – es gibt in der Johannes-Passion Worte, die verwunden können. Worte, die eine dunkle Wirkungsgeschichte entfaltet haben. Wir haben die Rufe gehört: „Kreuzige, kreuzige!“ – wuchtige Schreie einer aufgehetzten Menge. Im Johannes-Evangelium heißt es an solchen Stellen pauschal „die Juden schrien“. Pilatus hingegen, der römische Statthalter, wirkt in dieser Darstellung beinahe unbeteiligt. Er wäscht seine Hände in Unschuld. Die Hohenpriester und das jüdische Volk aber werden „als blutrünstige Menge“ gezeigt. Die Verantwortung für Jesu Tod schreibt der Evangelist Johannes in seinem Evangelium pauschal „den Juden“ zu. 

7.5.    Und das zeigte Wirkung in einer leidvollen Geschichte: Jahrhundertelang wurden Juden als „Christusmörder“ diffamiert. Man gab ihnen die Schuld an Jesu Tod. Bis hin zum Vorwurf des Gottesmordes hat man das gesteigert. Wir wissen: historisch gab es dafür keine Grundlage – Jesus wurde vom römischen Machthaber Pilatus verurteilt und von römischen Soldaten gekreuzigt. Doch das Johannes-Evangelium entstand in einer Zeit scharfer Konflikte zwischen den ersten Christen und der jüdischen Gemeinde. Manche polemische Wendung erklärt sich aus dieser Spannung, als innerjüdischer Streit einer gespaltenen Gemeinschaft. Aber nachdem sich Christentum und Judentum getrennt hatten, wurden diese Worte aus einer Konfliktsituation weiter zugespitzt: sie dienten als scheinheilige Rechtfertigung für Judenhass.

7.6.    Das müssen wir bekennen und beklagen: Unsere christliche Tradition hat aus dem Karfreitagsevangelium oft eine Waffe gegen das jüdische Volk gemacht. Gerade am Karfreitag lebten Juden lange Zeit in Angst. Jahrhundertelang mussten Jüdinnen und Juden an diesem Tag mit Anfeindungen und Pogromen rechnen. Wie bitter ist es, dass aus der Verkündigung vom Opfertod für ALLE Menschen Gewalt und Unrecht gegenüber Unschuldigen entsprang. Das ist beschämend. Es widerspricht allem, wofür das Kreuz Christi steht. Der Gekreuzigte selbst hat am Kreuz gebetet: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Jesu Tod und Auferstehung geschahen, so bezeugt es uns der Glaube, zur Versöhnung der Schuld aller Menschen – für alle, und nicht um Hass zu säen. Im Epheserbrief heißt es sogar, dass durch Christus die Trennwand gefallen ist, die bislang zwischen Juden und Heiden war. Wer also die Passion dazu missbraucht, Hass gegen „die Juden“ zu schüren, der hat den eigentlichen Sinn des Geschehens verfehlt und Jesu Botschaft der Liebe ins Gegenteil verkehrt.

7.7.    Ich finde, wir können heute nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, als gäbe es diese Problemstellen nicht. Wir tragen Verantwortung, wenn wir die Johannes-Passion aufführen und hören. Bach war ein Kind seiner Zeit; auch er stand unter dem Einfluss mancher judenfeindlicher Theologie seiner Tage. Doch heute wissen wir mehr – heute steht die Kirche in einem neuen Verhältnis zu unseren jüdischen Geschwistern. Nach der unfassbaren Katastrophe der Shoa haben die Kirchen begonnen umzudenken und umzukehren. Uns ist wieder bewusst geworden: Jesus war selbst Jude, ebenso seine Jünger. Jesus wurde als Jude geboren und er ist als Jude gestorben. Er hat das Leiden seines eigenen Volkes mit ans Kreuz getragen. Wir Christen können uns nicht über die Juden erheben oder sie pauschal verurteilen. Vielmehr sind wir gerufen, mit dem jüdischen Volk gemeinsam dem einen Gott zu dienen – und jede Form von Antisemitismus zu bekämpfen.

7.8.    Die jüdische Philosophin Almuth Bruckstein erzählte vor einigen Jahren einmal von ihrer Bachliebe: „Oft haben sich Familien des jüdischen Bildungsbürgertums Karfreitag in die Kirchen geschlichen, um Bachs Passion zu hören. Doch konnten wir uns nie richtig zuhause fühlen.“ Denn da war der Text, der „den Juden“ Mordlust unterstellte und sie allein verantwortlich machte für den Tod Jesu.

