Seit 13 Jahren baut der deutsche Architekt Dirk U. Moench in China Kirchen in einem modernen, manchmal atemberaubenden Stil. Die Gotteshäuser spiegeln das wachsende Selbstbewusstsein der Christinnen und Christen in der aufstrebenden Supermacht. Hier schildert der Architekt ihre Bereitschaft, Neues zu wagen sowie ihrer Zukunft und ihrem Glauben ein Gesicht zu geben.
Es war ein schicksalhafter Moment. Vor dreizehn Jahren erhielt ich als deutscher Architekt eine unerwartete Chance. Die Stadtverwaltung der Millionenstadt Fuzhou, einer wichtigen Hafenstadt an der Südostküste Chinas und Hauptstadt der Provinz Fujian, hatte von unserem Plan erfahren, eine Zweigstelle zu gründen. Als erstes westliches Architekturbüro in der Stadt, spezialisiert auf Kulturbau und Stadterneuerung, erweckten wir Neugier und wurden zum Gespräch eingeladen. Seit langem schon diskutierten die führenden, eigentlich kommunistischen Kader der Stadt, ob man für den gerade geplanten Unterbezirk Jinshan ihrer Metropole nicht auch eine Kirche brauche – so wie Supermärkte, Sportstätten und Grünanlagen. Ich war überrascht, aber sagte freudig zu, eine Studie für einen möglichen Kirchenbau vorzulegen.
Wie eine nach oben strebende Schriftrolle: die Kirche von Jinshan
Das Bauen sakraler Architektur ist allerorts etwas Besonderes. Auf der Suche nach einer Formel, die diesem Etwas auf die Spur kommt, beschrieb der Religionsforscher Mircea Eliade einst heilige Orte als Bruch in der grenzenlosen Homogenität des Raums. Ebenso wie religiöse Feiertage uns im Laufe des Jahres eine Unterbrechung der Kontinuität unseres monotonen Alltages ermöglichten, manifestiere sich etwa eine Kirche als „Festpunkt“ in der „amorphen Masse unendlich vieler neutraler Orte, an denen der Mensch sich bewegt, getrieben von den Verpflichtungen des Lebens“.
Spannend werden solche Gedanken im Falle Chinas, wo es sich bei den neutralen Orten um uralte Siedlungsräume handelt, deren Gestalt sich seit vier Jahrzehnten konstant verändert. Und eben dieses Szenario spielte sich gerade in Jinshan ab: Dort, wo verstreute Dörfer und Gemüsefelder lagen, sollte bald ein vollständiges Wohn- und Arbeitsquartier für sechshunderttausend Einwohner entstehen. Was mich verblüffte: Zur Vollständigkeit eines Stadtviertels gehörte für die chinesischen Planungsbehörden offenbar auch ein christliches Gotteshaus!
Die Huaxiang-Kirche aus den Kieseln der lokalen Tradition.
Enthusiastisch machten wir uns an die Arbeit. Einziges Problem: Es gab noch gar keine Gemeinde, die uns ihre Bedürfnisse erklären konnte. Stattdessen sprachen wir mit Beamten und Politikern. Sie wünschten sich ein Sinnbild des Fortschritts: „eine moderne Kirche für ein modernes China“, hieß es.
Heute ist die Kirche von Huaxiang ein Touristenmagnet geworden.
Doch was bedeutet das, eine moderne Kirche für chinesische Christen zu bauen? Allein die enorme Größe des chinesischen Christentums steht in starkem Kontrast zu unserer eigenen Erfahrungswelt: Im Jahr 1982 gab es landesweit etwa drei Millionen Katholiken und drei Millionen Protestanten; seither ist die Zahl auf offiziell sechs Millionen Katholiken und 38 Millionen Protestanten gestiegen! Um das Ausmaß dieser Entwicklung wirklich zu begreifen, nahm ich mit meiner Frau, die selbst örtliche Christin ist, an mehreren Gottesdiensten teil. Ich erfuhr, dass auch die Protestanten ihrer Heimatstadt keine Nachwuchsprobleme haben, sondern eine quicklebendige Gemeinschaft waren. Sie erklärte mir, dass viele Christen ihren Glauben als Erwachsene entdeckten, unbeeinflusst von Bräuchen oder Kindheitserinnerungen. Christsein, das sei in China durch das Lesen der Bibel geprägt. Gerade im frühchristlichen Gemeindeleben fänden viele einen Anknüpfungspunkt.
