
Die ehemalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken verlassen. Der Koblenzer Militärdekan Roger Mielke sieht dies als Indiz der galoppierenden Entfremdung zwischen den christlichen Kirchen und den Unionsparteien, die es wieder zu überwinden gelte.
Die Meldung, dass die frühere Verteidigungsministerin und ehemalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit heftigem Türenknallen das Zentralkomitee der deutschen Katholiken verlässt, überrascht nicht wirklich. Der Austritt, „im Zorn“, wie die FAZ am 5. Februar titelt, aus dem katholischen Laiengremium ist nur ein weiteres Indiz der galoppierenden Entfremdung zwischen den christlichen Kirchen und den Unionsparteien.
Anlass für den Schritt von AKK war die gemeinsame Stellungnahme des Katholischen Büros und der evangelischen Bevollmächtigten zum „Zustromsbegrenzungsgesetz“ vom 28. Januar und daran anschließende lautstarke Kritik am Vorgehen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Mit der in Kauf genommenen Zustimmung der AfD zur Entschließung des Bundestages und zum Gesetzesentwurf der Unionsfraktion sei das „Tor zur Hölle“ geöffnet, befand der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich in apokalyptischer Semantik. Stimmen aus den Kirchen und eben auch aus dem ZdK bewegten sich in ähnlicher Tonlage. Mancher Beobachter frohlockt, dass nun, endlich, die Allianz zwischen politischem Konservatismus und den Kirchen an ihr Ende komme – und damit, so darf man schlussfolgern, die Kirchen endlich befreit von der Last zur Rücksichtnahme auf CDU/CSU-Positionen künftig nun moralisch eindeutige Positionen einnehmen könnten.
Protestantismus und CDU/CSU
War nun das ZdK bis in die unmittelbare Gegenwart eine Bastion von CDU/CSU, so sind die Entfremdungsprozesse zwischen Protestantismus und den Unionsparteien schon länger im Gange. Auf der EKD-Synode 2013 in Düsseldorf kandidierte der CSU-Politiker Günther Beckstein, langjähriger bayrische Innenminister und Ministerpräsident, für das Amt des Synodenpräses – und wurde von der Synode in Aussprache und zwei Wahlgängen förmlich geschlachtet. Die Folge: Exponierte kirchliche Ämter für konservative Politikerinnen und Politiker sind im deutschen Protestantismus gegenwärtig kaum denkbar und umgekehrt würde sich auch kaum ein Mandatsträger von einigem politischen Gewicht dem Risiko aussetzen, so behandelt zu werden, wie es Beckstein geschah.
Der Verlust aber trifft beide Seiten. Die Kirchen brauchen die interne Debatte mit konservativen Positionen, um nicht in der Sackgasse bloßer normativer Wünschbarkeiten zu enden. Die Flucht in die Eindeutigkeit ist eine ständige Versuchung. Der deutsche Konservatismus wiederum ist bei allen Debatten um das „C“ doch historisch zu deutlich geprägt durch die Amalgamierung christlicher, sozialer und wirtschaftsliberaler Traditionsbestände, als dass er auf die christliche Prägung verzichten könnte, ohne sich selbst aufzugeben.
Kritik der großen Geste
Der Preis für die Kohabitation von Konservatismus und Kirche war immer eine Unschärfe – auf beiden Seiten. Programmatische Klarheit und moralische, aber ebenso theologische Eindeutigkeit passte dazu nicht, obwohl obwohl Konservative insgesamt, so scheint es, eine höhere Musikalität für das Eigengewicht religiöser Praxis mitbrachten als Liberale oder Linke. Bei aller Unterschiedlichkeit der Physiognomien aber kommen das fromme fränkische Luthertum eines Günther Beckstein, der Pietismus eines Peter Hahne und der mitunter ätzende Liberalismus eines Friedrich-Wilhelm Graf doch darin überein, dass sie gesellschaftlichen Großprojekten und Steuerungsphantasien a la „große Transformation“ mit tiefer Skepsis gegenüberstehen. „Kritik der großen Geste“ hat der Soziologe Armin Nassehi diese Grundhaltung in einem jüngst erschienenen Buch genannt.