7.9.    Wie gehen wir also um mit den schwierigen Worten der Passion? Zunächst, indem wir sie genau hören, statt sie zu verdrängen. Wenn in der Passion der Chor die wütende Menge verkörpert, die „schreit“, dann lassen wir uns warnen. Diese Stellen dürfen wir nicht hören als Aussagen über jüdische Menschen. Aber sie zeigen unsere Verführbarkeit. Sie sollen uns alle warnen vor unserer Anfälligkeit, weil sie zeigen wie schnell eine Masse in blinden Hass verfallen kann. Jeder von uns ist anfällig für den Taumel des Hasses auf andere. Bach zieht in den Turbachören musikalisch alle Register, um Hass und Feindseligkeit dramatisch darzustellen. Genau so schreien wir, wenn wir uns von der Liebe abwenden. Jeder von uns kann in Versuchung geraten, sich der hasserfüllten Menge anzuschließen oder wie Petrus wegzulaufen. Die Passion kann uns alle also zur Umkehr rufen: Lasst euch nicht manipulieren von Parolen des Hasses. Steht ein für Gerechtigkeit, für Wahrheit, für die Liebe – auch wenn der Preis hoch ist. Bleibt bei Christus, statt „Kreuzige ihn“ zu rufen.

7.10.  Als Kirche haben wir die Pflicht, solche Texte zu kommentieren und von ihrem Kontext zu erzählen, wann immer wir sie verkünden. Wir verbiegen Bachs Werk nicht; wir lieben und schätzen es in seiner Größe. Aber wir kontrastieren diese großartige Musik mit unserem heutigen Wissen um die Schuld der Christenheit. Wir halten Bach zugute, was er an himmlischer Musik geschaffen hat – und gleichzeitig halten wir fest, was wir aus der Geschichte gelernt haben. So können wir diese Johannes-Passion mit Freude und Achtsamkeit hören: voller Andacht für die Leidensgeschichte Jesu und zugleich wachsam gegenüber allen Untertönen, die nicht der Botschaft Jesu entsprechen. 

7.11   Was nehmen wir also mit an diesem Karfreitag, nach dieser musikalischen Andacht? – Zunächst einmal Stille. Eine ehrfürchtige Stille vor dem Kreuz. Wir werden den unendlich liebevollen Schlusschor hören: „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“. Ja, wir lassen Christus nun zur Ruhe legen ins Grab. In diese Stille legen wir unsere eigene Schuld und unseren Schmerz. Wir halten aus in der Spannung zwischen Tod und Auferstehung. Wir tun das als Menschen mit Hoffnung. Die Passion nach Johannes endet nicht in Verzweiflung, sondern mit einem hoffnungsvollen Gebet. So sollen auch wir nicht in Finsternis enden. Diesen Weg müssen wir heute weitergehen. Karfreitag lehrt uns, dem Leid ehrlich ins Auge zu sehen – unserem eigenen und dem Leid der Welt – und dennoch auf Gottes Liebe zu vertrauen, die stärker ist als der Hass.

Amen.

 

 

Nachbemerkung: 

Eine Predigt in einer als „Kantatengottesdienst“ konzipierten Aufführung einer Bach’schen Passion hat eine klarere Zielgruppe und ist unumstrittener, als wenn sich eine Predigt/Reflexion an ein diffuses „Publikum“ in reinen Konzertaufführungen richtet. Dabei ist dann nochmal zu unterscheiden, ob diese in Kirchen stattfinden oder in Konzertsälen. 

Zweimal hörte ich dieses Jahr die Johannespassion im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie in musikalisch überaus beeindruckenden Aufführungen. Am Montag nach Judika (7.4.) mit dem Freiburger Barockorchester und Vox Luminis (Leitung: Lionel Meunier) und genau eine Woche später in der Schumann-Fassung mit der Deutschen Philharmonisches Akademie und dem Sächsischen Vokalensemble (Leitung: Fabian Enders). Im Programmheft des ersten Konzertes stand ein sehr luzider Artikel des renommierten theologischen Bachforschers Meinrad Walter, aber kein Wort darin zum Thema Antijudaismus. Das zweite Programm vom 14. April enthielt lediglich die Besetzung und QR-Codes für Künstlerbiografien.[9] 

Die Vorstellung, es wäre an diesen Abenden – vielleicht sogar unangekündigt, also im Stile einer leicht disruptiven Intervention (wenn auch sicher in Absprache mit Künstlern und Veranstaltern) – eine Pausenreflexion gehalten worden, ist überaus spannend! So eine Rede müsste natürlich anders aussehen, als die oben dokumentierte Predigt, die in einem klaren gottesdienstlichen Rahmen erfolgte. Was in solchen Settings inhaltlich und von der „Performance“ her aufzurufen wäre – in aller gebotenen Kürze (10-15 Minuten sollten m.E. keineswegs überschritten werden), darin liegen wichtige Aufgaben für die Zukunft. 

 

 


 

[1] Dagmar Hoffmann-Axthelm: „Die Judenchöre in Bachs Johannespassion“ in „Freiburger Rundbrief“ 5/1998, S. 103. 

[2] Die biografisch gesättigte „Liebeserklärung“ an die Matthäuspassion, wie ich sie oben unter 1. für die Johannespassion ablegte, entfällt hier – aber nur weil der Veröffentlichungstermin drängt. Vielleicht kann ich sie in einer anderen Fassung nachholen, denn sie wäre mindestens so lang!