Motiv der Schriftrolle
Elektrisiert von dieser Ausgangslage, entwickelten wir eine kühne Vision: Um einer Gemeinde von eineinhalb Tausend Gläubigen freien Blick auf die Kanzel zu schenken – und ein Gefühl von urchristlicher Egalität zu vermitteln –, griffen wir auf den Typus der reformierten Predigtkirche zurück. Die Sitze sollten nicht linear und hierarchisch, sondern konzentrisch und auf drei Etagen angeordnet werden. Bei der Gestaltung interessierten wir uns für das Motiv einer Schriftrolle, also der Bibel in ihrer frühesten Form, die sich schützend um den Kirchenraum wickelte. Durch Variation ihrer Höhe würde sich die spektakuläre Silhouette einer Kirche entfalten, ohne einen ortsfremden Stil zu bemühen.
Drei Perspektiven auf die Kirche von Julong am Rande von Quanzhou auf grüner Wiese.
Ein radikaler Ansatz, aber die Strategie ging auf; die Beamten zeigten sich beeindruckt und lobten besonders die einzigartige Form, die sich deutlich von den historischen Kirchen der Stadt abhob. Leider geriet das Projekt alsbald ins Stocken – es gab nun einmal noch keinen Bauherrn. Unsere Enttäuschung währte jedoch nicht lange, denn bald schon klopften bauwillige Gemeinden an unsere Tür. Heute, nachdem ich Christen im ganzen Land kennenlernen und ihre Kirchen planen durfte, ist mir klar, dass diese Chance nicht einfach vom Himmel fiel. Ohne dass es im Westen bekannt wäre, sind wir Zeitzeugen eines außergewöhnlichen Moments in der Entwicklung des chinesischen Christentums.
Historisch wurde der Kirchenbau in China bis ins 20. Jahrhundert von westlichen Missionaren betrieben. Fernab ihrer Heimat bauten sie Kirchen, die auch in Europa oder Amerika hätten stehen können. Erst mit den Reformen unter Deng Xiaoping begann das Kapitel des chinesischen Kirchenbaus. Damit meine ich keinen Stil, sondern den ab 1979, als Dengs Reformen ernsthaft begannen, einsetzenden Bau von Gotteshäusern, der durch chinesische Gemeinden betrieben wird. Berührend ist, dass sie dabei lange Zeit mit geringsten Mitteln und ohne professionelle Unterstützung auskamen. Dorfpfarrer und Gläubige legten überall selbst Hand an: Sie skizzierten Pläne, schleppten Ziegel, mauerten. Die Bescheidenheit ihrer Gebetsstätten und die unbeholfene Anlehnung an alte Missionsarchitekturen führen uns noch heute vor Augen, dass der Kirchenbau für diese Christen ein existenzielles Anliegen war, bei dem die Erfüllung grundlegendster Bedürfnisse im Vordergrund stand. Die heutigen Kirchen hingegen versetzen den Europäer in Staunen. Ihre multimedial ausgestatteten Kirchensäle fassen hunderte oder tausende von Gläubigen. Und immer mehr beginnt die chinesische Kirche, sich auch in ihrer äußeren Erscheinung zu verändern, versuchen Gemeinden, eigene Wege zu gehen.
Multimedial ausgestattet
Ein Beispiel ist unsere 2018 vollendeten Huaxiang-Kirche: Als ihr Vorgänger im Jahre 1938 errichtet wurde, überragte sein Turm ein Meer aus traditionellen Hofhäusern. Knapp acht Jahrzehnte später musste dringend eine Erweiterung her. Jetzt aber fand sich das kleine Haus am Fuße eines Labyrinths aus Einkaufszentren und Bürotürmen wieder. Der Gemeinde bereitete das großes Kopfzerbrechen: Völlig unklar war es, wie ein Gotteshaus in dieser Nachbarschaft aus hohen und niedrigen, modernen und traditionellen Gebäuden bestehen könne. Uneinig war man sich auch, welche Schwerpunkte man mit dem Neubau setzen wollte: Einige Gläubige betonten die Bedeutung des Altbaus als ein Zeichen der Beständigkeit; andere hofften, dass sich junge Menschen durch das Projekt angesprochen fühlen würden. Ein Neubau im Stile gotischer Kathedralen wurde erwogen, auch eine klassizistische Kirche, und sogar eine Kreuzbasilika. Nichts schien wirklich zur Gemeinde zu passen oder in den heutigen Stadtkern zu gehören. Unser Vorschlag: Abstand nehmen vom Idealtyp, stattdessen das Gotteshaus als einen Stadtbaustein denken – ein urbaner Kontrapunkt, der Form- und Höhenunterschiede seiner Umgebung harmonisiert, sich aber durch farbliche und materielle Akzente auch deutlich kundtut. Durch eine Faltung der begehbaren Dachflächen sollte das Schrägdachmotiv der alten Kirche fortgesetzt werden. Gleichzeitig würden sich zwei Amphitheater ergeben, die es jungen Leuten erlaubten, der Enge zu entkommen und ihre lockeren Gebetskreise unter freiem Himmel abzuhalten.
