Diktatur ist, wenn alle mitmachen
Vor 35 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer, und es begann der Anfang vom Ende der DDR, in der die Staatssicherheit über Jahrzehnte versuchte, Oppositionelle zu „zersetzen“ und jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Andreas Fincke, heute Pfarrer i. R. in Erfurt, erzählt von damals und was er später dann in den Akten der Stasi fand.
Es war ein Frühlingstag im Mai 1978, als ein langjähriger Freund aus der Nachbarschaft mal wieder bei uns klingelte. Er habe Karten für das Konzert einer Rockband, berichtete er, und: „Kommste mit?“ An diese auf den ersten Blick harmlose und für 18-Jährige nicht gerade ungewöhnliche Szene erinnerte ich mich, als ich Anfang der 1990er-Jahre erstmals die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR über mich einsah. Berge von schwer lesbaren Dokumenten hatte eine freundliche Mitarbeiterin bereitgelegt. Mein Leben, genauer: mein bis dato recht kurzes Leben, das Leben meiner Freunde – aufgezeichnet und abgeheftet unter kryptischen Aktendeckeln. Mehrere tausend Dokumente warteten auf mich, viele schwer zu entziffern. Kleinste und völlig banale Ereignisse hatte man notiert, aber auch sehr private Details. Zahlreiche Briefe fand ich in Abschrift, Zeichnungen, Fotos, Gedichte. Eine dicke Akte enthielt ausschließlich abgehörte Telefongespräche – das Telefon in meinem Elternhaus wurde viel genutzt, mein Vater war Arzt.
Jahre zuvor hatte mich mein langjähriger Spielkamerad „Kommste mit?“ gefragt. Ich erinnerte mich im Lesesaal genau, dass diese Frage seinerzeit ein seltsames Gefühl in mir auslöste. J., der sich nie für Rockmusik interessiert hatte, war „zufällig“ in den Besitz begehrter Karten gekommen und wollte mit mir ein ihm fremdes Konzert besuchen und ein wenig plaudern. Irgendwas schien nicht zu stimmen. Aber was?
Als ich die Akten des MfS einsah, fand ich immer wieder Berichte über solche inszenierten Zufälle. Im Juli 1979 berichtet ein als IM („Inoffizieller Mitarbeiter“) tätiger junger Mann dem MfS, dass er „auftragsgemäß“ unsere Wohnung aufgesucht habe. Obwohl er wusste, dass ich unterwegs war, gab er vor, mich besuchen zu wollen. Nachdem meine damalige Frau ihm mitteilte, dass ich nicht anwesend sei, ergab sich nun „zufällig“ die Gelegenheit, sie im Plauderton auszuhorchen. Geschickt hatte das MfS einen Vorwand für diesen Besuch konstruiert. Denn beim Besuch einige Tage zuvor „vergaß“ der vermeintliche Freund seine Regenjacke voller Hinterlist. „Die Abholung dieser Kutte war der äußere Anlass meines Besuches“, berichtet der clevere Kerl dem MfS.
Es dürfte etwa in meinem 17. oder 18. Lebensjahr gewesen sein, als ich erstmals in den Fokus des MfS geriet. Die ältesten Dokumente, die mir vorliegen, sind auf Juni 1978 datiert. Sie belegen jedoch zugleich, dass das MfS mich schon vorher in einem so genannten „Operativen Vorgang“ registriert hatte. Was der Auslöser für diesen frühen Argwohn war, ist unklar. Mit dem Mai 1978 geriet ich jedoch endgültig in die Aufmerksamkeit des MfS. Der Anlass dafür lag gar nicht bei mir, doch macht genau dies meine Akte der Jahre 1978 bis 1980 interessant.
