Judenfeindschaft war die Regel

Christlicher Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Reichspräsident Paul von Hindenburg geht mit Hofprediger Bruno Doehring 1933 zum Gottesdienst in den Berliner Dom
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Reichspräsident Paul von Hindenburg geht mit Hofprediger Bruno Doehring 1933 zum Gottesdienst in den Berliner Dom

Die christlichen Kirchen verurteilen heute deutlich jegliche Form von Antisemitismus. Doch das war nicht immer so. Wie sich christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert zeigte und wie er den Boden für die Shoah bereitete, erläutert der Berliner Historiker Manfred Gailus.

Im Jahr 1909 verstarb der prominente Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker, maßgeblicher kirchlicher Mitbegründer eines modernen Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Die Gedenkrede auf ihn hielt Reinhold Seeberg, Theologe an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Er gilt als Hauptbewahrer Stoeckerschen Geistes unmittelbar nach Stoecker: christlich-sozial, monarchisch-konservativ und Verkünder antisemitischer Ressentiments. Zudem steht Seeberg für persönliche Kontinuitäten zum rassistischen Antisemitismus der Deutschen Christen im „Dritten Reich“. Als er im Oktober 1935 starb, hielt NS-Reichsbischof Ludwig Müller ihm die Grabrede in Ahrenshoop an der Ostsee.

Seebergs Vortrag über Judentum und Kirche, den er 1922 vor dem Central-Ausschuss für Innere Mission in Nürnberg hielt, lässt über seine Haltung keine Zweifel aufkommen: Es gelte, den Kampf gegen „jüdischen Geist“ als eine dem Christentum und dem Deutschtum feindliche Richtung zu führen. Das Judentum sei an Umsturzbewegungen bei Kriegsende beteiligt gewesen. Es befördere die „Auflösung des geschichtlichen und nationalen Lebens der Völker“. Seeberg sah im Judentum einen Fremdkörper in den Nationen. Seine Ausführungen gipfelten in dem Satz: „Das Gift, das der Jude anderen reicht, schadet ihm selbst nichts.“ Die Entfesselung eines „Rassenkampfes“ gegen das Judentum mit dem Ziel der Vertreibung erachtete er indessen als Irrweg. Man könne schließlich nicht zu den Methoden des Bolschewismus greifen. Was Luther in seiner Zeit noch erwogen haben mochte, meinte der Theologe, das habe heute keinen Sinn mehr.

Bereits zu Kriegszeiten 1914–18 tat sich Hof- und Domprediger Bruno Doehring mit fanatischen Kriegspredigten hervor. Seine Kampfrhetorik, begleitet von antisemitischen Ressentiments, radikalisierte sich in gleichem Maße, wie die Kriegsentscheidung zu Ungunsten der Mittelmächte auszugehen schien. In seiner Karfreitagspredigt im letzten Kriegsjahr 1918 mischte sich Antijudaismus mit genuin völkischem Antisemitismus. Die Juden der Zeit Jesu, predigte er, seien Vertreter dessen gewesen, was wir heute als „Außenkultur“ bezeichnen: auf Gewinn, Geld und Macht eingestellt, schreckten sie nicht vor Lüge und Gewalt zurück. Gewiss seien nicht alle so gewesen, konzedierte er, es habe auch manches ehrliche Herz im jüdischen Volk gegeben. Aber ihre Führer habe Jesus alle entlarvt. Durch gekaufte Zeugen und dank eines unfähigen Richters Pontius Pilatus, „der kein Mann, sondern eine Memme war“, brachten sie ihn schließlich ans Kreuz.