Der Entwurf gefiel und fand Zustimmung; einzig die Frage nach der Fassade blieb ein Knackpunkt. Wir hatten vor, denselben Stein zu benutzen, aus dem das historische Gebäude bestand. Doch nicht mit schweren Quadern, sondern mit Kieseln wollten wir die Außenwand verkleiden – nach einer alten Lokaltradition. Durch Schleifen würde die braune Färbung des Granits einem hellen Rosa weichen und das neue Gebäude in jugendlicher Frische erstrahlen lassen. „Aber wie kann das sein“, wunderte sich ein christliches Gemeindemitglied, „so sahen die Häuser früher aus, als wir arm waren und nichts Besseres hatten. Jetzt bauen wir eine nagelneue Kirche!“ Andere liebten dagegen die Vorstellung: Es war eine Erinnerung an das alte China, eine Chance, eine Form ihrer Kindheit mit neuem Leben zu erfüllen, sie lächelten. Wir nahmen uns Zeit. Mannshoch ließen wir vor dem Eingang zur alten Kirche eine Ecke des Neubaus modellieren und kunstvoll verputzen. Wie wir erhofft hatten, bildeten sich nach jedem Gottesdienst neugierige Menschentrauben, erfühlten die Kiesel mit ihren Händen und diskutierten angeregt.
Schließlich fiel die erfreuliche Entscheidung. Heute, sechs Jahre nach ihrer Fertigstellung, ist Huaxiang nicht nur ein Symbol der Christen, sondern hat sich als „Rosa Kirche von Fuzhou“ zum bekannten Treffpunkt für Einheimische und Touristen entwickelt. Ihre Außenwand schmücken glänzende Fettflecken auf Armeshöhe – es sind Zeichen, dass die Gemeinde weiterhin „auf Fühlung“ mit ihrer Geschichte steht.
Doch was suchen Gemeinden, die erst am Anfang ihrer Kirchenbauprojekte sind? Diese Frage stellte ich mir, als wir den Christen in Julong begegneten, einer am Rande von Quanzhou auf grüner Wiese entstandenen Satellitenstadt. Wir nahmen Platz vor der Ladenfront, die sie zur Feier ihrer Gottesdienste angemietet hatten, und genossen die Kühle des ausklingenden Tages, während sie Einblick in ihren rasanten Werdegang gewährten: Aus allen Teilen des Landes setzten sich die Einwohner der prosperierenden Neustadt zusammen. Anfangs war es nur eine Handvoll christlicher Nachbarn, die sich zum gemeinsamen Gebet traf. Als immer mehr sich ihrer Gruppe anschlossen, beschlossen sie, eine Kirchgemeinde zu gründen. Jetzt, wenige Jahre nach dem ersten Treffen, planten sie bereits den Bau eines eigenen Gotteshauses! Das Entwicklungsunternehmen von Julong schaute wohlwollend auf ihr Vorhaben und hatte sogar das Bauland gespendet: Malerisch am Fuße einer Bergspitze gelegen, bot es einen atemberaubenden Blick auf die Siedlung. An diesem Ort würde ihr Weg erst so richtig beginnen. Doch wohin sollte die Reise gehen, worin sahen sie ihre Aufgabe, wollten wir wissen. „Du bist Petrus, auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“, zitierte ein Ältester spontan. „Wir sind Gründer. Ohne eine gemeinsame Vergangenheit ist es nicht immer einfach, alle Leute zusammenzuhalten; da muss die Heilige Schrift unsere Grundlage sein.“ Seine Frau griff den Gedanken auf: „Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Gemeinden und Konfessionen, in Julong finden wir zum ersten Mal zusammen. Und die Stadt wächst weiter.“ Und sie fuhr fort: „Wir wollen neuen Mitgliedern natürlich eine Arche sein, ein Zuhause in der Ferne. “
Kirche als Arche
Allerdings gebe es hier auch viele Nichtchristen; vielleicht könne die Kirche auch für sie zum Zeichen des Neuanfangs an diesem herrlichen Ort werden. Die Kirche als Arche also – über den Wirren der Welt treibend, aber verankert im Fundament des Glaubens –, ein uraltes Motiv. Bewegt von diesen starken Bildern machten wir uns an die Arbeit. Die Schwierigkeit lag darin, den Wunsch nach einer tiefen Symbolik mit den nüchternen Anforderungen eines Gemeindehauses zu vereinen – denn der Älteste hatte mir noch eine lange Liste mit Nutzräumen mitgegeben.