Es gibt, so Nassehi, keine politische Gestaltung „aus einem Guss“. Immer muss die Vielstimmigkeit der Akteure gehört, ihre durchaus unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen müssen berücksichtigt werden, wenn es in der Politik darum geht, in zäher Beharrlichkeit und in mitunter kleinen Schritten Kompromisse auszuhandeln. Das ist im Kern ein konservatives Argument. Im Hintergrund steht ein angelsächsisches, gegenüber dem deutschen und gar dem französischen Konservatismus ideologisch erheblich abgerüstetes, Modell eines liberalen Konservatismus, wie es etwa der Brite Michael Oakeshott verkörperte. Oakeshott, einer der bedeutendsten politischen Philosophen der 20. Jahrhunderts, unterschied „politics of faith“, Politik im Sinne eines großen Plans, von der „politics of scepticism“, die vom Gegebenen ausgeht und es nur schrittweise weiterentwickelt.
Konflikte um Migration und Asyl
Es ist nun kein Zufall, dass die politischen Mobilisierungen und Konflikte, mindestens seit dem Jahr 2015, mehr noch als an der Klimapolitik an der Asyl- und Migrationspolitik aufbrechen. An keiner anderen Stelle gerät das optimistische Selbstbild eines weltoffenen, den Individualrechten verpflichteten Gemeinwesens so sehr in Spannung mit den begrenzten Gegebenheiten des Politischen und der politischen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger dieses Gemeinwesens. Die „politics of faith“ eines unbeschränkten Individualrechts auf Zuflucht und Zuwanderung bei weitgehend offenen Grenzen und die „politics of scepticism“, die damit rechnet, dass das Politische nur in umgrenzten Räumen funktioniert, liegen seitdem in einem mal mehr, mal weniger offenen Streit.
Die politischen Positionen der Kirchen laufen seit 2015 im Prinzip auf eine Politik der offenen Grenzen hinaus. Je weniger Verantwortliche aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft in Synoden und Leitungsgremien an kirchlichen Positionsbestimmungen beteiligt waren, desto mehr schwand das Verständnis für eine der Grundfragen politischer Ethik: die schwierige Abwägung des Rechts individueller Entscheidungen gegen die kollektiven Folgen dieser Entscheidungen. Die Not und das Leiden geflüchteter Menschen berühren und nehmen in Verantwortung – und trotzdem können die kollektiven Folgen genau dann untragbar werden, wenn in der Wahrnehmung von Bürgerinnen und Bürger die Integrität des Gemeinwesens als solche als bedroht erscheint. Die politischen Auseinandersetzungen machen genau diese Spannung sichtbar, die moralische Vereindeutigung löst die Spannung auf und macht sie unsichtbar. In der Haltung zum Krieg gegen die Ukraine und in der Frage der Friedensethik hat der deutsche Protestantismus sich der Spannung gestellt, für die Fragen von Asyl und Migration steht die Begegnung mit der Realität noch aus.
War dann aber nicht, so fragen wir weiter, Merz‘ Gang in den Bundestag auch eine, im Sinne Nassehis, „große Geste“, eine Suggestion, dass es „Politik aus einem Guss“ geben könne? Schaut man sich Entschließungsantrag und Gesetzesentwurf der CDU-Fraktion genauer an, fällt auf, dass es um ein Paket sehr unterschiedlicher und kleinteiliger Einzelmaßnahmen geht. Das meiste kursiert seit langem schon in der politischen Debatte und hat auch dem Bundestag schon zur Entscheidung vorgelegen. Die Stellungnahme der Prälaten geht genau auf dieses einzelne ein und kommt zu dem Schluss: weder geeignet noch erforderlich, um „Zustrom“ zu begrenzen. Was also: legislatives Kleinklein oder „große Geste“? Beides, und doch in politischer Bewertung mehr „große Geste“ als alles andere. Sinn und Zweck des Gesetzesentwurfs war, überhaupt „agency“ zu gewinnen, Handlungsmächtigkeit zu demonstrieren, angesichts von rechtlichen Bindungen, die politischen Handlungsspielräume gerade verstellen, wie die dysfunktionalen Regeln und Prozesse des EU-Asylrechts vor Augen führen. Gleichzeitig wissen wir, dass die politische Regression in den Populismus eine ihrer Wurzeln darin hat, dass Politik als handlungsunfähig vorgeführt wird. Gerade dies hat zu einem massiven Vertrauensverlust und einer Legitimationskrise demokratischer Politik überhaupt geführt.