Nach Kriegsende gehörte Domprediger Doehring wie Professor Seeberg mit zu den Erfindern der „Dolchstoßlegende“. Doehring sympathisierte mit der völkischen Bewegung und verbreitete christlich-antisemitische Botschaften. In seiner Dompredigt vom 25. April 1924 hieß es, die in Deutschland so brennende „völkische Frage“ sei durch das „schamlose Gebaren des christusfeindlichen Judentums“ erweckt worden. Das Judentum, so Doehring, der gewöhnlich vor zwei- bis dreitausend Gläubigen im Berliner Dom sprach, habe Gnadenstunden erlebt und hätte „innerlich das Volk der Erde“ werden können, aber es habe seine Propheten gesteinigt und Christus ans Kreuz geschlagen. Damit habe es sich selbst als Volk zum Sterben verurteilt und sei lediglich als „Rasse“ über die Welt zerstreut übrig geblieben. Seiner großen Hörergemeinde verkündete der Geistliche im Jahr 1924, die Juden seien die „typisch Negativen“ in der Welt geworden. Mit solchen Überzeugungen wirkte der politische Prediger während der Weimarer Republik in zahlreichen Verbänden und Vereinen, zeitweilig als Präsident des Evangelischen Bundes, durch Zeitungen und als Reichstagsabgeordneter der DNVP.

Im September 1926 publizierte Hans Meiser, Rektor des Nürnberger Predigerseminars und seit 1933 Landesbischof der evangelischen Kirche in Bayern, einen Artikel zur „Judenfrage“ aus kirchlicher Sicht. Anlass war der Vortrag des Frankfurter Juristen Ernst Cahn, ein Protestant jüdischer Herkunft, auf einer Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses in Nürnberg. Als das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer diesen Auftritt skandalisierte, fiel Meiser die Aufgabe zu, im Kirchenblatt grundsätzlich zum Streitthema „Juden“ Stellung zu nehmen. Resultat war der Versuch eines Kirchenführers, den krassen Antisemitismus des Stürmers durch gemäßigten christlichen Antisemitismus zu bekämpfen. Faktisch enthielt sein Artikel, so Meiser-Biografin Nora Andrea Schulze, den „gesamte(n) Kanon bürgerlicher antisemitischer Stereotypen“. Zwar seien viele wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Leistungen Juden zu verdanken, aber ihr Einfluss sei deshalb so unheilvoll, weil ihr „Verstand etwas Zerfressendes, 
Aetzendes, Auflösendes in sich“ habe. Im Einklang mit einer verbreiteten Theologie der Schöpfungsordnungen lehnte Meiser Ehen zwischen christlichen Deutschen und Juden ab. Er bezeichnete Treue gegen das eigene Volk als ernste Christenpflicht und meinte, Gott wolle keine „rassisch unterwertige(n) Mischlingsbildungen“. Er votierte für Begrenzung des jüdischen Einflusses und Judenmission.

Keine Außenseiter

Die drei zitierten Stimmen stammen nicht von Außenseitern, sondern von prominenten Kirchenmännern und können als repräsentativ für den Nationalprotestantismus der Weimarer Epoche gelten. Sie stehen für einen hybriden Antisemitismus, der christlichen Antijudaismus mit Elementen eines politischen und kulturellen Antisemitismus kombinierte. Genuin völkische Ideen mischten sich in dieses Weltbild hinein. In ihrer Summe votierten solche Stimmen für Zurückdrängung jüdischen Einflusses in Politik, Kultur und Gesellschaft. Zugleich sprachen sie sich für jüdische Assimilation an die christliche Mehrheitskultur und Konversion zum Christentum aus.

In den krisenhaften Endjahren der Weimarer Republik erfolgte im protestantischen Milieu eine politische Umorientierung von den Deutschnationalen zur NSDAP. Ein Ausdruck dieser Neuausrichtung war die Christlich-deutsche Bewegung, ein vorwiegend von Pfarrern gebildetes Netzwerk explizit völkisch argumentierender Kirchenmänner. Die Bewegung hatte das Ziel, die demokratische Republik durch einen autokratischen christlichen Staat abzulösen. Teile dieser Bewegung schwenkten 1932 zur neugegründeten Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) über. In ihren „10 Richtlinien“ bekannte sich diese von Pfarrern geführte kirchenpolitische Partei zu Rasse, Volkstum und Nation als von Gott geschenkten Lebensordnungen. Judenmission lehnte sie ab. Eheschließungen zwischen „Deutschen und Juden“ seien zu verbieten.

