Im Interesse der Benachteiligten
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) feiert Geburtstag. Bescheiden – gemessen an ihrer Bedeutung vielleicht ein bisschen zu bescheiden –, mit einem Festakt am Ort ihrer Gründung in der Oranienburger Straße in Berlin, wo die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege am 22. Dezember 1924 aus der Taufe gehoben wurde. Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch beschreibt ihre wichtige Rolle in der Geschichte und Gegenwart.
Die Freie Wohlfahrtspflege: Eine Säule des deutschen Sozialstaats wird 100. Vor Ort war und ist sie für die Menschen da, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Rund zwei Millionen Menschen sind hauptamtlich in den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände beschäftigt; rund drei Millionen engagieren sich ehrenamtlich für andere und für den sozialen Zusammenhalt. Ihnen allen gebühren die Blumen und der Dank zu diesem runden Geburtstag.
Leistungsfähig und innovativ, kompetent und engagiert. Verankert im Prinzip der Subsidiarität organisiert sie Hilfe zur Selbsthilfe, stärkt Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Sie gibt denen eine Stimme, die nicht allein für ihre Interessen eintreten können, und erinnert, wo nötig, den Staat an seine sozialpolitische Verantwortung. Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein Erfolgsmodell und aus dem gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik nicht wegzudenken.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesministerin Lisa Paus haben sich zum Gratulieren angesagt. Mit ihrem Kommen würdigen sie die prägende gesellschaftliche und politische Bedeutung, die die Freie Wohlfahrtspflege für die historische Entwicklung des deutschen Sozialstaates bis in die Gegenwart hinein hat. In der BAGFW kooperieren die Spitzenverbände: die Diakonie Deutschland, der Deutsche Caritasverband, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Arbeiterwohlfahrt. Sie alle wissen die konstruktiv-kritische Zusammenarbeit mit der Politik zu schätzen – nicht zum Selbstzweck, sondern im Interesse der benachteiligten Menschen in unserem Land.
Pluralität als Stärke
Die Gründung der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege war im Jahr 1924 ein Meilenstein in der Entwicklung des Sozialstaates in Deutschland, mit seiner spezifischen, engen Kooperation von öffentlicher und privater Fürsorge. Motor dieser Entwicklung waren tiefgreifende soziale Umbrüche und Krisen, auf die Staat und Gesellschaft, engagierte Einzelpersönlichkeiten und zivilgesellschaftliche Organisationen Antworten gesucht und gefunden haben.
Seine Anfänge hatte dieser Prozess in den gesellschaftlichen Verwerfungen der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“, mit diesem zentralen Satz erinnert Johann Hinrich Wichern seine evangelische Kirche 1848 an ihren diakonischen Auftrag. Erfolgreich. Der „Centralausschuss für Diakonie“ wird gegründet, die Geburtsstunde der „Inneren Mission“, dem Vorläufer der Diakonie. Auf katholischer Seite entstehen zahlreiche soziale Organisationen. 1897 gründet Lorenz Werthmann den zentralen Caritasverband. Auch aus anderen religiösen und weltanschaulichen Motiven heraus entwickeln sich Initiativen privater sozialer Fürsorge, eine Pluralität, die bis heute zu den großen Stärken der Freien Wohlfahrtspflege zählt.
Der Erste Weltkrieg bedeutet die nächste epochale Veränderung, auch in der Sozialpolitik und im Fürsorgewesen. Um die notleidende Bevölkerung, den von Armut bedrohten Mittelstand und kriegsversehrte Soldaten zu versorgen, werden staatliche Leistungen, die sogenannte Kriegsfürsorge, ausgeweitet. Sind öffentliche Fürsorgeleistungen bis dahin im Wesentlichen kommunal organisiert, tritt nun das Reich als zentraler sozialpolitischer Akteur auf. Im Verhältnis von öffentlicher und privater Fürsorge bilden sich Ansätze des Zusammenwirkens heraus, einschließlich der systematischen öffentlichen Finanzierung der durch Wohlfahrtsorganisationen wahrgenommen staatlichen Aufgaben.
Als Gegenüber des Staates
Das Ende des Ersten Weltkrieges bringt das Kaiserreich zum Einsturz, und damit seine alte, überkommene politische und soziale Ordnung. Die Weimarer Verfassung begründet einen sozialen und demokratischen Staat. Die junge Republik sieht sich jedoch politischen Feinden aus unterschiedlichen Lagern gegenüber. Breite Schichten der Bevölkerung sind durch Krieg und Inflation verarmt, der soziale und politische Sprengstoff gefährdet die Demokratie.
Unter diesen instabilen, krisenhaften Bedingungen wird die Sozialverantwortung des Staates ausgebaut und die staatliche Fürsorge weiter zentralisiert. Das korporatistische Verhältnis von privater und öffentlicher Fürsorge wird zum Markenkern des Weimarer Wohlfahrtsstaates. Das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz – als eines der ersten Fürsorgegesetze – gewinnt seine Bedeutung insbesondere durch die darin festgeschriebenen Aufgaben und Mitwirkungsrechte der freien Wohlfahrtsverbände, von den kommunalen Jugend- und Wohlfahrtsämtern bis auf die Reichsebene. Unter maßgeblichem Einfluss des Reichsarbeitsministeriums (RAM) wird 1924 die Fürsorgegesetzgebung, die Kooperation von staatlichen, kommunalen und privaten Akteuren, insgesamt neu geregelt. In der Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV) findet das Subsidiaritätsprinzip seinen Niederschlag. Die RFV räumt faktisch der privaten Fürsorge der freien Wohlfahrtspflege einen Vorrang gegenüber den staatlichen Trägern ein.
