Unsterbliche Seele und anderes cooles Zeug

„Warum solltest du hundertmal etwas leise vor sich hinmurmeln, das du in einem dicken Buch auf deinem Nachttisch gelesen hast? Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“ Alexej Nawalny ist vor einem Jahr in einem sibirischen Lager ermordet worden. Für den russischen Präsidenten war er der Feind Nummer 1, weil er für Freiheit in seiner Heimat kämpfte. Eine Gedenkandacht erinnerte gestern Abend in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an Nawalnys Mut, seinen Humor und seinen Glauben.
Zunächst eine kleine Überraschung am Eingang: Es gibt an diesem Sonntagabend zwei Security-Männer vor den mächtigen Eisentüren der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz am Kurfürstendamm – aber eigentlich interessiert sie wenig, wer da nun ins Gotteshaus hineingeht. Überraschend ist das, weil hier mitten in Berlin des größten Kritikers des russischen Präsidenten Wladimir Putin gedacht wird, eines Machthabers, der erwiesenermaßen bereit ist, über Leichen zu gehen, um die loszuwerden, die er als Feinde ansieht. So geschehen vor einem Jahr, als Alexej Nawalny in einem sibirischen Straflager zu Tode gekommen ist. Er war Putins Feind Nummer 1, und wer da nicht von einem staatlich angeordneten Mord ausgeht, hat nichts von der Diktatur des russischen Präsidenten verstanden. Oder will sie nicht verstehen.
Nun also eine Gedenkfeier für den ermordeten Nawalny in der Gedächtniskirche, die ihre Schönheit vor allem innen zeigt, wenn Hunderte durchsichtig-blauer Kacheln der Außenwände eine so strahlende wie warme Stimmung verströmen. Es sind nicht viele Menschen gekommen, die des ermordeten Putin-Kritikers in einer Andacht gedenken wollen. Die Stuhlreihen sind ziemlich leer – aber wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass nur verhalten für diese Gedenkandacht geworben wurde und zumindest online unklar blieb, ob man sich nun dafür anmelden musste oder nicht (tatsächlich musste man sich nur anmelden für ein öffentliches Gespräch nach der Andacht in der Kirche, nämlich mit der Witwe von Alexej Nawalny, Julia Nawalnaja.
Eine Art Vermächtnis
Dass hier Nawalnys gedacht wird, ist auf einer Leinwand links des Altars zu erkennen. Dort sieht man ein Foto des Kremlkritikers in Schwarz-Weiß vor den in Russland seit Sowjetzeiten so typischen Plattenbauten. Er scheint skeptisch über die linke Schulter zu blicken, als ahne er, wohin ihn sein Weg eines Tages führen werde.
Nach einem kurzen Orgelvorspiel begrüßt die Pfarrerin der Gedächtniskirche, Kathrin Oxen, die Anwesenden mit einem Zitat aus Nawalnys posthum erschienen Buch „Patriot“. Es ist eine Art Vermächtnis des mutigen Mannes kurz vor seiner Ermordung: „Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann. Ich werde Schul- und Uniabschlussfeiern verpassen. Doktorhüte mit Quasten fliegen in die Luft, und ich bin nicht dabei. Alle Jahrestage werden ohne mich gefeiert. Ich werde meine Enkel nie sehen. Ich werde kein Gegenstand irgendwelcher Familienlegenden sein. Ich fehle auf allen Fotos.“

Blick in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche während der Gedenkfeier für Alexej Nawalny. Foto: Philipp Gessler
Nawalny war sich seiner Lage im Lager sehr bewusst, es war ihm klar, dass er entweder viele Jahre in Haft bleiben oder sogar darin sterben würde. Kathrin Oxen erinnert an diese Einsicht des Inhaftierten. Sie sagt: „Wir erinnern uns an seinen Tod im Straflager unter ungeklärten Umständen. Und an seine Haltung, seinen Mut, seinen Humor, an die Hoffnung, die er vielen Menschen gegeben hat. Weil wir eine gemeinsame Hoffnung teilen: Dass am Ende die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen werden.“
Die Versammelten singen das Lied „Sonne der Gerechtigkeit“, es folgt eine Lesung aus dem Buch des Propheten Jeremia, dem Gott seine Rettung trotz des Widerstands des ganzen Volkes und der Mächtigen zusichert. Die Lesung aus dem Evangelium ist die Bergpredigt Jesu, in der er verspricht: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“
