Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kasiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.
Anderer Maßstab
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 17. November
Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. Der eine glaubt, er dürfe alles essen. Der Schwache aber isst kein Fleisch. Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen. (Römer 14,1–3)
Paulus schreibt an die römische Gemeinde, die eine Gemeinschaft verschiedener Hauskreise war. Paulus kennt sie nur vom Hörensagen. Deshalb stellt er sich ihnen mit seiner Theologie vor. Und das ist für uns ein Glücksfall. Denn damit begegnen wir der ersten christlichen Theologie.
Hier geht es nicht um Fleischesser, Vegetarier oder Veganer. Gegenüber standen sich in der römischen Christengemeinde Christen, die von der Synagoge geprägt waren und die jüdischen Gesetze befolgten, und die Christen, die in der griechischrömischen Geisteswelt aufgewachsen waren und andere religiöse Bräuche und Gesetze kannten.
Diese verschiedenen Welten waren schon in der Christengemeinde von Jerusalem aufeinander geprallt und hatten dazu geführt, dass man wegen der Frage der kultischen Reinheit oder Unreinheit von Speisen keine gemeinsamen Gottesdienste mehr feiern konnte. Denn damals gehörte zu den Gottesdiensten auch die Tischgemeinschaft. In der Frage des gemeinsamen Essens der Gemeindeglieder gerieten Petrus und Paulus scharf aneinander. Petrus hob die Tischgemeinschaft in Jerusalem auf, und somit gab es keine gemeinsamen Gottesdienste mehr. Und weil dies das Ende des Christentums bedeutet hätte, wehrte sich Paulus heftig.
Er sieht Gott als Handelnden. Und weil dieser den Menschen aus Glauben annimmt, kann menschliches Verhalten nicht der Maßstab für die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen sein. Weil Gott jeden Menschen annimmt, braucht der Mensch seine Maßstäbe – auch darüber, was richtig oder falsch ist – nicht mehr anlegen und sich zum Richter oder Oberlehrer seines Mitmenschen erklären. Umgekehrt sollte das zu einer großen Toleranz zwischen den Christen führen.
Im gleichen Kapitel wird Paulus sagen, dass der Maßstab nicht Essen und Trinken ist, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Und diesen Maßstab sollten Christen im Umgang miteinander auch heute beherzigen.
Andere Wirklichkeit
Letzter Sonntag des Kirchenjahres, 24. November
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden sie sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Völkern: Der HERR hat Großes an ihnen getan! Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. HERR bringe zurück unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. (Psalm 126,1–4)
Dieser Sonntag wird in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands als Ewigkeitssonntag oder Totensonntag begangen. Als letzter Sonntag im Kirchenjahr bietet er einen Anlass, das vergangene Jahr, seine Krisen, Konflikte und vor allem Verluste, nochmals zu bedenken. Und der Monat November passt dazu.
Aber dann dieser Text voll Jubel und Trubel? Der letzte Satz lässt aufhorchen. Denn offensichtlich sind die Gefangenen noch nicht befreit. Der Jubel und Trubel ist auf die Zukunft gerichtet und eigentlich Wunschdenken. Der Schlüssel zum Text liegt im Wort „die Träumenden“. Heute verstehen wir unter Träumen Prozesse des Unterbewussten, die nachts hochkommen und verarbeitet werden wollen.
Die Zeitgenossen des Textes haben sich unter Träumen dagegen etwas Anderes vorgestellt, nicht innere Bilder, sondern Bilder einer anderen Wirklichkeit. Und diese kommt von außen realistisch auf uns zu. Im Prinzip öffnet sich der Himmel, und die Wirklichkeit Gottes kommt jetzt schon auf uns zu. Neben dem, was unsere Augen sehen oder sehen wollen, was wir für real und wirklich halten, gibt es für die damaligen Menschen eine Wirklichkeit, die außerhalb der eigenen Wahrnehmung existiert.
„Wir Christen sind Protestleute gegen den Tod!“, schrieb der Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti. Denn Christen akzeptieren nicht, wollen nicht glauben, dass der Tod das letzte Wort hat. Sie weigern sich, ihm eine siegreiche Macht zuzuschreiben. Christen sind Protestleute, weil sie wissen, dass Gott eine eigene Realität ist. Das Ziel ist das Reich Gottes. Und darauf gründet sich die Hoffnung unseres Lebens. Aber daraus leitet sich auch der Auftrag ab, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen oder sie fatalistisch hinzunehmen, sondern am Aufbau des Reiches Gottes mitzuwirken. Insofern sind Christen realistisch Träumende, die nicht verzweifeln, weil sie wissen, dass das, was sie gerade erleben, nicht endgültig ist.
Andere Erwartung
Erster Advent, 1. Dezember
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers … Eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg. Andere aber hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. (Matthäus 21,5+8)
Als Kaiser Wilhelm II. 1898 Jerusalem besuchte, zog er hoch zu Ross in die Stadt ein. Und damit er auf dem Pferd sitzen bleiben konnte, wurde das mittelalterliche Jaffa-Tor zerstört. Denn der Torbogen war zu niedrig für Ross und Reiter. Darüber regte sich niemand auf, denn das gebührt einem Kaiser. Und auch sonst war klar: Wer mächtig ist, kommt hoch zu Ross. Heute sind Rösser durch große Flugzeuge und Limousinen ersetzt worden. Aber Macht soll immer noch gezeigt werden, gerade in einer Welt, die durch Bilder geprägt ist.
