Dietrich Bonhoeffer hatte von einer Reise nach Schweden im Auftrag des deutschen militärischen Geheimdienstes Amtsgruppe Abwehr 1942 die Nachricht mitgebracht, Russland wolle seinen Machtbereich bis ans Brandenburger Tor in Berlin ausdehnen. Das war 1945 tatsächlich gelungen. Die Okkupation durch die russischen Truppen währte bis 1994. Dem neuerlichen russischen Machtstreben und Aggressionskrieg gegen die Ukraine, der Spaltung und Gewalt, setzt Autor Stefan Seidel eine kompakte Analyse heutiger Verfeindungen gegenüber: „Hier das Gute, dort das Böse“ sei aktuell die Zweiteilung der Welt. Eine Gewöhnung an Waffen greife Raum: Panzer, Kampfflugzeuge, Drohnen, nukleare Teilhabe. Einen Heilsglaube oder Waffenwahn nennt es der Autor.
All das lasse einen „Sog der Feindschaft“ entstehen: Verbitterung, Verengung,Verschließung. Verteidigungsminister Boris Pistorius belege das mit seiner Forderung eines Mentalitätswechsels, der in der Truppe in vollem Gange sei, aber auch die Gesellschaft erreichen müsse. Eben kriegstüchtig zu werden. Auch der vormalige Bundespräsident Joachim Gauck wird mit einem „Geist der Verteidigungsbereitschaft“ in Anspruch genommen. Letztlich unterstellt der Autor beiden Kriegstreiberei.
Anerkennenswert bleibt im Fortgang, dass der Autor Zeugen für seine Auffassung nennt: So die wenig bekannte Psychoanalytikerin Hanna Segal (1918–2011), die sich mit der hemmenden Gewissensinstanz des Über-Ich auseinandergesetzt hat. Warum nehmen Menschen Kriege hin? Gibt es den absoluten Feind? So fragt Seidel.
Im Buch führt das zum Kapitel „Entfeindungen“: Es gilt, dem Sog der Gewalt zu widerstehen. Jesu Gewaltverzicht wird angeführt, die Feindesliebe oder „Liebe statt Opfer“, „Nachgeben statt Rivalität“. Zeitgeschichtlich ruft Seidel den Widerstand der Kirchen in der DDR gegen die Herrschenden auf. Christliche Entfeindungsliebe, ein Wort des jüdischen Theologen Pinchas Lapide (1922–1997), zitiert er als Beleg. Was damals ein Erfolg war, müsste auch heute möglich werden. Seidel reklamiert einen „reifen Gemeinsinn“, ein „gemeinsames Band“, um einen Ausweg aus Spaltung und Gewalt, so der Untertitel, zu finden.
Der Theologe und Psychologe Stefan Seidel, leitender Redakteur der evangelischen Wochenzeitung Der Sonntag in Leipzig, hat sich hier auf eine Suche begeben, die von Verständnis für Aggressoren und dem dringlichen Wunsch nach Entfeindung geprägt ist. Hervorzuheben bleibt: Der Autor hat seinen Text sehr gründlich mit Anmerkungen belegt. Literarische, historische und psychologische Hinweise reizen zum Weiterlesen. Margot Käßmann sieht sich durch die Lektüre ebenfalls ermutigt. „Wir können uns dem Sog der Feindbilder und Kriegsertüchtigung entziehen. Gerade das Zeugnis des Jesus von Nazareth ermutigt dazu.“ Es gehe darum, friedenstüchtig zu werden, schreibt sie in einer vom Claudius Verlag verbreiteten Buchbesprechung. Doch die Weltlage und politische Realität heute sind eine andere. Die Freiheit der westlichen Welt braucht strategische Diplomatie und militärische Abschreckung. Sie hat selbst im „Kalten Krieg“ der vergangenen 1950er- und 1960er-Jahre funktioniert.
Stefan Seidel beschwört eine Friedenslogik, die Feindbilder obsolet werden lässt und Gewalt unterbricht. Wer heute jedoch eines der baltischen Nato-Länder besucht, erfährt von der Angst vor einer russischen Invasion. Bonhoeffer brachte das Wissen um die bis heute andauernden Machtansprüche Russlands mit nach Berlin.
Roger Töpelmann
Dr. Roger Töpelmann ist Pfarrer i.R. Er war bis 2020 u.a. Pressesprecher des Evangelischen Militärbischofs in Berlin.