Was war passiert? In der Nacht zum 11. Mai 1978 wurden in der Nähe meines Elternhauses kleine Flugblätter von der Größe einer Zigarettenschachtel gefunden. „Erich, wir sind sauer, Schluss mit der Mauer“ lautete die staatsfeindliche Parole, gedruckt mit einem selbstgebastelten Stempel. Der Urheber dieser Flugblätter konnte zeitnah nicht gefunden werden, worauf die Aufmerksamkeit des MfS auf Personen ausgeweitet wurde, die in der Nähe des Fundorts wohnten und denen man das irgendwie zutraute. In meinen Akten steht, dass ich als Lehrling über Schreibpapier verfügte und in der Küche meines Elternhauses ein Kruzifix hing. Das ist zweifellos verdächtig! Wobei vermutlich eine viel größere Rolle spielte, dass mein Vater ärztlicher Direktor eines großen kirchlichen Krankenhauses war und weite Teile der Verwandtschaft in Westdeutschland wohnten. Wie viele Arztfamilien in der DDR lebten meine Eltern in einer inneren Emigration: Sie verachteten die DDR, vermieden soweit möglich jede Berührung mit dem politischen System – sie wären aber nie staatskritisch aktiv geworden.
Das MfS veranlasste eine so genannte „Geruchsprobe“, das heißt, unter irgendeinem Vorwand wurde ich auf ein Stück Stoff gesetzt. Hunde erschnüffelten dann, ob es eine Geruchsübereinstimmung mit den Flugblättern gab. Das verlief in meinem Fall positiv, womit ich als Urheber der Flugblätter für die Stasi feststand. Dass die Hunde sich beim Schnüffeln vertan haben könnten, war nicht denkbar.
Den „Neuen“ beobachtet
Ende Mai 1978, also wenige Tage nach der Flugblattaktion, hatte ich einige Freunde in das Elternhaus zu einer Feier eingeladen. Üblicherweise ging man, zumal in diesem Alter, lässig mit den Gästen um. Selbst, wenn Freunde weitere Leute mitbrachten. Über diese Feier fand ich in meinen Akten den Bericht eines MfS-Agenten, der beschreibt, wie ich als Gastgeber auf das Erscheinen einer den meisten von uns unbekannten Person reagierte. Er berichtet, dass der Fremde nur Zugang zum Fest finden konnte, weil eine uns bekannte junge Frau ihn mitgebracht hatte. Und weiter: „Im Verlauf des Abends beobachtete Fincke diesen ‚Neuen‘. Dabei musste er feststellen, dass der Freund recht wenig erzählte und auch Alkohol trank, obwohl er mit einem Trabant gekommen war. Des Weiteren machte Fincke stutzig, daß der Freund mit 19 Jahren mit einem Auto kam.“
Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass es in der DDR nur wenige private Autos gab. Dass ein 19-Jähriger einen Trabant fuhr, war äußerst selten. Ferner galt in der DDR eine rigorose 0,0-Promillegrenze, was Fahrten mit dem Auto zu einem Fest erklärungsbedürftig macht. Eine naheliegende Deutung besteht darin, dass der obskure „Freund“ für das MfS arbeitete und daher über Geld und Auto verfügte. Dazu würde auch passen, dass er wenig von sich erzählt.
Und was steht in den Akten? Über mich lesen wir: „Da er nach seinen Worten schon einige Male mit Leuten zu tun hatte, die ihm nicht ‚echt‘ erschienen sind, verbot er S. (Name geschwärzt), diesen Freund noch einmal mitzubringen. Zum Schluss sagte Fincke: Staatssicherheit bekommt von mir keine Chance.“ Der letzte Satz ist in der Stasi-Akte mehrfach dick unterstrichen.
Wir bewegen uns im Frühsommer 1978. Damals war ich Lehrling und absolvierte eine Berufsausbildung mit Abitur. Auch hier sahen sich Lehrer, Ausbilder, Schulleitung und Klassenkameraden stets berufen, abweichendes Verhalten zu maßregeln. Das belegt in meinem Fall ein Dokument vom 10. Mai 1978. Es enthält eine Fülle persönlicher und privater Informationen über mich und gibt als Quelle die „Angaben des Klassenlehrers W. >Name geschwärzt< sowie des stellvertretenden Direktors der Berufsschule“ an. Erneut bestätigt sich, was oft gesagt wurde: An der Unterdrückung Andersdenkender haben sich alle beteiligt: Der Klassen- und der Deutschlehrer, der Schuldirektor, Klassenkameraden und andere. Inhaltlich ragt ein Satz hervor: „Finke erhält keinen Studienplatz.“ Dieses Urteil wurde etwa sechs Wochen vor meinem Abitur in Absprache von Berufsschule und Stasi gefällt und mir nie mitgeteilt.