Mit dem Machtantritt Hitlers und der kirchlichen Machtergreifung der DC in den meisten Landeskirchen radikalisierte sich der traditionell vorhandene protestantische Antisemitismus auf gravierende Weise. Die Fülle entsprechender Bekenntnisse seit 1933 ist überwältigend. So publizierte der renommierte Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel unter dem Titel Die Judenfrage gleich zu Beginn der Hitlerzeit eine der einflussreichsten Stellungnahmen der Epoche. Er wolle mit seiner Schrift dem Kampf gegen das Judentum eine christliche Sinndeutung geben. Kittel beklagte die verderblichen Folgen der jüdischen Assimilation. „Sinn unseres antisemitischen Kampfes“ müsse sein, Juden wieder unter strenges Fremdenrecht zu stellen. Auch der Christ habe seinen Platz an dieser Kampffront. Letztlich liege die Erfüllung des Judentums in der Anerkennung Jesu als Erlöser auch der Juden. Durch leichtfertiges Taufen habe die Kirche seit Jahrhunderten schwere Schuld auf sich geladen. Kittel lehnte die Judenmission zwar nicht ab, betonte aber zugleich: Ein Jude werde durch den Übertritt nicht Deutscher, sondern bleibe „Judenchrist“. Diese sollten nicht Pfarrer in einer deutschen Kirche werden, vielmehr eine gesonderte judenchristliche Kirche bilden. Juden seien einst das Volk Gottes gewesen, sie sind es nun nicht mehr. Weil sie Jesus kreuzigten, seien sie heimatlos geworden. Im Neuen Testament erkannte der Tübinger Theologe das „antijüdischste Buch der ganzen Welt“. Die „unheilvolle Blut- und Rassenmischung“ seit der Aufklärung habe eine „Zersetzung“ des deutschen Volkes bewirkt und könne nur durch strikt völkische Politik korrigiert werden.

Für protestantisches Alltagsleben der Hitlerzeit war der „Bruderkampf im eigenen Haus“ zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche (BK) der beherrschende Konflikt. Im Zentrum standen die Haltung zur „Judenfrage“ sowie der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im eigenen Haus. Wo sie herrschten, betrieben die DC aus völkisch-antisemitischen Motiven die Tilgung aller jüdischen Spuren in Theologie, Liturgie und Kirchentradition. Das begann mit der schwer lastenden Frage: War Jesus Jude? Vielfach wurde das Jüdischsein der christlichen Gründerfiguren geleugnet oder durch obskure Theoriebildung ‚widerlegt’. „Nichtarische“ Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter wurden aus dem Dienst gedrängt. Das Alte Testament war als „Judenbuch“ aus der Bibel zu streichen. Hinzu kam eine Verdeutschung der traditionellen Liturgie. Kirchenlieder waren umzuschreiben: Es sollte künftig kein „Zion“ mehr und kein „Hosianna“ in der Kirche sein.

Vorträge über „Luther und die Juden“ oder „Adolf Stoecker als Bahnbrecher unserer Bewegung“ waren bei den DC an der Tagesordnung. Der Berliner Superintendent Johannes Schleuning dankte im März 1937 für die Sondernummer des Stürmers zur „Judenfrage“. Er bezeichnete die krass antisemitische Publikation des Hetzblatts als „machtvolle Verteidigung des Christentums und der christlichen Kirche gegen ihren Erbfeind – das Judentum.“ Mit Stolz betonte er, die von Hitler den Deutschen geschenkten „Nürnberger Gesetze“ hätten ihre Vorläufer in der Judengesetzgebung der christlichen Kirche gehabt. Der im Stürmer geschilderte Christus, so meinte der Pfarrer, sei „Arier“, ein nordischer Held und entspreche der Sicht des „großen Christuskünders“ Houston Stewart Chamberlain.

