Sehnsuchtsort

Geschichte der Pilgerreisen

Das so genannte Morgenland ist ein Sehnsuchtsort. Für religiös Sensible sind Israel, Palästina und Ägypten Ziele von Pilgerreisen. Syrien und der Libanon gelten als Ursprungsorte menschlicher Kultur. Neben dem leidenschaftlichen Ausruf „Ex oriente lux“ beklagt manch westlicher „Orientalist“ jedoch auch die angebliche Rückständigkeit der Region.

Bernd Brunner beschreibt, was jüdische, muslimische und christliche Pilger, Forscher und Reisende auf ihrem Weg in diese Region erlebten und wie sie es dann beschrieben haben. Spannendes Moment ist dabei – dies macht schon der Untertitel des Bandes deutlich – das Widerspiel von Erfahrung und Erwartung.

Es gibt wenige Weltgegenden, die insbesondere dem westlichen Menschen so vertraut scheinen und zugleich so viel kulturelle Fremdheit ausstrahlen. Brunner erzählt anekdotisch und ohne Wertung, wie der Blick der Reisenden sich im Laufe der Jahrhunderte wandelt und wie ihre vorgängigen Wahrnehmungsmuster die Beschreibung der Region prägen; welche Enttäuschungen sie erfahren, da das bereiste Land den hohen religiösen und ethischen Vorstellungen der Reisenden nicht entspricht; wie die Abwertung des Vorgefundenen aber auch dazu dient, sich der eigenen moralischen und geistigen Überlegenheit zu vergewissern.

Edward Saids Orientalismuskritik wird zwar kurz erwähnt, jedoch in einem Nebensatz abgekanzelt. Maurice Halbwachs’ Beobachtungen zur Erinnerungskultur und -topografie tauchen stellenweise auf. Es fehlt jedoch eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Wahrnehmung des Fremden als Eigenem oder Anzueignendem, wie sie in dieser Reise- und Orientliteratur prominent begegnet. Brunner hat kein gesteigertes Interesse an theoretischer Durchdringung. Das ist aber kein Schade: Der Autor hält den Vorhang auf und lässt die Leser:innen eigene Entdeckungen machen.

Und zu entdecken ist manches, wie zum Beispiel die Gleichzeitigkeit der Entstehung des modernen Tourismus in die Region, wie sie in den 1860er-Jahren durch Thomas Cook befördert wurde, und der neu anhebenden sozial-diakonischen und missionarischen Aktivitäten der protestantischen Kirchen in Ägypten und Palästina – beides auch motiviert durch die technischen und politischen Entwicklungen der Zeit.

Brunner präsentiert unterhaltsam Reisende mit ihren unterschiedlichen Beweggründen: die Pilgerreisende Egeria, die im späten vierten Jahrhundert Kon­stantinopel, den Sinai, Palästina und das Zweistromland bereiste und deren Bericht bis heute eine wichtige Quelle für die gottesdienstlichen Gebräuche jener Zeit ist. Daneben den Ritter John Mandeville, der im 14. Jahrhundert den Orient phantasievoll als ein Land beschreibt, in dem Zwerge leben, die sich vom Duft wilder Äpfel ernähren. Religiös Animierte wie die württembergischen Templer oder die amerikanischen Kolonisten des 19. Jahrhunderts, die hoffen, durch ihr Engagement die Wiederkehr Christi zu beschleunigen. Der Journalist Mark Twain, der mit dem Titel seiner Landesbeschreibung The new Pilgrim’s Progress noch Bezug nimmt auf das klassische Pilgerwesen und John Bunyan, aber dies nur, um den Leser zu enttäuschen und ihm das Heilige Land als so banal und unheilig vorzustellen wie die vertrauten Orte der USA – nur leider nicht so unterhaltsam.

Zwei Korrekturen: Die im Band vorgestellte Schule heißt bis heute Talitha Kumi, und nicht Talita Cuma (Seite 279), und das Schisma zwischen Monophysiten und Dyophysiten ist nicht identisch mit dem zwischen Ost- und Westkirche, wie im vierten Kapitel dargestellt.

Das Buch ist eine Fundgrube für jeden, der sich für die Geschichte des kulturellen Austauschs zwischen Orient und Okzident interessiert. Es bietet spannende Lektüre und neue Einsichten in ein vertrautes Thema.

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