Kirche – Macht– Reform?
In zehn Tagen beginnt die verbundene Synodaltagung der EKD in Würzburg mit dem Schwerpunktthema „Flucht, Migration und Menschenrechte“. Im Vorfeld dieses Ereignisses und im Blick auf ein mögliches kommendes Schwerpunktthema analysieren die drei Autor:innen, allesamt Mitglieder der 13. Synode der EKD, in ihrem Text das Thema „Kirche und Macht“.
Wir leben in Zeiten, in denen vielerorts die Machtfrage gestellt wird. Das ist, sofern dies in konstruktiver, gemeinwohlorientierter Absicht geschieht, eine gute Sache für das soziale Zusammenleben und für Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Wichtige Fragen werden dabei adressiert: Wer entscheidet in jeweiligen sozialen Zusammenhängen was? Aufgrund welcher Kompetenzen? Aber auch aufgrund welcher Machtbefugnisse und Privilegien? Was sind die strukturellen Bedingungen etablierter gesellschaftlicher Regulations- und Formationspraktiken, für Inklusion und Exklusion? Wer diesen Fragen selbstkritisch nachgeht, verlässt notgedrungen die eigene Komfortzone. Dabei ist Kritik – als Praxis der Sichtung und Beurteilung – einfacher, wenn sie sich auf transparente Machtstrukturen beziehen kann. Deutlich schwieriger wird es, wenn Macht verdeckt ausgeübt und/oder (bewusst oder unbewusst) verschwiegen wird.
Was aber ist Macht? Der Begriff ist mehrdeutig, weil Macht als alltagsweltliches Phänomen in unterschiedlichen und disparaten Formen auftritt. Wesentlich an Macht ist, dass sie etwas hervorbringen kann. Drei Dinge sind dabei wichtig. Zum einen: ‚Macht‘ ist ein Beziehungsbegriff. Sie entsteht zwischenmenschlich aus Handeln und bleibt an Handeln gebunden. Darauf hat nicht zuletzt Hannah Arendt hingewiesen: „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ (Arendt 2019, 45.) Zum Zweiten: Macht als Dimension von Beziehungen ist zunächst per se weder gut noch schlecht. Man braucht sie zur Gestaltung von Welt. Drittens: Machtverhältnisse schlagen sich auch in symbolischen Ordnungen nieder (vgl. etwa Foucault 1978). Als solche sind sie auf Reaktualisierung angewiesen, um wirksam zu bleiben. Insgesamt gilt: Eine kritische Revision von Macht und Machtverhältnissen hat da anzusetzen, wo Macht missbraucht und zum Schaden anderer Gewalt eingesetzt wird.
Die Kritik von Machtverhältnissen hat gesellschaftliche Relevanz. In einer Zeit, in der es wieder wichtig ist, dass sich zivilgesellschaftliche Kräfte gegen Autoritarismus formieren, sind starke Institutionen wichtig (vgl. dazu auch SDG 16 der UN): Sie tragen ihren Teil zur Förderung friedlicher, inklusiver und demokratischer Gesellschaften bei. Diesen Effekt können sie aber jenseits eines reinen Postulats nur haben, wenn sie als intermediäre Institutionen selbst ‚demokratisch‘ verfasst und in ihren Praktiken inklusiv sind.
Kritischer Blick erforderlich
Für die Evangelische Kirche ist die weithin artikulierte Selbstwahrnehmung einer partizipativen und hierarchiearmen Organisationsform spätestens mit der Publikation der Ergebnisse der Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland (kurz: ForuM-Studie) ins Wanken geraten. In der Studie heißt es: „(Selbst-)Beschreibungen der evangelischen Kirche als grundlegend partizipativ, hierarchiearm und progressiv können kritisch im Hinblick auf eine fehlende Reflexion von bestehenden Machtverhältnissen betrachtet werden“ (Wazlawik u.a. 2024, 4). Detlef Pollack hat mittlerweile auf mögliche methodische Probleme der Studie hingewiesen. Diese ändern jedoch nichts am faktischen Vorkommen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der Evangelischen Kirche. Um es schlicht zu sagen: Jeder Fall sexualisierter Gewalt ist ein Fall zu viel und völlig intolerabel. Die ForuM-Studie benennt dabei mit dem Hinweis auf den Ausfall der Reflexion von Machtverhältnissen ein grundsätzliches Problem der Evangelischen Kirche: Macht wird in protestantischen kirchlichen Strukturen oft verdeckt ausgeübt. Ob Kirche wirklich hierarchiearm und partizipativ ist, das bedarf explizit einer kritischen Revision. Die 4. Tagung der 13. Synode der EKD in Ulm 2023, an die sich der Rücktritt der Ratsvorsitzenden Annette Kurschus anschloss, stellte auf eigene Weise an alle Beteiligten in den unterschiedlichen Leitungsorganen die Frage, wo die Agency sitzt, und welche Kräfte und Dynamiken aus welchen Gründen vor und während der Synodaltagung sowie in ihrem Nachgang zur Durchsetzung kamen.
