MIT ERDWÄRTS GESUNGENEN MASTEN
fahren die Himmelwracks.
In dieses Holzlied
beißt du dich fest mit den Zähnen.
Du bist der liedfeste
Wimpel.
PAUL CELAN
Erdwärts ist eins meiner Lieblingsgedichte von Paul Celan. Vorab fängt es die Erdtrunkenheit der Astronauten und Kosmonauten ein und lenkt die Hoffnungen der heutigen Transhumanisten um.
You musk see! You musk read.
Diesem Gedicht Celans beigesellt sich jetzt ein im besten Sinne außerordentlicher Roman von Samantha Harvey: Umlaufbahn. Als Lesende sind wir mit an Bord auf einer Raumstation. Vier Männer und zwei Frauen, auf engstem Raum. Ein Himmelschiff mit Aussicht. Nature writing aus der Allperspektive. „Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten. (…) Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren, voller Geschichten und Begeisterung und Sehnsucht.“
Es ist ein Leben in Überfluss, denn die sechs an Bord „sehen sechzehn Sonnenaufgänge und sechzehn Sonnenuntergänge“ pro Tag. „(A)lle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens.“ Der Kopf im „Dauerjetlag“. Nachts „hängen (sie) wie Fledermäuse in ihren Quartieren“. Und alle wissen: „Ohne die Erde sind wir alle erledigt. Nicht eine Sekunde könnten wir ohne ihre Gnade überleben, wir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken.“
Wesen der Nacht
Ihre außerirdische Sicht verschafft neue Wahrnehmungsgewohnheiten: „Von der Raumstation aus betrachtet ist die Menschheit ein Wesen, das sich nur bei Nacht blicken lässt. Die Menschheit ist das Licht der Städte und die beleuchteten Glühfäden der Straße. Bei Tag ist sie verschwunden. Sie wird unsichtbar.“ Aber die Natur bleibt auch tagsüber in ihrer oft ungezügelten Macht sichtbar. „Sie, die Besatzung, sind Wahrsager“, denn sie sehen, wie sich Stürme aufgipfeln, wie sich ein Taifun zu angsteinflößender Größe ausbildet, größer als die irdischen Apparate vorhergesagt haben. Self fullfilling prophecy. „Sie sind Menschen mit einem göttlichen Ausblick, und das ist Segen und Fluch zugleich.“ Und doch: Das Wüten der ganzen Welt wird hier herabgestimmt: „Von hier oben hat die Erde nichts Wütendes an sich. Eher etwas Trotziges, Kraftvolles, Entschlossenes, als hätte sie eine kriegerische Miene aufgesetzt wie die Maori beim Haka: hervortretende Augen, heraushängende Zungen.“
Und: Die Reisenden machen eine Erfahrung durch. Sie lernen auf ihrer neunmonatigen Dauerrundreise sehen, wie die Politik eine Kraft ist, „so groß, dass sie jede einzelne Sache auf jener Erde, von der sie gedacht hatten, sie wäre immun gegen die Menschen, geformt hat. Jede wirbelnde rote oder neonfarbene Algenblüte im verschmutzten, sich erwärmenden, überfischten Atlantik ist zum Teil von der Politik und menschlichen Entscheidungen gefertigt.“ Die Himmelsreisenden sind gleichsam Augenzeugen des Anthropozän.
Gläubige Astronauten?