Parallel organisieren sich die Verbände als Gegenüber des Staates, als Ansprechpartner der Politik und als diejenigen Organisationen, die das Subsidiaritätsprinzip vor Ort mit ihren Diensten und Einrichtungen mit Leben füllen. Eine reichsweite, verbandliche Organisation findet sich Anfang des 20. Jahrhunderts nur bei den konfessionellen Verbänden. Innere Mission und Caritas hatten bereits vor dem Krieg Spitzenverbände entwickelt. Der jüdische Wohlfahrtsverband war 1917, noch im Krieg, entstanden. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) konstituierte sich 1921 als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege. Im April 1924 gründete sich der Vorläufer des heutigen Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV).
Immer wieder bewährt
Die Spitzenverbände waren sich grundsätzliche einig über die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung und einer starken Stimme in der Interessenvertretung gegenüber dem zentralisierten Wohlfahrtsstaat. Das DRK hielt sich bei den Gründungsverhandlungen zurück und trat erst 1926 der Liga der freien Wohlfahrtspflege bei. Gegenüber der 1919 gegründeten Arbeiterwohlfahrt (AWO) bestanden erhebliche Vorbehalte der bürgerlich-konservativen Verbände. So gründeten 1924, zwei Tage vor Weihnachten, zunächst vier Spitzenverbände die Liga. Allerdings wurden DRK und AWO später regelmäßig zu Sitzungen über sie mit betreffende Angelegenheiten eingeladen. Die konfessionellen Verbände bestimmten das Geschehen und machten auch die Führungspositionen im Dachverband unter sich aus: Präsident der Liga wurde der bayerische Politiker und Caritas-Vorstandsmitglied Hugo Graf von Lerchenfeld, sodass die Innere Mission den einflussreichen Posten des Geschäftsführers mit dem württembergischen Pastor Gotthilf Vöhringer besetzen konnte.
Zehn Jahre später besiegelt die Machtübernahme durch die NSDAP das Ende der Weimarer Republik und auch das Ende der Liga der Freien Wohlfahrtspflege. Die Verbände halten dem Zugriff des totalitären Staates nicht stand, werden verboten oder gleichgeschaltet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gelingt es mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik und ab 1990 für das wiedervereinigte Deutschland, an die sozialstaatliche Verfassung von Weimar anzuknüpfen.
Seither hat sich die Arbeit der freien, gemeinnützigen Wohlfahrtspflege in gesellschaftlichen Umbrüchen, aber auch in den persönlichen, individuellen Krisen hilfebedürftiger Menschen immer wieder bewährt. Der Erfolg dieser Arbeit hängt von vielem ab, von der Finanzierung natürlich, von rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Vor allem ist er aber im Wesen der Freien Wohlfahrtspflege selbst begründet.
Zwischen Markt und Staat
Die gemeinnützigen Träger erbringen ihre Leistungen im Sozial- und Gesundheitswesen weder im Auftrag des Staates noch mit dem Ziel privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung. Zwischen Markt und Staat schaffen sie auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips einen wertvollen, demokratischen Freiraum. Sie füllen diesen Freiraum zum einen mit ihrem professionellen, fachlichen Engagement. Sie entwickeln soziale Angebote und finden individuelle und strukturelle Lösungen für neue Probleme. Sie beraten, begleiten und unterstützen Menschen, füllen das Sozialstaatsversprechen mit Leben und stärken das Vertrauen in eine solidarische Gesellschaft.
Zum anderen bietet dieser Freiraum Orte, an denen Menschen sich freiwillig engagieren können, demokratische Praxis einüben und Selbstwirksamkeit erleben. Die Studie „Demokratische Integration in Deutschland“ des Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung kommt 2023 zu dem Ergebnis, das freiwilliges Engagement einer der wesentlichen Bausteine für eine resiliente Demokratie ist und bleibt. Und zugleich zeigt die Leipziger Autoritarismus-Studie 2024, dass die Akzeptanz der Demokratie als Idee zwar nach wie vor hoch ist - 90 Prozent der Befragten stimmen ihr zu -, dass jedoch die Unterstützung für die „gelebte Demokratie“ nur noch bei 42,3 Prozent der Befragten liegt. Ihre Akzeptanz hat rapide abgenommen.
Der Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, auch in die Geschichte der Freien Wohlfahrtspflege, zeigt, wie schnell und umfassend Freiheitsrechte beschnitten und die Demokratie ausgehöhlt werden können, wie verletzlich die Menschenwürde ist. Die Freie Wohlfahrtspflege, die BAGFW und ihre Mitglieder arbeiten für den Schutz der Menschenwürde, für soziale Gerechtigkeit und den sozialen Frieden. Angesichts der aktuellen Gefährdung des sozialen Zusammenhalts und der Demokratie ist diese Arbeit so wichtig, wie vor 100 Jahren.
Rüdiger Schuch
Pfarrer Rüdiger Schuch ist Präsident der Diakonie Deutschland in Berlin und Herausgeber von zeitzeichen.