Hypothesentürme und ein Amulett

Über die Konstruktionen der Geschichtswissenschaft und deren Zerstörung

In Tübingen haben mich vor inzwischen vierzig Jahren neben allerlei anderen Personen vor allem zwei sehr unterschiedliche Menschen akademisch geprägt. Der eine von beiden hatte eine blühende Phantasie, stürzte sich mit großer Neugier auf jede Quelle und auch auf jeden Sekundärliteraturtitel und fragte sich immer: „Könnte es nicht so gewesen sein, wie man in der Quelle lesen kann?“. Die andere, eine der ersten beiden Professorinnen meines Faches, wiegte skeptisch ihren Kopf, schaute fast mitleidig auf den Kollegen und sagte dann immer: „Könnte es nicht ganz anders gewesen sein, als man in den Quellen lesen kann?“. 

Ein Beispiel zur Illustration: Über die Verfasser der vier im Neuen Testament kanonisch gewordenen Evangelien haben wir Informationen aus dem zweiten Jahrhundert – und meine akademische Lehrerin, die Kirchenhistorikerin Luise Abramowski, hielt das für pure Erfindungen einer Zeit, in der man über die eigentlichen Autoren nichts mehr wusste und doch eine Geschichte über sie erzählen wollte, während Martin Hengel, der neutestamentliche Lehrer, darüber grübelte, ob ein einziger Mann namens Johannes nicht vielleicht doch Evangelien, Briefe und die Apokalypse geschrieben habe und nicht drei verschiedene, wie viele seiner Kollegen annahmen. 

Martin Hengel, Portrait

Martin Hengel (1926-2009). Foto: Verlag Mohr-Siebeck

Portrait Luise Abramowski

Luise Abramowski (1928-2014). Foto: Christoph Markschies

Solche Fragen wie die nach den Verfassern der Evangelien stellt sich für die ersten Jahrhunderten der Geschichte des Christentums immer wieder, auch, weil wir so wenig Quellen haben und kaum Gegenüberlieferungen, um die Zuverlässigkeit der wenigen Quellen zu prüfen: Blühende Phantasie? Ein bloßes Gerücht? Durch Zufall erhaltene zutreffende Kunde aus grauer Vorzeit? Leider fehlen oft die Kriterien, um sich einigermaßen sicher zu entscheiden, weil auch genügend Informationen fehlen und ein Stück Information auf einem weiten Terrain des Nichtwissens liegt. 

Ein anderes schönes Beispiel betrifft das Heilige Land, also Israel und die Palästinensischen Gebiete. Kaiser Konstantin setzte im vierten Jahrhundert ziemlich viel Geld und Technik in Bewegung, um aus einem Felsen mitten in Jerusalem ein einzelnes Grab freizulegen und baute eine ziemlich große Basilika drum herum – die noch heute in veränderter Form bestehende Grabeskirche, die manche auch Auferstehungskirche nennen. Gab es in Jerusalem noch zuverlässige Ortstraditionen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und eine sichere Identifikation des Grabes ermöglichten, in dem Jesus zeitweilig nach seiner Hinrichtung lag? Oder war die Überlieferung irgendwann verloren gegangen und wurde schließlich neu gebildet? Und traf man dabei den richtigen Platz? 

Kontinuität oder Disruption

Beide Positionen, Kontinuität oder Disruption im Blick auf die Grabestradition, sind mit Verve in der Diskussion um den Ort vertreten worden. Es gibt sogar einen (neuzeitlichen) Alternativort in Jerusalem, das sogenannte Gartengrab. Meine beiden erwähnten Tübinger, die mich neben anderen prägten, interessierten sich nicht für das Heilige Land und die Archäologie des Lebens Jesu, aber ich bin sicher, dass sie auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade gestanden hätten: Hengel hätte sicher für die Authentizität der Traditionen des Grabes im Zentrum der Rotunde der Grabeskirche, Abramowski ebenso sicher dagegen

Und genauso sicher bin ich bis heute, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen beider ganz tief gegründet lagen in den Strukturen ihrer jeweiligen Persönlichkeiten. Ob jemand eher hyperkritisch oder leichtgläubig ist, mehr Vergnügen am Zerstören etablierter Forschungshypothesen hat oder gern neue Argumente für klassische Hypothesen sucht, das liegt an sehr grundlegenden Orientierungen, im Blick auf Fragen der Archäologie des Lebens Jesu sicher auch an individueller Frömmigkeit – Stoff für eine gelehrte psychologische Abhandlung, aber nicht für eine Kolumne.