Nur selten finden sie in ihrem eng getakteten, durch Experimente und Dokumentationen (auch die Reisenden sind Laborratten) geprägten Alltag Zeit für Gespräche. Aber dann geht es um alles. „Manchmal möchte Nell Shaun fragen, wie er Astronaut sein und gleichzeitig an Gott glauben kann, den Gott aus der Schöpfungsgeschichte, doch sie weiß, wie seine Antwort lauten würde. Er würde fragen, wie sie Astronautin sein und nicht an Gott glauben kann. Sie würden auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Nell würde backbord und steuerbord aus den Fenstern zeigen, hinter denen die Dunkelheit grausam und endlos ist. Wo Sonnensysteme und Galaxien gewaltsam verstreut liegen. Wo das Blickfeld so tief und multidimensional ist, dass man die Verzerrung von Raum-Zeit beinahe sehen kann. Schau nur, würde sie sagen. Wer soll das alles dahingeschleudert haben, wenn nicht eine wundervolle, willenlose Gewalt. Und Shaun würde backbord und steuerbord aus den Fenstern zeigen, auf die grausame, endlose Dunkelheit dahinter, auf dieselben gewaltsam verstreuten Sonnensystem und Galaxien, auf dasselbe tiefe, multidimensionale Blickfeld, das von Raum-Zeit verzerrt wird und sagen: Wie soll das alles da hingekommen sein, wenn nicht durch einen wundervollen Willen? Ist das also der einzige Unterschied zwischen ihren Ansichten – ein wenig Wille? Ist Shauns Universum dasselbe wie ihres, nur dass es mit Sorgfalt geschaffen wurde und nach einem Plan? Ihre Welt eine Laune der Natur, seine ein Kunstwerk?“
Geschütz vor schlechten Nachrichten bleiben sie in ihrem „metallenen Albatros“, ihrem Save place freilich nicht. Chie, die Japanerin, muss die Nachricht vom Tode ihrer Mutter überirdisch verarbeiten. „Sie wird das Ritual des Knochensuchens bei der Beerdigung ihrer Mutter verpassen, bei dem sie die Asche mit Essstäbchen nach Knochenteilen durchsuchen, welche die Verbrennung überstanden haben. Das zu verpassen wird am schwersten zu ertragen sein.“ Und ein Kollege, Anton, entdeckt einen kirschgroßen Knoten am Hals, den er verschweigt, um die Mission nicht zu gefährden.
Russen und Amerikaner
Von großer poetischer Kraft künden die Naturbeschreibungen, die uns Lesende teilhaben lassen am Schauvergnügen: „Dann weicht die Nacht dem Tag. Über Venezuela erscheint die erste blendende Lichtspitze am Horizont, es ist die Sonne, wie sie wissen. Sie sticht in die Höhe und verschwindet wieder, sticht in die Höhe und verschwindet. Und dann wir die rechte Seite der Erdkrümmung zu einem schimmernden Krummsäbel. Silber ergießt sich, vertreibt die Sterne, und der dunkle Ozean wendet sich augenblicklich der Morgendämmerung zu. (…) Wo auch immer du dich bei Nacht über der Erde befindest, siehst du stets von irgendwoher das sanfte erratische Pulsieren von Licht. Eine elektrisch silbern-blaue Blume, die sich öffnet und schließt. Hier, dort drüben, da vorn. (…) Das Land gleitet hinweg wie ein seidener Unterrock.“ Die Autorin spricht von „Dankbarkeit“ und nimmt damit implizit Stellung zum Gespräch zwischen Nell und Shaun: Kann man für eine Laune der Natur dankbar sein? Wohl kaum.
Und sehr fein, gleichsam nebenher werden noch zwei Einsichten eingespielt: Im Weltraum können Russen und Amerikaner noch relativ ungezwungen miteinander umgehen, eine spielerische Leichtigkeit überwiegt. Das Problem zwischen Russen und Amerikaner ist: Die Amerikaner verwenden nicht genug Kondensmilch.
Das Anthropozän vor Augen, wird im Roman anhand einer als Talisman mitgegebenen Kunstpostkarte die Frage nach den Schuldigen am Zustand der Welt verhandelt: Las Meninas von Diego Velázquez. Das berühmte und vielbesprochene Gemälde, lange ein Forschungsfeld von Michel Foucault, ist ein Spiel mit eifersüchtigem und eitlen Blicken und Spiegelungen. Wie das Bild zu lesen ist? Neue Antwort: Der „Hund hat die Augen geschlossen. In einem Gemälde, in dem sich alles um Blicke und Sehen dreht, ist er das einzige Lebewesen in der abgebildeten Szene, das nirgendwo hinschaut, nicht und niemanden ansieht. (…) Und der Hund ist das Einzige auf dem Bild, was nicht lächerlich wirkt, gefangen in einem Netz aus Eitelkeiten. Das Einzige, was sich auch nur annäherungsweise als frei bezeichnen ließe.“
Eleganter kann man die Dezentrierung des Menschen nicht einfordern.
Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf, München 72024.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.