In der DDR waren viele Lebenswege vom Staat vorgezeichnet. So auch bei mir. Im Anschluss an Abitur und Berufsausbildung im Sommer 1978 arbeitete ich einige Zeit in meinem neuen Beruf, bevor ich zum 1. November die Einberufung zum Grundwehrdienst der NVA erhielt. Ähnlich wie in anderen totalitären Staaten diente in der DDR die 18-monatige Militärzeit nicht nur der militärischen Grundausbildung, sondern auch der Disziplinierung und Gleichschaltung junger Männer. Ich hatte 19-jährig im Sommer 1978 – zugegebenermaßen sehr jung – geheiratet und war auf die bevorstehende Armeezeit seelisch nicht vorbereitet.
Gut vorbereitet hat sich hingegen das MfS auf meine Armeezeit. Bereits vor meiner Einberufung wurden Absprachen zwischen dem MfS und dem in der Kaserne zuständigen Stasi-Verbindungsoffizier getroffen. Das dokumentiert ein fünf Seiten umfassender Bericht vom 31. Oktober 1978. Hier heißt es unter anderem, dass man für mich in der Kaserne „eine Einsatzmöglichkeit (…) gesucht hat, bei der eine inoffizielle Bearbeitung und Kontrolle gewährleistet werden kann“. Mit anderen Worten: Ich sollte separiert und weiterhin „bearbeitet“ werden. Das MfS spekulierte auf die günstige Gelegenheit, mich mit Soldaten auf einem Zimmer unterzubringen, die für das MfS arbeiteten und mich in der vielen inhaltsarmen Zeit aushorchen sollten. Immerhin hatte man mir nicht nur die Sache mit den Flugblättern noch nicht nachweisen können, und mehrere Spitzel bestätigten inzwischen auch meine kritische Haltung zur DDR. Paradoxerweise erwies sich diese Separierung in der Kaserne als für mich günstig, weil ich so weniger der Willkür gewalttätiger Mitsoldaten ausgesetzt war. Mitunter steht das Böse im Dienst des Guten …
Der Soldat, der mit mir viele Monate das Zimmer teilte, erzählte mir bereits zur Begrüßung, was sein Traumberuf wäre: Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit. Schnell war mir klar, dass mit ihm politische Diskussionen wenig Sinn hatten. Menschlich jedoch mochten wir uns. Und so half er mir, die schweren anderthalb Jahre Grundwehrdienst zu überleben.
Sämtliche Briefe geöffnet
Die massive Beobachtung durch das MfS während meiner Armeezeit war mir in ihrer Dramatik nicht klar. Zwar bemerkte ich immer wieder seltsame Details, aber ich konnte sie in ihrer Gesamtheit nicht wirklich deuten. Dafür ein Beispiel: Bei einem Fest sprachen meine militärischen Vorgesetzten dem Alkohol kräftig zu. Beschwipst sagte einer zu mir: „Fincke, du bist eigentlich ganz in Ordnung, aber warum bist du so gegen unseren Staat?“
Während der anderthalb Jahre meiner Armeezeit hat das MfS sämtliche an mich gerichteten Briefe sowie alle von mir geschriebenen Briefe geöffnet, kopiert beziehungsweise abgeschrieben und ausgewertet. Mitunter führte das dazu, dass meine militärischen Vorgesetzen Details aus Briefen kannten, die mich erst am nächsten Tag erreichten. So sprach mich ein vorgesetzter Offizier darauf an, dass meine Frau die Auflösung unserer Ehe wünscht. Mir war das in diesem Moment neu …
Dieser alltägliche Verstoß gegen das Postgeheimnis – auch die Verfassung der DDR kannte ein Postgeheimnis – wurde in der Sprache des MfS „M-Kontrolle“ genannt. Dass die Stasi keinerlei Schamgrenzen kannte, belegt ein Aktenvermerk vom 15.12.1978. Den Briefen meiner Frau hatte man entnommen, dass sie mich am Standort besuchen wollte und für den Abend ein Hotelzimmer gebucht hatte. Dazu das MfS: „Dieser Umstand wurde operativ genutzt, um aus evtl. Unterhaltungen während des Aufenthaltes des FINCKE im Hotel Hinweise über Tatbeteiligung, Verbindungen u. a. operativ bedeutsame Informationen zu erhalten.“ Man scheute keine Mühe. Bereits einen Tag vor der Ankunft der jungen Frau wurde Abhörtechnik im Hotelzimmer installiert und im Nebenzimmer ein „Stützpunkt für die Genossen“ vorbereitet. Die „Kundschafter an der unsichtbaren Front“, so die Selbstbezeichnung der Stasi, sollten es offensichtlich auch schön warm haben – es war ein kalter Abend im Advent.
