Gegen eine weitere Verzettelung

Was gesungen wird im Gottesdienst, sollte über Bildschirme zu lesen sein
Foto: privat

Nach 30 Jahren soll es ein neues Evangelisches Kirchengesangbuch geben, geplant seit vier Jahren. 2028 soll es fertig sein. Grund zur Freude!

Doch nun las ich in meiner Kirchenzeitung: „Das Nein erklingt über 9 000 Mal.“ Der Untertitel machte klar: „Neues Gesangbuch erfordert unliebsame Entscheidungen.“ Aber wer oder was erfordert ein neues Gesangbuch? Die Tatsache, dass das jetzige überholt ist? Was jetzt erarbeitet wird, wird noch schneller als in 30 Jahren überholt sein. Es werden bis 2028 noch mehr als 9 000 Nein erklingen.

Das Problem ist nicht neu, nur das Ausmaß. Um 200 vor Christus wurde der hebräische Kanon definiert. Bei manchen Schriften, die ausgeschlossen wurden, fiel das Nein schwer. Eine begrenzte Lösung war die Sammlung der Apokryphen, die auch jetzt noch in manchen Bibelausgaben als Anhang zu finden ist.

Einen Kanon von deutschen Kirchenliedern hat es vor 1945 nicht gegeben, nur unterschiedliche Gesangbücher, schließlich die einzelner Landeskirchen. Nach 1945 wurden viele Menschen in Deutschland herumgewirbelt. Plötzlich saßen im Gottesdienst Leute mit ihrem im Ort unbekannten Gesangbuch aus der Heimat. So war es nur logisch, einen Kanon der Kirchenlieder für alle Landeskirchen zu definieren.

In dem fehlten dann aber Lieder, die einzelne Landeskirchen für unverzichtbar ansahen. Die Lösung: Jede Landeskirche konnte einen eigenen Anhang definieren. Dieses erste gesamtdeutsche Gesangbuch war ein großer Wurf, das nach 1990 folgende zweite Gesangbuch auch. Dessen Anhänge enthielten nun nicht nur alte Lieder, die „gerettet“ wurden, sondern auch beliebte neue, die es nicht in den Kanon des neuen Gesangbuches geschafft hatten. Diese sehr sinnvolle Lösung mit den Anhängen war aber bald überholt von der Fülle neuer Gesänge in den Kirchen. Viele kleine Ergänzungsliederbücher kamen deshalb heraus. Anhänge und kleine Liederbücher reichen jetzt aber nicht mehr. Für viele Gottesdienste werden Liedzettel gedruckt, nach meinem Eindruck immer häufiger. Dieser Trend zeigt deutlich: Der bisherige Weg mit Kirchenliedern auf Papier wäre in Zukunft ein Weg in eine wörtlich zu nehmende „Verzettelung“. Die wird vermutlich immer teurer und unübersichtlicher. Denn ein Blick auf die letzten Jahrzehnte zeigt: Die Zahl der neuen christlichen Lieder wird immer größer – im Gegensatz zur Zahl der Kirchenmitglieder.

Diesen Seitenblick auf ein aktuelles Problem unserer Kirchen mache ich bewusst. Denn nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen sprechen neue Kirchenlieder oft gerade Menschen aller Generationen an, die sonst selten oder gar nicht Gottesdienste besuchen, auch manche, die aus ihrer Kirche ausgetreten sind. Ich bin nach Gottesdiensten häufig darauf angesprochen worden. Die neuen Lieder sind ein Schatz!

Und hier kommt die nächste, überraschende Verknüpfung: In einem evangelischen Gottesdienst in Dänemark waren die Lieder – jede Strophe mit Noten – und gemeinsame Texte auf einem Bildschirm zu sehen. So wurden mir als „Fremden“ viele Teile des Gottesdienstes nahegebracht. Nun soll es für das neue Gesangbuch auch digitale Angebote geben; also: „Papier normal, digital für Interessierte“. Ein besseres Ziel aber wäre genau umgekehrt: „Digital normal – Papier, wo nötig“. Denn würde das neue Gesangbuch rein digital erarbeitet, könnte daraus der Anfang einer neuen Singe-Kultur werden. Ist es doch sehr hilfreich für das Singen, wenn auf dem Bildschirm über jeder Strophe die Noten stehen. Und die Schwelle, einen Gottesdienst mitzufeiern, wird so für „Fremde“ sehr flach werden, vor allem mit dem Schatz „neue Lieder“.

Darüber hinaus wird Papier und Geld für Liedblätter gespart. Erspart werden uns auch die häufigen Liedansagen. Das Nötige bietet der Bildschirm.

„Digital“ kostet die Gemeinden Geld! Ja, aber sie sparen die Kosten für Auslegegesangbücher und jedes Jahr für Tausende Liedblätter. Praktische und rechtliche Hürden für digitale Angebote sind hoch. Aber bis 2028 könnten diese Hürden zunächst für die bisher vorgesehenen Lieder im neuen Gesangbuch geschafft werden. Dieses digitale Gesangbuch veraltet auch, viel schneller als in 30 Jahren. Aber es kann jederzeit relativ einfach durch ein Update ersetzt werden.

Unabhängig davon kann wie ein Anhang ein digitaler Pool alter und neuer Lieder aufgebaut werden. Der ist prinzipiell nicht begrenzt, sondern kann laufend erweitert werden. Zur Erinnerung: Die Wirkung der Reformatoren auf die „einfachen“ Menschen kam hauptsächlich nicht durch ihre Schriften, sondern durch Kirchenlieder in deutscher Sprache.

Das feierten wir 2024, 500 Jahre später. Vielleicht feiern unsere Urenkel in 25 Jahren, dass in unserer Zeit der Anlauf zu einer digitalen Singe-Kultur den Schatz des christlichen Erbes erstaunlich wiederbelebt hat. Darum suche ich Mitstreiter für ein Gesangbuch, das nicht weiter zur Verzettelung führt, sondern zu „Digital normal – Papier, wo nötig“.

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