Nach ‚vorne‘ gewendet: Damit Kirche transformativ, zukunftsfähig und nachhaltig demokratiefördernd in gesellschaftlichen Zusammenhängen agieren kann, ist eine Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Macht auf allen Ebenen, insbesondere aber in der Praxis eigenen kirchlichen Leitungshandelns, wichtig. Dafür braucht es eine gemeinsame, partizipative Anstrengung aller, denen an einer menschenfreundlichen Kirche liegt, und die gleichzeitig um die organisational notwendige – transparente und damit befragbare – Delegation von Machtbefugnissen wissen und diese Delegation auch mit entsprechendem Vertrauen zu unterlegen bereit sind. Auch das macht starke Institutionen aus. Um eine solche Stärkung zu befördern, wäre es notwendig, etablierte formelle wie informelle Machtstrukturen tatsächlich zu hinterfragen und zu transformieren – auch wenn dies mit einem schmerzhaften Veränderungsprozess in Gestalt von ‚Machtumbau‘ oder auch Machtaufgabe verbunden wäre.
Dies entspräche dem Weg zu einer „machttransparenten Kirche“ (Klessmann 2023, 259) und würde der Verantwortung gerecht werden, die protestantische Akteur:innen auf allen Ebenen kirchlichen Handelns wie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu übernehmen gewillt sind. Welchen organisationalen wie theologischen Herausforderungen muss sich Kirche in machtkritischer Absicht also stellen, um sich unter glaubwürdigem Bezug auf christliche Menschen-, Welt- und Gottesbilder im demokratischen Gefüge der Gesellschaft für soziale Gerechtigkeit und den Schutz von Menschen einsetzen zu können?
Selbstverständliches kritisch sichten
Wenn wir beginnen, über soziale Praktiken der Gestaltung von Macht nachzudenken, braucht es sinnvolle Verfahren. Der erste Schritt wäre eine ernsthafte synodale Befassung mit dem Thema ‚Kirche und Macht‘. Immerhin ist die EKD-Synode das oberste legislative Organ der EKD. Es interessieren dann mit Blick auf die Organisation und ihre Praktiken „inhärente Normen“, auch und gerade da, „wo diese nicht artikuliert sind“ (Jaeggi 2015, 92). Wichtig wäre, nicht dogmatische Vorstellungen auf die Sichtung sozialer Praktiken anzuwenden, sondern die Praktiken „aus dem ‚Bewegungsmuster der Wirklichkeit‘ selbst“ (91) zu bemessen. Eine solche ‚immanente‘ Kritik ist immer auch Teil von Ideologiekritik. Als ‚ideologisch‘ sind Wirklichkeitsbeschreibungen und soziale Praktiken zu beschreiben, die ungerechte soziale Beziehungen schaffen oder stabilisieren (vgl. Haslanger 2022). Allen Gesellschaften sind Ideologien inhärent. Umso wichtiger ist es, scheinbar Selbstverständliches kritisch zu sichten, verborgene Annahmen, Machtstrukturen, ideologische Rahmenbedingungen in sozialen Kontexten und Praktiken der Machtausübung zu hinterfragen und zu analysieren. Ideologiekritik hat also ein höchst konstruktives Potenzial. Sie kann durch einen reflexiven Prozess der Selbstkritik und des Dialogs realisiert werden. Dabei ist Ideologiekritik – im Sinne der immanenten Kritik – kein Unterfangen im Elfenbeinturm, sondern ein kollaborativer und partizipativer Prozess, der die verschiedenen an den jeweiligen Praktiken teilnehmenden (oder ausgeschlossenen) Akteur:innen einbezieht, um angemessene Verfahren zu entwickeln. Diese Form der Kritik weiß also nichts besser als die Teilnehmer:innen einer Praxis. Vielmehr setzt sie in der Analyse der sozialen Praktiken und der Frage an, welche Normen die sozialen Praktiken leiten und konstituieren – und warum Praktiken diesen Normen nicht entsprechen. Ideologiekritik fragt weiter, welche Praktiken dann besser geeignet wären, um den eigenen Ansprüchen gerechter zu werden
Was bedeutet das konkret? Im kirchlichen Kontext lässt sich diese Differenz von konventionalisierter Norm und diese unterlaufende Praktiken im Modus intransparenter Machtausübung an unterschiedlichen Stellen greifen. Als anschauliches Beispiel dafür kann die familiale Semantik in kirchlichen Zusammenhängen dienen: Sie ist scheinbar legitimiert durch den biblischen Gebrauch der Geschwisteranrede für Gemeindemitglieder und vermittelt die Anmutung, dass unter dem ‚Vater im Himmel‘, der die Macht hat, alle gleich seien. ‚Familie‘ suggeriert eine liebevolle Nähebeziehung. Allerdings war das Geschwisterverhältnis in biblischen Zeiten nicht egalitär, und ‚Familie‘ selbstredend patriarchal strukturiert (vgl. Gerber 2015). Indem die familiale Semantik und die Idee der Geschwisterlichkeit mit der Anrede ‚Bruder‘ oder ‚Schwester‘ Hierarchiearmut sowie auch die Idee des gemeinschaftlich gelebten ‚Priestertum aller Glaubenden‘ insinuieren, bleiben faktisch bestehende und genutzte Machtverhältnisse unreflektiert beziehungsweise in der Phänomendiffusion schwer adressierbar.