[3] Inwiefern dieses Denken aufgrund der schlimmen antisemitischen Schübe auf Deutschlands Straßen seit dem Vernichtungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auch im kirchlichen von Einzelnen Raum wieder repristiniert worden ist, lohnte eine Untersuchung. 

[4] Zitiert nach Johann Michael Schmidt: „Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach – Zur Geschichte ihrer religiösen und politischen Wahrnehmung und Wirkung“, 2016, S. 370. 

[5] In anderen barocken Passionsvertonungen finden sich durchaus deutlich „schlimmere“ und auch ganz bewusst gesetzte judenfeindliche Passagen. Schon in Der blutende und sterbende Jesus, dem allerersten bekannten deutschen Passionsoratorium des neueren Stils von Reinhard Keiser. Sein Textdichter war Christian Friedrich Hunold, genannt „Menantes“. Da heißt es zum Beispiel in einem Rezitativ von Jesus (!) selbst, wenn ihn Menantes und Keiser im Garten Gethsemane singen lassen: »Ach wollt ihr nun nicht wachen, sondern ruhn? / schaut, itzo kömmt die Stunde schon, / allwo des Menschen Sohn / den größten Sündern auf der Erden / wird überliefert werden.« Die größten Sünder auf der Erden, das sind laut biblischem Bericht dann Judas und die ihn begleitende Schar Bewaffneter der jüdischen Hohepriester. Später im Stück der von seinem eigenen Verrat verzweifelte Judas: »Drum öffne dich, du Grund / der vor Verfluchte flammet / und schlinge selbst den ärgsten Höllenhund. / den Schaum verdammter Juden ein.« Vergleiche dazu: Reinhard Mawick, „Keiser im Zuchthaus – Über die Uraufführung und Wiederentdeckung des frühesten deutsche Passionsoratoriums“, Magazin VAN 2018.

[6] In diesem Zusammenhang ist besonders auf das Material des EKHN-Zentrums für Verkündigung zu verweisen, das auf das engagierte Wirken der ehemaligen Landeskirchenmusikdirektorin Christa Kirschbaum zurückgeht (siehe hier) und auch auf das Interview, dass ich mit ihr im Rahmen des Schwerpunkts "Matthäuspassion" in zeitzeichen 2017/3 zu diesem Thema führte (siehe hier).

[7] Vergleiche dazu auch meinen Kommentar, den ich vor einigen Tagen auf Anfrage der Kirchenpresse schrieb: „Bachs Passion und die Judenfeindschaft – Bitte nicht unkommentiert“ .

[8] Ich danke Herrn Regionalbischof Peral sehr dafür, dass er den Text seiner Predigt auf seiner Facebookseite zur Verfügung gestellt hat (siehe hier). Der gesamte Gottesdienst, samt Aufführung und Predigt, die leicht vom veröffentlichten Text abweicht, kann auf YouTube nachgesehen- und gehört werden (siehe hier). Vielen Dank auch an Arnd Henze, der mich wiederum durch seinen „Londoner Post“ darauf aufmerksam machte. Die Nummerierung (7.1. ff.) ist von mir nachträglich in die Predigt eingefügt, um sie in den Gesamttext einzuordnen.

[9] Zu den beiden musikalisch wunderbaren Aufführung der Matthäuspassion (BWV 244), bei denen ich in diesem Jahr mitwirken durfte, sei gesagt, dass es dort in den Programmheften jeweils sehr eindrückliche Einführungstexte gab, die jetzt hier leider nicht eingehend gewürdigt werden können. Nur soviel: Beide Texte stammen von den Kantoren und Dirigenten der jeweiligen Chöre selbst – Ralf Popken in Lütjenburg (Schleswig-Holstein) und Jonathan Hiese in Hannover in der Neustädter Hof- und Stadtkirche. Zum meinem „Elefanten im Raum“ findet sich im Lütjenburger Text nichts, aber im Text von Jonathan Hiese im Programmheft zur Aufführung an Palmarum (13.4.2025). Die entsprechenden Sätze seien hier zitiert, weil sie am Ende eine eindrückliche existenzielle Aktualität der antijüdischen Hassinhalte für heute andeuten: „Die Berichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi wurden im Laufe der Zeit antisemitisch missbraucht und Bach wurde im „Dritten Reich“ als deutscher Nationalheld, an dem sich die Überlegenheit der Deutschen exemplarisch zeigen würde, vereinnahmt. In besonders abstoßender Weise wurde der Ausruf des Volkes „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ als Beleg dafür genommen, dass „die Juden“ ihr Unglück selbst vorausgesagt hätten. In Bachs Musik und auch in Picanders Texten ist indes keine antisemitische Deutung zu finden, vielmehr wird zu Empathie und Mitglied aufgerufen: Ihr Henker, haltet ein! / Erweichet euch / Der Seelen Schmerz / Der Anblick solchen Jammers nicht? Und kommt uns die Verantwortungslosigkeit gegenüber den zukünftigen Generationen, die aus dem Geifern des Mobs spricht, nicht erschreckend aktuell vor?“ 

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