Erst viele Jahre nachdem ich Tübingen verlassen hatte, wurde mir deutlich: Ganz so schematisch darf man natürlich nicht typisieren und auch im Blick auf meine Lehrerin und meinen Lehrer nicht. Luise Abramowski zertrümmerte nicht nur mit Lust Hypothesen anderer, sondern konstruierte auch geradezu waghalsig neue Hypothesen. In einer deutschen Übersetzung eines griechischen Textes strich sie bestimmte Passagen mit Bleistift an und wies sie mit der Sigle „R“ einem Redaktor zu (wie das damals beispielsweise in der alttestamentlichen Exegese üblich war). Aber da hätte es ja mindestens eines Blicks in den griechischen Urtext gebraucht, um die Lieblingsvokabeln eines möglichen Redaktors von einer Grundschicht zu unterscheiden. Und Martin Hengel suchte nicht nur nach immer neuen Argumenten für die Wahrheit einer Tradition, sondern kanzelte manche traditionelle Forschungsmeinungen rüde ab: „Unsinn!“, lies er sich dann schwäbisch gefärbt vernehmen. Die wirklich interessanten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennen beides: Die Lust, eine waghalsige Hypothese auszuprobieren und die Freude, Hypothesen anderer zu zertrümmern.

Optimale Mischung

Frühgeschichte des Christentums ist ein Feld, wo man mangels Quellen besonders gern Hypothesen konstruiert oder eben Hypothesen dekonstruiert. Vor einigen Jahren wurde in der Nähe der berühmten Ausgrabung von Megiddo in Nordisrael im Hof eines Gefängnisses eine christliche Kirchenanlage gefunden. Während die einen darin die früheste ergrabene Kirche der ganzen Region sehen wollten, blieben andere eher skeptisch. Und manche wandelten sich, nachdem ein erster Ausgrabungsbericht vorlag, von Skeptikern zu Enthusiasten und andere genau umgekehrt. Je älter ich werde, desto entspannter blicke ich auf die oft heftigen Auseinandersetzungen (auch Luise Abramowski und Martin Hengel diskutierten durchaus heftig), weil ich beide Seiten verstehen kann, zwei Seelen in meiner Brust fühle und mich um die optimale Mischung aus beiden Zugriffen auf schmale und problematische Überlieferungen bemühe.

Warum schreibe ich so ausführlich über zwei Menschen, die mich geprägt haben, und über die Frage der Hypothesen bei schmaler Überlieferung? Weil jüngst ein aufregender Fund genau diese Frage wieder hat bei mir aufkommen lassen. Auf den ersten Blick war der Fund allerdings noch gar nicht so aufregend. Im Jahre 2018 grub man vor der Errichtung eines Wohnhauses einen kaiserzeitlichen römischen Friedhof aus, der am Rand der einstigen römischen Stadt Nida auf dem Gebiet der heutigen Stadt Frankfurt/Main liegt. In einem der Gräber fand sich das Skelett eines ursprünglich in einem Holzsarkophag beigesetzten Mannes, der im Alter zwischen 35 und 45 Jahren gestorben war. Unterhalb des Kinns des Skeletts lag ein silbernes Amulett in Form einer länglichen Silber-Kapsel, das der Verstorbene vermutlich an einem inzwischen zerfallenen Band um den Hals getragen hat. 

Das silberne Amulett mit der Rolle

Das Amulett mit der Rolle. Foto: Archäologisches Museum Frankfurt / Uwe Dettmar

Solche Funde sind nicht ganz selten, richtig aufregend wurde es erst, als man im Archäologischen Museum Frankfurt in der Kapsel eine zusammengerollte, gefaltete und geknickte Silberfolie fand und bei Röntgenaufnahmen Spuren eines Textes feststellen konnte. Im Leibniz-Zentrum für Archäologie in Mainz wurde dann diese Folie, die mechanisch nicht mehr aufzurollen war, zunächst mit einer Computertomographie durchleuchtet, dann virtuell entrollt und schließlich das Ergebnis der Entrollung durch den provinzialrömischen Archäologen Markus Scholz in einen lesbaren (lateinischen) Text (mit griechischen Worten) überführt und übersetzt. 

