Detailtiefe

Die Geschichte des Vaters

Die Sonnenblumen bei Isjum in der Ukraine standen in Blüte, als ihr Vater 1942 dort ankam. Als da 2022 die Russen abzogen, waren sie erntereif. Massengräber mit teils furchtbar Entstellten fand man danach. Beides lässt Francesca Melandri nicht kalt. Ihr Vater war Alpini-Offizier. Italienische Gebirgsjäger kämpften mit den Deutschen beim so genannten Russlandfeldzug, der vor allem Krieg in der Ukraine war, wie sie betont. Im Winter drauf folgte die schmähliche „Ritarata di Russia“, der Rückzug, von dem er oft erzählte, doch wie in Italien üblich ohne historische Einordnung: Dass sie mit jenen verbündet waren, die in Babyn Jar etwa, nicht so weit von Isjum, Zehntausende Juden ermordeten, bleibt ausgeblendet und auch, dass sie für das faschistische Italien da waren. Doch in ihrem posthumen Dia­log kommt es ihr darauf bloß nebenher an. Sie will erfahren, „was Krieg ist, Papa“.

Denn die 1964 geborene Schriftstellerin gehört zu jener Generation, die ihn nie kennenlernte und abseits vertrauter Friedensrhetorik, Appeasement-Floskeln und Nato-Schelte mit dem Krieg in der Ukraine kaum umzugehen weiß. Derart 1942 und 2022 zugleich in den Blick zu nehmen, scheint erst etwas hergeholt, erweist sich aber als instruktiver Ansatz. Gut recherchiert entfaltet sie ihn schlüssig und bildstark. Kalte Füße spielt erst mal auf die Ritarata-Erfrierungen an: Ihr Vater hatte Glück, viele andere nicht. Über die Wendung „kalte Füße bekommen“ für Drückebergerei greift sie dann auf das Heute aus. Schließlich habe ihr Land wie der ganze vorgeblich werteorientierte Westen nichts getan, die Filtrationslager, Folterkeller, Verschleppungen und Massaker wie in Butscha oder Mariupol zu verhindern, obwohl die Vergewaltigung genüsslich angekündigt war („Jetzt bist du dran, meine Schöne, ob du willst oder nicht“) – politisch fatale „Feigheit und Ehrlosigkeit“, findet sie, sieht sich und jeden im freien Westen dafür aber in der Verantwortung. Darum zeichnet ihr Buch nicht bloß die Geschichte ihres Vaters nach und ordnet sie historisch ein, sondern ist zugleich Kampfschrift für endlich entschiedeneres Handeln.

Dieses Plädoyer und familiäres Memoir verbindet die als Filmautorin ebenfalls Erfolgreiche überaus anregend, indem sie plausibel die historische wie politische Analyse mit Schlaglichtern aus den digitalen Echtzeit-Berichten des aktuellen imperialistischen Krieges montiert. Argumentativ sowie erzählerisch kohärent und umfassend informiert begeht sie dabei nie den Fehler platter irreführender Parallelisierungen. Im Gegenteil, sie stellt nebenher sogar noch geschichtlich markante Unterschiede heraus, zum Beispiel jenen, dass die Kolonialkriege der Deutschen (Landnahme im Osten) und der faschistischen Italiener (Abessinien) damit gerechtfertigt wurden, dort „Fremde“ zu versklaven – der russische Überfall auf die Ukrainer jedoch mit der Behauptung, jene seien doch von derselben Art wie sie. Sozusagen Feinheit der Imperialismus-Analyse!

Solide vertraut mit der ukrainischen wie der Globalgeschichte nimmt Francesca Melandri feature-artig Gedanken und Motive immer wieder auf, entwickelt sie weiter und packt fulminant die besserwisserische Gleichgültigkeit gerade jener aus ihrer eigenen Generation beim Barte, die sich nicht hinterm warmen Ofen der lebenslang ohne eignes Zutun genossenen Friedens-Epoche hervorbewegen wollen und dafür in der Konsequenz 40 Millionen Ukrainer, absehbar die Balten und Polen und zur Not auch die eigene Freiheit dem russischen Imperialismus preiszugeben bereit sind.

Ein Fanal mit tiefer Sympathie und Respekt für den Kampf der Ukrainer, das vehement für Demokratie und Individualismus eintritt. Es ist ein empörtes und unbequemes, jedoch sehr gut lesbares Buch mit frappanter Detailtiefe und Analyseschärfe, intellektuell stark und hoffentlich wirkungsvoll. Denn im Gulag werden allen die Füße eiskalt.

Einzelartikel kaufen

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

z(w)eitzeichen Abonnement

Sie erhalten Zugang zur Rubrik z(w)eitzeichen.

4,00 €

monatlich

Monatlich kündbar.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.
Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Weitere Beiträge zu „Gesellschaft“

Weitere Rezensionen