Kompendium

Antisemitismus im Christentum

Glaube und Hass – dieser Dialektik geht der emeritierte Praktische Theologe Michael Meyer-Blanck in seinem gleichlautenden Band zum Verhältnis von Antisemitismus und Christentum nach. Das Buch wurde vor dem 7. Oktober 2023 verfasst und ist nun im Mohr Siebeck Verlag erschienen. Meyer-Blanck beschreibt mit „Glaube und Hass“ ein Gegenüber, das historisch und theologisch von Ambivalenzen geprägt ist: Denn einerseits hat insbesondere in historischer Perspektive der christliche Glaube zur Entwicklung des antisemitischen Hasses beigetragen, andererseits kann der Glaube an den Juden Jesus diesem ressentimentgeladenen Hass eine Kraft entgegensetzen.

Um dieses ambivalente Verhältnis zu entfalten, werden in drei Kapiteln jeweils eigene inhaltliche Schwerpunkte gelegt: Das erste Kapitel nähert sich dem Gegenstand des gegenwärtigen Antisemitismus, wofür Meyer-Blanck zunächst aktuelle(re) Debatten um die Boykottbewegung BDS oder die „documenta 15“ knapp wiedergibt. Dass sich der Band in erster Linie an die evangelische Kirche und ihre Theologie richtet, wird deutlich, wenn für die Aufarbeitung und Kritik des Antisemitismus nach 1945 als wichtige Wegmarken der rheinische Synodalbeschluss (1980) oder die neue Perikopenordnung (2018) Erwähnung finden. Die daran anschließende begrifflich-theoretische Betrachtung des Antisemitismus geschieht knapp und hätte durch die stärkere Integration antisemitismustheoretischer Überlegungen wohl gewonnen.

Doch der Schwerpunkt des ungemein gut lesbaren und in seiner Argumentation insgesamt wohlüberlegten Bandes liegt in der theologischen Kritik des Antisemitismus: Diese wird nun in den folgenden Kapiteln entfaltet. Zunächst (Kapitel zwei) in einer historisch kontextualisierenden und gleichzeitig gegenwartsbezogenen Reflexion von judenfeindlichen Motiven und Argumentationen in der (vor allem reformatorisch geprägten) Christentumsgeschichte: Kritisch greift beispielsweise Meyer-Blanck im Abschnitt zu „Antijüdischen Fallstricken reformatorischer Theologie“ die reformatorischen Solas auf. Ohne diese grundsätzlich zu verwerfen, werden doch luzide judenfeindliche Potentiale offengelegt. Die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz liefe eben, falsch verstanden, Gefahr, eine Negativscha­blone zu Tora und Judentum anzubieten. Daher müsse verstanden werden, dass die Weisung Gottes durch die Tora im Judentum im Grunde Evangelium, also ein „Zeichen der Zuwendung und der Weg zur Erlösung“, sei.

Hier liegt die große Stärke dieses Bandes: Meyer-Blanck versteht es, exegetisch versiert, historisch informiert und am jüdisch-christlichen Gespräch orientiert zu argumentieren. Den christlichen Judenhass kann er so als ein „faules Denken“ einer fehlgeleiteten Theologie markieren. Das Ganze geschieht unaufgeregt und klar in der Sache. So entsteht auf etwas mehr als 330 Seiten ein kurzes und gleichzeitig fundiertes Kompendium der christlichen Antisemitismuskritik: Ob auf biblische Texte (Paulus, Johannes-Evangelium, Hermeneutik des Alten Testaments), auf ausgewählte kirchengeschichtliche Figuren wie Martin Luther, Johann Casper Lavater, Adolf Stoecker oder auf grundsätzliche theologiegeschichtlich wichtige Entwicklungen (Reformation, Aufklärung) bezogen – Meyer-Blanck kennzeichnet die Verbindung von Christentum und judenfeindlichen Positionen und begegnet ihnen pointiert.

Das dritte Kapitel ist Ermutigung und Auftrag zugleich: Christliche Theologie mündet eben nicht zwangsläufig im Antisemitismus, sondern hat das positive Potenzial, diesen abzuwehren. Zur theologisch begründeten Antisemitismuskritik braucht es, so Meyer-Blanck, in erster Linie theologische Verantwortung: Dafür müssten zwar nicht die Differenzen zwischen Judentum und Christentum eingeebnet werden, jedoch bedürfe es der Demut, der Wertschätzung und der theologisch tief verwurzelten und nicht lösbaren Verbindungen des christlichen Glaubens zum Bund mit Israel und mit dem Judentum. Dann werde auch klar: Wer mit und an den Juden Jesus glaubt, so Meyer-Blanck, könne niemals antisemitisch denken.

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Foto: Privat

Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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