Die DC vermochten etwa ein Viertel der Evangelischen durch ihre antisemitischen Ressentiments zu prägen. Die BK vermied explizite Statements zur NS-Judenpolitik. Vorherrschend war die Meinung, dies sei politische Angelegenheit des Staates, nicht jedoch der Kirche. Die BK kümmerte sich um „getaufte Juden“ in ihren Reihen und unterstützte sie nach Kräften. Aber trotz jahrelanger Debatten zur theologischen Klärung der „Judenfrage“ kamen BK-Theologen nicht zu handlungsrelevanten Resultaten. Die Kirchenopposition konnte in dieser Frage nicht mit einer Stimme sprechen. Vielfach herrschte Ambivalenz im Bekenntnislager, neben Sympathieerklärungen für Verfolgte gab es explizit antisemitische Stimmen. Pfarrer Siegfried Knak, Mitglied im Berliner Bruderrat und Berliner Missionsdirektor, sah in einem 1935 formulierten „Wort der Mission zur Rassenfrage“ das jüdische Volk unter einem besonderen Gericht. Es bringe jenen Völkern, in denen es lebe, oft Verderben. Der Staat sei daher zu harten Maßnahmen befugt. Im Judentum erkannte er einen „Schädling“, einen Feind des Christentums.

Wenige Ausnahmen

Ein öffentliches Wort der BK als Institution zum Streitthema kam nie. Die Barmer Theologische Erklärung (Mai 1934) enthielt keine These zur „Judenfrage“. Einzelstimmen wie Dietrich Bonhoeffer mit seinem Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“ vom April 1933 oder die Studienrätin Elisabeth Schmitz mit ihrer Solidarität anmahnenden Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ (1935) gehörten zu den wenigen Ausnahmen.

Zu den Novemberpogromen 1938 schwiegen die Protestanten im Allgemeinen. Vereinzelt gab es explizite Zustimmung zu den Gewaltereignissen, so bei Landesbischof Martin Sasse in Thüringen oder Landesbischof Walther Schulz (Mecklenburg), in dessen „Mahnwort zur Judenfrage“ es zwei Wochen nach den Pogromen heißt: Kein christlicher Deutscher könne die Maßnahmen gegen die Juden „bejammern“. Das „jüdische Gift der Zersetzung“ müsse restlos aus dem deutschen Volk ausgeschieden werden. Kritische Stimmen wie jene von Helmut Gollwitzer in seiner Dahlemer Bußtagspredigt vom 16. November 1938 blieben seltene Ausnahmen. Maßgeblich initiiert durch Walter Grundmann, einen theologischen Schüler Gerhard Kittels, wurde im Mai 1939 auf der Wartburg bei Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegründet. Das von mehreren Landeskirchen finanziell unterstützte Institut hatte zum Ziel, Theologie, Liturgie und kirchliche Liedkultur von jüdischen Spuren zu „reinigen“ und damit eine dem NS-Regime wohlgefällige, „entjudete“ Kirche anzubieten. Die ebenso christlich wie rassistisch motivierte Institutsarbeit begleitete den Krieg Hitlers mit seinen Deportationen und Holocaust bis Kriegsende 1945.

Das Wissen um den massenhaften Judenmord im Osten drang im Verlauf des Krieges weit in die NS-Gesellschaft vor. Ein präziser Augenzeugenbericht von Kurt Gerstein über den Massenmord in Gaskammern durch Zyklon B gelangte im August 1942 an Kirchenführer wie Otto Dibelius und vermutlich durch ihn an die Bischöfe Hans Meiser in Bayern und Theophil Wurm in Württemberg. Öffentliche Proteste der Bischöfe folgten nicht. Allerdings legte Bischof Wurm wiederholt brieflich Einspruch bei NS-Führern ein. In seinem Schreiben vom 16. Juli 1943 an Hitler verurteilte er die Vernichtungsmaßnahmen. Sie stünden im schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzten das Fundament allen abendländischen Denkens und Lebens. Wie sich zeigte, blieb diese Art von vertraulicher Eingabenpolitik wirkungslos.

Offener Protest gegen die staatlichen Maßnahmen war gefährlich. Im Gottesdienst verkündete der junge reformierte Theologe Helmut Hesse in Wuppertal im Juni 1943: Die Kirche habe jedem Antisemitismus in ihren Gemeinden zu widerstehen. Dem Staat gegenüber habe sie die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und gegen jeden Versuch, das Judentum zu vernichten, Widerstand zu leisten. „Nichtarier, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der unter die Mörder Gefallene.“ Zwei Tage später wurde er verhaftet und nach langer Gefängnishaft in Wuppertal in das KZ Dachau eingeliefert. Dort verstarb der Theologe am 24. November 1943 im Alter von 27 Jahren. 

 

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