Faszinierend

Geschichte einer Freundschaft

Elf Jahre lang war der Schriftsteller und Maler Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) Palästinenser – bis sein Ausweisdokument mit Gründung des Staates Israel 1948 nicht mehr galt. Seit 1925 stellten die britischen Behörden Reisedokumente für Bewohner des Mandatsgebiets Palästina aus. Hildesheimer stammte aus einer bekannten zionistischen Familie. Sein Vater wanderte 1933 mit der Familie von Deutschland nach Palästina aus.

Der neue Staat Israel hätte ihm einen Pass ausgestellt, aber den wollte er nicht. Seine Papiere wurden ungültig. Er kehrte nach Deutschland zurück und wurde Simultanübersetzer bei den Nürnberger Prozessen. Sein Freund, der Schriftsteller Jabra Ibrahim Jabra (1919–1994), der zwischenzeitig staatenlos wurde, schrieb ihm 1952 aus Harvard: „Im Jahr 1948 wurde ich zu einem Flüchtling gemacht.“

In Jerusalem hatte Hildesheimer, neben Jabra, auch die Intellektuellen Sally Kassab, Rasha Salam und Walid Khalidi kennengelernt. Die Gruppe kannte sich seit 1943. In ihrem neuen englischsprachigen Buch recherchiert Sonja Mejcher-Atassi, Professorin für moderne arabische Literatur in Beirut, die Geschichte dieses arabisch-jüdischen Freundeskreises am Vorabend der Gründung Israels. Jabra kam aus einer syrisch-orthodoxen Familie und wurde später zu einem der bekanntesten Schriftsteller sowie Maler der arabischen Welt.

Jabra wie Hildesheimer übersetzten die Klassiker der europäischen Moderne in ihre jeweiligen Muttersprachen, Arabisch und Deutsch. Und beide wurden Mitglieder in wegweisenden Künstlerkollektiven: Jabra in der Modern Baghdad Art Group; Hildesheimer in der Gruppe 47. Rasha Salam stammte aus einer notablen muslimischen Familie in Beirut. Ihr Vater war ein entschiedener Gegner der französischen Mandatsmacht, und ihre Familie wurde bekannt für ihre emanzipierten Frauen. Die künstlerisch begabte Rasha schrieb Mitte der 1980er-Jahre ihre Memoiren „Eine nicht-konforme muslimisch-arabische Frau: Ein Jahrhundert der Entwicklung (1873–1976)“, die bisher nicht veröffentlicht sind. Sie heiratete den aus Jerusalem stammenden Walid Khalidi. Bis zu ihrem Lebensende verband Salam und Hildesheimer eine enge Freundschaft.

Khalidi wurde zu einem der wichtigsten Historiker Palästinas und lebt heute in den USA. Er gab den fünf Freunden den Namen „kleiner ökumenischer Kreis“. Sally Kassab wiederum kam aus einer griechisch-orthodoxen Familie. Sie war zu jener Zeit mit Wolfgang Hildesheimer liiert. Während Mejcher-Atassi jeder Protagonist:in ein Kapitel widmet, konnte sie nicht genug historisches Material über Sally Kassab finden. Und obwohl Hildesheimer zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur zählt, ist sein Leben in Palästina unbeleuchtet.

Mejcher-Atassi schließt diese Lücke nun mit faszinierenden Einblicken in den Austausch und Zusammenhalt dieser Gruppe. Sozial könnte der wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Hintergrund der fünf Freunde nicht unterschiedlicher sein. „[A]lle lebten nach 1948 im Exil – in Deutschland, dem Irak, dem Libanon, dem Vereinigten Königreich, den USA und der Schweiz –, wobei das Wort ‚Exil‘ für sie unterschiedliche Bedeutungen hatte“, so die Autorin. Mejcher-Atassi eröffnet eine wichtige Perspektive, weil sie sich für das deutsch-jüdische Exil im Zusammenhang mit dem palästinensisch-arabischen Exil interessiert.

1988, während des ersten Aufstands der palästinensischen Jugend in den besetzten Gebieten, schrieb Hildesheimer an Rasha Khalidi: „Meine liebe Rascha, ich habe so lange nicht geschrieben, weil ich so deprimiert bin. Wer wäre das nicht, unter diesen Umständen? Silvia und ich würden gerne Araber werden. Aber wie soll man das anstellen?

Ja, wir sollten uns treffen, bevor wir alle sterben, aber ich glaube, wir haben Angst vor einem solchen Treffen, und vielleicht sollte man die Idee aufgeben. Es wäre ein melancholisches Treffen. Lass uns darüber nachdenken. Fährst du dieses Jahr wieder in die Toscana?

Liebe Grüße – auch an Walid und von Silvia, Wolf“.

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