Da die Handschrift überaus schwer zu lesen und ihr Inhalt daher auch für Kundige antiker Handschriften kaum zu identifizieren ist, diskutierte Scholz den Inhalt beispielsweise auch mit dem Bonner Kirchenhistoriker Wolfram Kinzig. Obwohl solche virtuellen Entrollungen unlesbarer, weil gefalteter oder verklumpter antiker Schriftträger inzwischen häufiger möglich sind (beispielsweise bei den verbrannten und karbonisierten Schriftrollen einer großen Bibliothek aus Herculaneum, die beim Vesuvausbruch 79 n.Chr. verschüttet wurde), stellen die virtuelle Entrollung der Silberfolie und ihre Lesung eine wissenschaftliche Großtat dar, für die man gar nicht genug dankbar sein kann. Verwunderlich ist die bloß hin gekrickelte Inschrift nur auf den ersten Blick – nicht immer konnten die, die solche Amulette produzierten, überhaupt selbst schreiben und kopierten nur mechanisch. 

Die Schrift auf der Rolle

Virtuelle Entrollung des gerollten und gefalteten Silberblechs. Foto: Leibniz-Zentrum für Archäologie

Außerdem war die gefaltete Inschrift ja nicht zum Auswickeln und Lesen für die bestimmt, die eine solche Amulett-Kapsel besessen haben. Die Dämonen sollten durch solche Texte bezwungen werden und die konnten natürlich nach antiker Vorstellung die machtvollen Worte der Silberfolie auch lesen, wenn sie nur gekrickelt waren. Denn man verwendete in solchen Amuletten Namen von Göttern und Engeln, machtvolle Worte (wie Zauberworte oder biblische Texte) und geheimnisvolle Zeichen. In Text der Silberfolie kommt beispielsweise der mit dem Kürzungszeichen und einen weiteren Strich auf ΙΗ ΧΡ abgekürzte Name Jesus Christus vor (von griechisch ΙΗΣΟΥΣ ΧΡΙΣΤΟΣ) und ich werde den Verdacht nicht ganz los, dass der Mensch, der den Text der Silberfolie konzipierte, das nicht nur für eine bloße Abkürzung des Namens hielt, wie er unter Christen üblich war, sondern für ein magisches Zeichen mit viel Kraft. 

Oft sind solche Amulette eine bunte religiöse Mischung nach dem Motto „Viel hilft viel“, phantasievolle hebräische Engelnamen, aber auch Namen aus anderen Kulten der Antike. Aber es gibt auch eindeutig jüdische, eindeutig christliche und eindeutig jüdisch-christliche Amulette. Im Fall des Amuletts aus der Frankfurter Grabung wird nicht nur Jesus Christus genannt, sondern auch ein Vers aus dem Philipperbrief zitiert, in dem Jesus Christus als der bezeichnet wird, vor dem sich „alle Knie beugen, die Himmlischen, die Irdischen und die Unterirdischen“ (Philipper 2,10). Ein solches Breitbandantibiotikum gegen alle Unfälle des Lebens von irdischen und außerirdischen Mächten kann Jesus Christus sein, weil unmittelbar vor dem Zitat im Brief des Paulus zu lesen ist, dass Gott ihm den „Namen … über alle Namen“ gegeben hat, also den Namen, der über alle wirkmächtigen Namen mächtig ist. Dazu wird auf der Silberfolie noch das dreimalige Heilig, Heilig, Heilig aus Jesaja 6 in griechischer Sprache zitiert,  laut jüdischer wie christlicher Texte der Zeit ein Wort der Engel aus dem Himmel und also auch sehr wirkmächtig, in Gebeten und Gebetsschlüssen verwendet.