Die Lösung: zwei Bauteile, klar voneinander abgesetzt. Der untere glich einem terrassierten Felsfundament; er blieb profanen Nutzungen vorbehalten. Darauf ruhend, das Kirchenschiff. Jeden Sonntag würden die Gläubigen über die Terrassen hinauf zum Gottesdienst pilgern. Oben angekommen, würde das „Paradies“ sie sanft umschließen – ein zum Himmel offenes Atrium, das als Ort der Sammlung ihren Eintritt in den Bauch der Arche vorbereiten sollte. Schließlich erwartete sie im Inneren eine Überraschung: die totale Öffnung des Saales zur grünen Bergspitze. Die Schöpfung selbst sollte zum Teil des Raumerlebnisses gehören, so dass für die zusammengewürfelte Gemeinde auch über konfessionelle Differenzen hinweg eine stimmige – nämlich archetypische – Situation entstünde. Viel besser drückte es ein Bruder nach der Eröffnungsfeier aus: „In Julong wird jeder Gottesdienst zu einer kleinen Bergpredigt!“
Wie Geschichten wie diese verdeutlichen, ist es eine neue Generation von Gläubigen, die das Christentum in China heute vorantreibt. Ihr Leben ist nicht mehr vom Mangel gezeichnet, sondern von der Erfahrung des ständigen Fortschritts in einem offeneren und wohlhabenderen China. Es überrascht also nicht, dass sie Fragen stellen: Wer sind wir eigentlich – als Christen in China? Als Chinesen in einem sich wandelnden Land? Wie füllen wir unser Erbe mit Leben? Der Bau von Kirchen bietet keine endgültigen Antworten, aber er kann zum kraftvollen Mittel der Selbstreflexion werden. Vieles wird so in China möglich, was uns im Westen fast unglaublich erscheint. Zurück zum Anfang, unserem Projekt für Jinshan. In das kam 2018 wie durch ein Wunder wieder Bewegung. Eine junge Gemeinde übernahm den Bau und führt ihn schließlich zum Abschluss. Schon vor ihrer Fertigstellung erregt Fuzhous Kirche von Jinshan landesweites Aufsehen. Es generiert als ein beliebtes Fotomotiv aktuell zehntausende von Likes auf den großen chinesischen Plattformen wie Weibo, Little Red Book und Co. Auch so werden die neuen Kirchen Chinas steinerne Predigten eines christlichen Aufbruchs.
Dirk Moench
Dirk U. Moench, geboren in São Paulo, Brasilien, studierte Architektur an der Technischen Universität in Berlin und der Tongji-Universität Shanghai. 2010 gründete er sein Büro „INUCE • Dirk U. Moench“ mit Sitz in der Schweiz und einem Studio in Fuzhou, China. Für seine Arbeit erhielt er unter anderem den vom American Institute of Architects mitausgelobten Preis für Sakralarchitektur „Faith & Form Award.“ 2023 promovierte er mit einer Forschung über den chinesischen Kirchenbau. In diesem Jahr erscheint sein Buch „Chinas Neue Kirchen. Die Entwicklung des zeitgenössischen Kirchenbaus in Fuzhou zwischen christlicher Form und chinesischem Architekturbegriff“. Mit seiner Frau Lin Xi hat Moench zwei kleine Kinder und lebt im Thurgau am Bodensee.