Machttransparent werden
„Die feierliche Anrede ‚liebe Brüder‘ eignet sich schlecht als Dekoration“, hatte Wilhelm Stählin, der Gründer der Michaelsbruderschaft, schon 1940 erkannt (Stählin 2010, 28). Vielmehr müsse sie unterfüttert sein von einem Verständnis von Geschwisterlichkeit, das nicht einer vermeintlichen Gleichmacherei das Wort rede, sondern Gemeinschaft als Gemeinschaft der „Verschiedenen und Getrennten“ (Stählin 2010, 39) sichtbar hält. Wer aber, um bei diesem Beispiel zu bleiben, unter der Bedingung der Differenz von ‚Geschwistern‘ spricht und diese Differenz auch machtsensibel expliziert, rechnet dezidiert mit den inhärenten Machtverhältnissen, die nun einmal zwischen „Verschiedenen und Getrennten“ bestehen. Das ist die Voraussetzung, um andere nicht zu vereinnahmen, gar zu überwältigen, sondern auf ehrliche Weise anlassbezogen für Kooperationen untereinander zu werben. Das so unscheinbar wirkende Beispiel der Geschwisterrhetorik macht deutlich: Die Ideologiekritik einer gewollt machttransparenten Kirche führt zum Kern kirchlicher Selbstverständnisse: zu ihren Narrativen, Normen und sozialen Praktiken – und am Beispiel der Geschwisterlichkeit im Kern zu Praktiken von Credo und Communio. Dabei ist zu vermuten, dass in dem Maß, in dem die Rede von ‚Geschwistern‘ den Charakter einer Dekoration verliert, der Grad der Machttransparenz steigt.
Problematische Machtstrukturen können nur reformiert werden, wenn sie benennbar sind und benannt werden. Von welchen Prinzipien des Miteinanders will sich Kirche handlungsleitend bestimmen lassen, und in welchen konkreten Praktiken und Strukturen schlägt sich dies konkret nieder? Eine kritische Revision von Machstrukturen, ja, ein Abgleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit sozialen Miteinanders ist kein Selbstzweck: Er ist vielmehr Mittel einer Kirche, die Missbrauch vorbeugen, den Menschen dienen und glaubwürdig ihren Beitrag zu einem gerechteren, demokratischen Miteinander leisten will. Dies ist uns allen eine bleibende Aufgabe.
Literatur
Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 272019 [1970].
Forschungsverbund ForuM (Hg.), Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. Abschlussbericht, Hannover u.a. 2024. https://www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/02/Abschlussbericht_ForuM_21-02-2024.pdf
Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit., Berlin 1978.
Christine Gerber, Nicht nur „Vater-Mutter-Kind“. Familien in der Welt des Neuen Testaments, in: Bibel und Kirche 70 (2015), 198–203.
Sally Haslanger, Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik, Berlin 2022.
Rahel Jaeggi, Das Ende der Besserwisser. Eine Verteidigung der Kritik in elf Schritten, in: Kursbuch 182, Hamburg 2015, 78–96.
Michael Klessmann, Verschwiegene Macht. Figurationen von Macht und Ohnmacht in der Kirche, Göttingen 2023.
Martin Wazlawik, Thomas Großbölting, Fabian Kessl, Friederike Lorenz-Sinai, Helga Dill, Peter Caspari, Safiye Tozdan, Peer Briken, Harald Dreßing, Andreas Hoell und Dieter Dölling, Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung, Hannover u.a. 2024. https://www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/01/Zusammenfassung_ForuM.pdf
Wilhelm Stählin, Bruderschaft. Mit einem Vorwort von Frank Lilie und einer Einleitung von Peter Zimmerling, Leipzig 2010 [1940].
Kristin Merle
Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zu Fragen der politischen Dimension des Religiösen, insbesondere zum Verhältnis von Religion und Rechtspopulismus/-extremismus. Kristin Merle ist Mitglied der Landessynode der Ev.-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und der 13. Synode der EKD.
Nicole Grochowina
PD Dr. Nicole Grochowina ist Ordensschwester in der evangelischen Communität Christusbruderschaft Selbitz und Historikerin am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg. Sie ist Mitglied der Landessynode der Ev.-Lutherischen Kirche in Bayern und der 13. Synode der EKD.
Philipp Rhein
Philipp Rhein arbeitet als Engagementbeauftragter im Bezirksamt von Berlin-Neukölln. Er ist Mitglied der Landessynode der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Mitglied der 13. Synode der EKD.