Was hat aber nun dieser Text mit Hypothesen zu tun und der Frage, ob man ihnen glauben oder lieber skeptisch sein sollte? In der ersten Begeisterung über den tatsächlich aufregenden Akt der virtuellen Entrollung und Lesung haben einige Menschen – kaum zufällig aus Frankfurt – nicht nur von dem frühesten christlichen Zeugnis nördlich der Alpen gesprochen, sondern auch von dem frühesten Zeugnis von Christentum nördlich der Alpen und gar vom ersten Frankfurter Christen. Und exakt da beginnen die Hypothesen. Wusste der Mensch, der das Amulett trug, überhaupt, was drin stand? Oder hatte er es von einem Händler oder Zwischenhändler gekauft, der es selbst nicht wusste? Hatte es ihm jemand geschenkt und gesagt, worum es da genau ging? Oder trug er es als Schmuckstück mit magischer Wirkung, wie heute manche Jugendliche ein Kreuz oder einen Davidsstern? Frankfurt gab es ohnehin noch nicht, als die römische Stadt Nida lebte und sie ging unter, bevor Frankfurt erstmals im frühen Mittelalter erwähnt wird.

Magische Melange

Während ich schreibe, sehe ich die beiden Menschen, die mich in Tübingen geprägt haben, vor mir und höre sie förmlich miteinander streiten. Ich habe nämlich gemeinsam in einem Artikel mit dem Berliner Judaisten Peter Schäfer jüngst dafür votiert, dass wir über den Glauben des Menschen, der einstmals das silberne Amulett trug, praktisch nichts seriös wissen können (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/frankfurter-silberinschrift-der-erste-germanische-christ-110285260.html). Wir wissen höchstens etwas über die, die es (wo auch immer) entwarfen und biblische Worte aus Jesaja, dem Philipperbrief und den Namen Jesus Christus zu einer wirkungsvollen magischen Melange komponierten. 

Nun flattern die elektronischen Nachrichten mit Kritik an dieser unserer Position in unser beider Postfächer herein (kaum zufällig sind viele Frankfurter Absender dabei): Das sei doch in Wahrheit ein Bekenntnis eines Menschen zu seinem Christentum, denn warum sollte jemand nicht doch gelesen haben, was in seinem Amulett stand, das er sich um das Hals hängte? Vielleicht suchte der Mann ja etwas, was er als Zeichen seines christlichen Bekenntnisses immerzu bei sich tragen konnte? Und kaufte bewusst dieses Amulett beim Händler und keines mit heidnischen Worten? Einer schrieb mir sogar, es sei eine Unverschämtheit anzunehmen, dass jemand sich ein Kettchen um den Hals hänge und gar nicht wisse, was es bedeute. Eine Unverschämtheit gegenüber dem armen begrabenen Eigentümer. Ich war kurz davor, in der Antwort auf meine Mutter hinzuweisen, die gern ein Medaillon mit einer Azteken-Scheibe aus Mexiko um den Hals trug und eine ziemlich fromme Christin war. Und darauf, dass auch ein provinzialrömischer Archäologe lange brauchte, bevor er auf der Silberfolie einen einigermaßen sinnvollen Text rekonstruiert hatte. Man muss offenbar lange studieren, bevor man den Text überhaupt lesen kann. War der Begrabene mit seinem Amulett vielleicht Latein-Professor?

Wissenschaft markiert, wenn es gut geht, den Grad der Sicherheit von Wissen. Über den Träger des Amuletts im Grab wissen wir leider sehr wenig. Wir können ihn zu seinem Glauben leider nicht mehr befragen oder bei seinen Lebensgewohnheiten beobachten. Manche Menschen in der Antike wussten, was sie als Amulett oder Schmuck trugen, andere wussten es nicht. Manche spätantike christliche Prediger polemisierten dagegen, dass Kollegen Amulette trugen und nicht wussten, was darauf geschrieben und abgebildet war. Sicherheit gibt es hier nicht. Höchstens Hypothesentürme auf einem noch nicht einmal kritisch edierten Text. Manchmal finde ich die Hypothese vom ersten Christen im heutigen Hessen auf dem Gebiet der heutigen Stadt Frankfurt eine bezaubernde Annahme, aber manchmal auch eine ziemlich gewagte Hypothese, für die es so gut wie keinen Beleg gibt. Außer der Tatsache, dass es für viele eine schöne Hypothese ist.

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