Staat als Gottes Verheißung?
Verena Mildner-Misz (33) hat in ihrer Doktorarbeit untersucht, wie der westdeutsche Protestantismus zwischen dem Siebentagekrieg 1967 und dem Ende des Ostblocks 1989 die Lage in Israel und Palästina beurteilte.
Geboren und aufgewachsen bin ich in Wuppertal. Meine Mutter sang im Kirchenchor und brachte mir die kulturelle Seite des Christentums näher. Und soziales Engagement war für sie eine Konsequenz des christlichen Glaubens. Darauf legte sie großen Wert. Nach dem Abitur machte ich im Rahmen eines Programms der Rheinischen Kirche ein Freiwilliges Soziales Jahr in Israel. In Jerusalem faszinierten mich die drei monotheistischen Religionen. Und Begegnungen mit Überlebenden der Shoah weckten mein Interesse an der Geschichte. Mir wurde bewusst, wie vergangene Ereignisse in die Gegenwart hineinwirken. Diese Erfahrungen veranlassten mich, an der Universität Münster Geschichte und Philosophie zu studieren. Doch ich setzte mich auch in Theologievorlesungen, und mich begeisterte die Breite dieses Faches. Nach einem Jahr tauschte ich die Philosophie gegen die Theologie. Ich wollte Lehrerin für Geschichte und Religion werden und schloss das Studium mit dem Master für Gymnasium und Gesamtschule ab.
Während des Bachelorstudiengangs hatte ich eine Stelle als Hilfskraft bei dem Münsteraner Kirchenhistoriker Albrecht Beutel. Meine Bachelorarbeit beleuchtete die kirchlichen Reaktionen auf den Eichmannprozess 1961. Und meine Masterarbeit befasste sich mit der christlichen Judenmission nach 1945. Während ich die beiden Arbeiten erstellte, fiel mir auf, dass in den kirchlichen Stellungnahmen zum Judentum oft der Nahostkonflikt erwähnt wurde, aber es zu diesem Aspekt kaum wissenschaftliche Arbeiten gab. Und in Gesprächen mit Professor Beutel, meinem Doktorvater, und anderen Dozenten entwickelte sich das Thema meiner Doktorarbeit: Westdeutscher Protestantismus und Nahostkonflikt. Genese und Entwicklungen einer theologisch-politischen Kontroverse 1967–1989. Als Horizont habe ich die Zeit zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und den Ereignissen des Jahres 1989 gewählt, in deren Folge sich die EKD wiedervereinigte. Eine Berücksichtigung der ostdeutschen Landeskirchen hätte den Rahmen meiner Arbeit gesprengt.
Für meine Arbeit untersuchte ich Verlautbarungen aus der EKD und die Haltung von zwei unierten Landeskirchen, der Rheinischen Kirche und des Bereiches West (West-Berlin) der berlin-brandenburgischen Landeskirche. Die lutherische Landeskirche Württembergs wählte ich aus, weil in ihr der Pietismus eine starke Stellung hat. Eine einflussreiche Gruppe war die Ludwig-Hofacker-Vereinigung. Hier sah man den Konflikt im Nahen Osten als Vorzeichen eines apokalyptischen Endkampfes. Mit der unbedingten Unterstützung des Staates Israel verband sich für den Vorsitzenden Fritz Grünzweig die Hoffnung auf die Parusie Christi und die mit ihr verbundene Bekehrung aller Jüdinnen und Juden. Das wird beispielsweise deutlich, wenn er zur Fürbitte „für den Teil des jüdischen Volkes“ aufruft, „der ins Land der Väter heimgekehrt ist und so für die ganze Judenschaft heilsgeschichtlich repräsentativ“ ist. Grünzweig rief auf, „um die Wiederkehr unseres Herrn“ zu bitten und darum, „daß auch Israel bald und neu in den Ruf des Advent ausbrechen kann“.
In West-Berlin gab es schon 1967 eine Kontroverse über den Nahostkonflikt. Damals hob Bischof Kurt Scharf (1902–1990) im Namen der Kirchenleitung die bleibende Erwählung des Judentums hervor. Zudem rief er zur Solidarität mit dem Staat Israel auf, den er einen Teil der „Verheißung Gottes“ nannte. Das führte zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen denen, die sich im christlich-jüdischen Dialog engagierten, und denen, für die die Erwählung der Juden auf die Christen übergegangen ist. Die Rheinische Kirche war mit ihrem Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 und ihrem Nein zur Judenmission unter den deutschen Landeskirchen Vorreiterin im christlich-jüdischen Dialog. Umstritten war in der Landeskirche die Feststellung, dass „die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“ ist. Die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel war zunächst Teil des Neuorientierungsprozesses zum Judentum. Die Beschäftigung vor allem mit christlichen Palästinensern und Palästinenserinnen hat in den Evangelischen Kirchen erst in den 1980er-Jahren einen größeren Raum eingenommen.
Ebenfalls befasste ich mich mit den Theologieprofessoren Helmut Gollwitzer (1908–1993), Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) und Rolf Rendtorff (1925–2014). Ihnen war der Dialog mit dem Judentum – auch vor dem Hintergrund der Shoah – ein zentrales Anliegen. Seine Solidarität mit dem Staat Israel begründete Rendtorff nicht heilsgeschichtlich, sondern mit dem Holocaust. Gollwitzer erklärte schon in den Fünfzigerjahren, im Staat Israel seien „auserwähltes Volk und verheißenes Land“ zusammengekommen. Er sah im Staat Israel auch einen sozialistischen Pionierstaat. Marquardt neigte zu einer heilsgeschichtlichen Überhöhung des Staates Israel. Der Dachverband der Evangelischen Studentengemeinden (ESG) gehörte in den 1970er-Jahren zu der antizionistischen Neuen Linken. Er lehnte den Staat Israel als kapitalistisches und imperialistisches Herrschaftssystem ab, das auf der Unterdrückung der Palästinenser beruht. Jede Beziehung zwischen Staat Israel und Judentum wurde in diesem Deutungskontext strikt abgelehnt. Für meine Arbeit habe ich fünf Jahre gebraucht. Ich forschte natürlich auch in Archiven: zur EKD und zur Region West-Berlin der berlin-brandenburgischen Landeskirche im Evangelischen Zentralarchiv Berlin, zur Rheinischen Kirche im landeskirchlichen Archiv in Düsseldorf, zur Ludwig-Hofacker-Vereinigung im Archiv der württembergischen Landeskirche und zum ESG-Dachverband im ehemaligen „Apo-Archiv“ der FU Berlin, das heute Teil des Universitätsarchivs ist.
Überrascht hat mich im Laufe der Arbeit, dass es bei den Auseinandersetzungen, die in den Kirchen über den Nahostkonflikt geführt wurden, letztlich häufig um die theologische Einstellung zum Judentum und zum Staat Israel ging. Im Juli habe ich meine Doktorarbeit erfolgreich verteidigt. Und ich rechne damit, dass sie im Laufe des kommenden Jahres veröffentlicht wird.
Aufgezeichnet von Jürgen Wandel
Verena Mildner-Misz
Verena Mildner-Misz ist Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".