Nutzen und Schaden
Im Kern geht es in der Beurteilung des Vorgehens von Merz um eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Überwiegt der angenommene Nutzen, der in der Demonstration der politischen Handlungsmacht liegt, den Schaden, dem aggressiven und radikalen Populismus der AfD eine Bühne zu bieten? Die Rechtspopulisten haben diese Bühne dann auch gerne und mit hämischer Schadenfreude genutzt. Die Verhältnismäßigkeit aber wird sich letztlich daran ausweisen müssen, ob es in der Bundestagswahl tatsächlich gelingt, Wählerinnen und Wähler der AfD zurückzuholen in die politische Mitte. Die grundsätzliche Legitimität aber dieses Versuchs sollte nicht bezweifelt werden. Und in genau diesem Sinne hat die „große Geste“ als originär politische Geste ihren Sinn und ihr Recht. Armin Nassehi selbst hat das allerdings − nicht konsistent in seiner Argumentation, wie ich meine − in einem Beitrag in der FAZ vom 5.2., bestritten und macht Merz den Vorwurf, er hätte den Raum politischer Kompromisse vorab nicht ausgeleuchtet und habe sich dem Politikstil der AfD – „Disruptionen und radikale Entweder-oder-Lösungen“ – angebiedert.
Bislang war der Staat des Grundgesetzes eher von einem konsensualen, nicht selten demobilisierenden Politikstil geprägt. Das politische Drama der vergangenen Woche war von anderem Kaliber. Das muss nicht schlecht sein, wenn es denn gelingt, zur gegebenen Zeit wieder in den Raum der Aushandlungen zurückzukehren. Die Kirchen haben bislang als zivilgesellschaftliche Resonanzräume des Politischen in diesen Aushandlungen eine, zwar abnehmende, aber doch bis in die Gegenwart nicht unwichtige Rolle gespielt. Auch mit Blick auf sie spricht der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio in seiner großen Untersuchung zu den gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen politischer Herrschaft (Herrschaft und Gesellschaft, Tübingen 2019) von dem vorpolitischen „kommunikativen Prägeraum“ des Politischen, in dem die Legitimität des Politischen vorformatiert und das Mögliche vom „Unmöglichen“ unterschieden wird.
Ein nachdenklicher Konservatismus
Die Kirchen werden gut daran tun, ihre wenigen verbliebenen Konservativen nicht zu verjagen, sondern in diesem Resonanzraum zu halten. Die Leistungen eines nachdenklichen Konservatismus bleiben essentiell für die Funktionsfähigkeit des Politischen und für den Auftrag der Kirchen: Pflege der spirituellen Ressourcen und der Praktiken existentieller Kommunikation, Einbettung in zivilgesellschaftliche Assoziationen und die in ihnen gegebenen geschichtlich geprägten Sprachen, Sinn für Ort und Zeit des Eigenen und des Anderen, Achtung vor der Ordnungsbedürftigkeit des Politischen, verbunden mit einem Sinn für die Leistungen und Grenzen von Institutionen – und nicht zuletzt mit einer Anthropologie, die sich der Grenzen des menschlich Möglichen bewusst bleibt.
Roger Mielke
Dr. Roger Mielke, geboren 1964, ist Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz und Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz und der Universität der Bundeswehr München. Der Theologe und Sozialwissenschaftler war von 1994-2012 Jahre Gemeindepfarrer am Mittelrhein, und von 2012-2018 Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD und Geschäftsführer der Kammer für Öffentliche Verantwortung.