Tatsächlich ist Nawalny im Laufe seiner vielen Jahre im Kampf gegen die Diktatur Putins ein frommer Mann geworden, dem gerade die Bergpredigt große Kraft gab. Oxen zitiert Nawalny aus seinem Buch „Patriot“: „Hier drin studiere ich die Bergpredigt, weil mir seit über einem Monat, ob ihr es glaubt oder nicht, keine anderen Bücher außer der Bibel erlaubt wurden. Die Bergpredigt ist ein Vergnügen, und ich beschloss, dass ich. wenn ich mich schon unablässig in einer Reihe stehen und eine Wand oder einen Zaun anstarrend wiederfand, sie ebenso gut auswendig lernen könnte.“
Mut und Glauben
So tat es Nawalny in Haft. Der christliche Glaube war ihm der Halt seiner letzten Monate unter den sehr harten, ja unmenschlichen Bedingungen des Lagers, wo er ermordet werden sollte. Immer wieder zitiert Oxen Nawalnys Buch „Patriot“, denn es sind Passagen, die für sich selber sprechen. „Aber bist du ein Anhänger der Religion, dessen Gründer sich für andere opferte und den Preis für ihre Sünden zahlte? Glaubst du ehrlich an die Unsterblichkeit der Seele und das ganze andere coole Zeug? Wenn du aufrichtig mit Ja antworten kannst, worüber muss dir dann noch Sorgen machen? Warum solltest du hundertmal etwas leise vor sich hin murmeln, das du in einem dicken Buch auf deinem Nachttisch gelesen hast? Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“
Pfarrerin Oxen muss in ihrer kurzen Predigt nur noch wenig sagen, die Zitate Nawalnys sagen schon alles. Sie zeugen vom Mut und vom Glauben des Kremlkritikers, dessen Tod sie als eine Selbstopferung für andere in der Nachfolge Jesu deutet: „Alexej Nawalny ist nicht Jesus, natürlich nicht. Doch sein Leben und Sterben zeigt, dass alle Unrecht haben, die sagen, das mit der Kreuzigung sei eine alte Geschichte und es gäbe so etwas gar nicht mehr. Es gibt die Passion in dieser Welt. Natürlich gibt es sie: Verfolgung durch die Mächtigen, Gefangenschaft und Folter, einen sinnlosen und grausamen Tod. Genau wie bei Jesus, wird in diesem Leiden die Willkür der Mächtigen deutlich, deren Handeln und Rat niemand billigen kann. Und die Ohnmacht der Opfer politischer Gewalt.“
Festhalten an der Hoffnung
Es ist schwierig, heute von Märtyrern zu sprechen, wenn ihr Tod so nahe ist und das Pathos dabei so leicht hohl werden kann. Dennoch deutet Kathrin Oxen dies an. Sie sagt in der Gedenkstunde an diesem Abend in der Gedächtniskirche unter dem großen hängenden Jesus, dessen ausgebreitete Arme seine Haltung am Kreuz oder das Segnen darstellen können: „Auch heute sind viele Menschen zu Alexej Nawalnys Grab in Moskau gekommen. Aber ein Haufen Blumen und Kerzen, das Kreuz und das Bild, das soll nicht das letzte sein, was von einem Menschen zu sehen ist. Wir sehen ein Grab, in das man einen Leib gelegt hat. Wir wissen, was lebendig bleibt, auch nach einem Tod. Und wir halten uns aneinander fest und an der Hoffnung, dass am Ende die Wahrheit siegen wird. Denn wir sorgen uns so darum, gerade jetzt, dass Wahrheit und Gerechtigkeit und Frieden untergehen könnten, einfach begraben werden unter Lüge, Unrecht und Gewalt.“ Und die Pfarrerin ergänzt: „Aber einer hat sich nicht für immer begraben lassen. Das war Jesus aus Nazareth. Und dem glaube ich das-selbe, wie Alexej Nawalny ihm glaubte: Das ganze coole Zeug von der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung. Und am meisten glaube ich ihm, dass wir uns nicht sorgen sollen. Sondern lieber hoffen, jeden Tag für den nächsten Tag.“
Die Gedenkstunde für Nawalny ist recht kurz, die meisten Anwesenden müssen nun gehen, weil sie für das öffentliche Gespräch mit seiner Witwe nicht angemeldet sind. Aber im Grunde ist ja auch alles gesagt, Nawalny selbst hat es gesagt, er hat es vor seinem Tod geschrieben. Vor der Kirche ist eine Menschenschlange zu sehen. Die meisten darin sprechen Russisch. Sie wollen gleich noch Julia Nawalnaja hören, die das Vermächtnis ihres mutigen Mannes für ein freies Russland in die Zukunft trägt. Was ist das für eine Welt, in der es für Russinnen und Russen mitten in Berlin Mut erfordert, eine solche Veranstaltung in Erinnerung an Alexej Nawalny zu besuchen?
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.