In Diktaturen können prägende Bilder auch sehr subtil sein. Siehe das kleine Symbol mit Schwertern zu Pflugscharen, das sich DDR-Jugendliche auf den Parka nähten, die „Kutte“ wie sie sagten.
Die Schriftgelehrten zur Zeit Jesu, die ihre Bibel, das Alte Testament kannten, konnten die Empfangsszene Jesu in Jerusalem deuten. Die Römer sahen dagegen erst einmal gar nichts. Der neue König, so der Prophet Sacharja, wird auf einem jungen Esel reiten. Und damit beginnt das neue Königreich, das Reich Gottes. Die Menge sendet ebenfalls Zeichen aus, indem sie ihren neuen König mit dem Ausbreiten ihrer Kleidung empfängt. Die Leute wussten, was sie taten. Und das dürften schließlich auch die Römer mitbekommen haben. Einige Jubler sind zwar subtiler: Sie schneiden Palmzweige ab – das Symbol der Zeloten. Und diese waren Untergrundkämpfer gegen die römischen Besatzer. Das öffentlich zu zeigen war lebensgefährlich. Also trugen sie unter dem Kragen kleine Palmzweige als Symbol ihrer Unterstützung der Zeloten.
Dolche verdeckt zu tragen, war ebenfalls verboten, galt eben auch als Zeichen der Zeloten. Judas Ischariot: Das „Ischariot“ kann als „der Mann mit dem Dolch“ gelesen werden. War er womöglich ein Untergrundkämpfer, der an Jesus verzweifelte, weil er ihn nicht verstand? Und der mit seinem Verrat Jesus zwingen wollte, endlich das Reich Gottes mit einem Volksaufstand zu beginnen?
Die jubelnde Menge wusste jedenfalls, was sie tat – und wusste doch nichts. Denn dass Jesus als neuer Herrscher kommt, hat eben nichts mit den damals üblichen Vorstellungen von Macht und Kampf, Sieg und Heil zu tun. Er ist eben ganz anders.
Advent heißt: Warten auf den, „der da kommt“. Aber Gott der Allmächtige, Entscheider über Leben und Tod, oberster Richter am Jüngsten Gericht, kommt völlig ohnmächtig, als wehrloses Baby in einem dreckigen Stall, Kind eines Paares, das gegen die Moral verstoßen hat, heimatlos ist und schon bald auf der Flucht. Dies zerstört alle Vorstellungen davon, wie ein neuer Herrscher kommt. Und genau das feiern wir an Weihnachten. Etwas Neues entsteht aus den Trümmern all unserer Vorstellungen und Wünsche. So ist Gott.
Andere Theologie
Zweiter Advent, 8. Dezember
Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)
Im Jahr 597 vor Christus begann die so genannte Babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel. Die Babylonier hatten Israel eingenommen und die jüdische Mittel- und Oberschicht nach Babylon gebracht (das ungefähr das Gebiet des heutigen Irak umfasst). Das einfache Volk blieb dagegen zurück. Schließlich musste jemand die Felder der neuen Herren bearbeiten. Es waren mehr oder weniger Arbeitssklaven. Die Eliten saßen dagegen in Babylon fest.
In dieser Zeit bildete sich unter den Gefangenen eine jüdische Theologie aus: Die Geschichten und Erzählungen der Väter wurden gesammelt und bearbeitet. Die ersten Synagogen entstanden, um die eigene Religion feiern zu können. Kurz: Lokale Gottesdienste und das Alte Testament entstanden. Und das war auch überlebensnotwendig, drohte doch die völlige Assimilierung. Denn der Zwangsaufenthalt, „Gefangenschaft“ genannt, war sehr auskömmlich. Die hohe babylonische Kultur war verführerisch und offen für die Fremden. Sogar der öffentliche Dienst Babylons stand den Israeliten offen. Vor einigen Jahren wurde das Grab eines hohen jüdischen Generals in babylonischen Diensten entdeckt.
Natürlich hatten viele Heimweh. Aber bei vielen schwand die Sehnsucht nach einer Heimkehr. Propheten wie Jesaja hielten die Fahne der Tradition hoch. Sie dürften angesichts der tatsächlichen Lage ausgelacht worden sein. Aber Jesaja gab nicht auf und beschwor immer wieder die alte Heimat, die Bedeutung Jerusalems und seines Tempels. Der Prophet redete gegen die Realität. Erst als der Perser Kyros die Babylonier besiegte, drehte sich der Wind. Kyros erwies sich als großzügig: Die Israeliten durften heimkehren. Und der Clou der Geschichte: Von ihnen blieben viele in Babylon, so dass die dortige jüdische babylonische Gemeinde zur zweitgrößten jüdischen Gemeinde nach Jerusalem wurde.
Auch die heutige Welt kann man als Babylonische Gefangenschaft beschreiben, in der man heimatlos und ohne Wurzeln und Fundament lebt. Hier setzt die christliche Auslegung des Textes an. Es ist ein Text gegen die Realität. Und deshalb passt er gut in den Advent. Denn Christen bleiben nicht beim Jammern über die heutige Welt stehen. Sie wissen vielmehr von einer kommenden, neuen Welt, mag sie Zion, Himmel oder Reich Gottes genannt werden.
So leben Christen in den Tagen des Advents nicht im Jammertal, in der Verzweiflung, sondern in der Hoffnung auf den, „der da kommt im Namen des Herrn“.