Wir ahnten von dem nichts. Als ich in den 1990er-Jahren erstmals meine Stasi-Akten einsah, war ich über diese Geschichte und den großen Aufwand erstaunt. Immerhin waren an der Aktion (mindestens) zwei Majore und zwei Oberleutnants des MfS beteiligt. Und was kommt heraus, wenn vier gestandene Männer zwei 19-Jährige im Bett belauschen? „Insgesamt kann eingeschätzt werden, dass direkte Hinweise auf stattgefundene Aktivitäten nicht geführt wurden.“ Etwas weniger verschwurbelt hätte man auch sagen können: Nichts.
Man fragt sich ja bisweilen, wie totalitäre Staaten wie die DDR, Russland oder der Iran funktionieren. Sie leben davon, dass alle mitspielen: Geheimdienstmitarbeiter sowieso, Postangestellte sortieren die zu öffnenden Briefe aus, die Hoteldirektion besorgt dienstbeflissen zwei nebeneinander liegende Hotelzimmer, die Rezeptionistin lächelt, wenn der Soldat mit seiner Frau kommt. Diktatur ist, wenn alle mitmachen.
Ich ahnte seinerzeit nicht, in welcher Bedrängnis ich war. Im Sommer 1980 notiert die Stasi, dass ich zu einer Gruppe von Jugendlichen gehöre, die sich „die ‚Erkämpfung von Demokratie in der DDR‘ zu ihrer Zielstellung gemacht haben.“ In diesem Kreis „zählt Fincke zu den Personen, die sich durch ihre feindlich-negative Einstellung besonders hervorheben und offen für eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse in der DDR eintreten. (Er ist bemüht), im Innern der DDR eine Opposition zu schaffen. In seiner Gesprächsführung geht er von dem Standpunkt aus, daß man in der DDR ‚etwas tun‘ muß, um Veränderungen herbei zu führen.“ Wenn man das heute liest, mag man das als nachvollziehbare Haltung eines jungen, kritischen Intellektuellen gegenüber der tristen DDR-Diktatur empfinden. Aber diese Einschätzung durch das MfS war gefährlich. So wundert es nicht, dass in dem genannten Bericht eine Anklage nach § 106 Absatz 2 DDR-Strafgesetzbuch wegen „staatsfeindlicher Hetze“ unter Androhung einer Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren erwogen wird.
Verhältnis nicht belasten
Etwa zeitgleich registrierte das MfS mein Interesse an einem Studium der Evangelischen Theologie. In den Akten las ich, dass man unter diesen Umständen das empfindliche Verhältnis von Staat und Kirche nicht mit einer Anklage gegen mich belasten wollte. So gesehen hat mir die evangelische Kirche das Leben gerettet, noch bevor ich in ihren Dienst getreten war.
Die Stasi-Akten beschreiben nur eine Seite der Diktatur. Erzählen könnte man auch von guten Freunden, von Menschen, die sich der Lüge verweigert haben und seinerzeit arge Benachteiligungen in Kauf nahmen. Ich könnte von mutigen Aktionen berichten, die in den Akten nicht vorkommen, weil sie die Stasi nie zuordnen konnte.
Die DDR ist vergangen. Aber sie lebt in den Herzen vieler Menschen, welche sie heute idealisieren. Und die Methoden der Stasi leben in anderen totalitären Staaten fort. Denn nicht nur wir haben die Stasi-Akten gelesen – auch die Emissäre fremder Geheimdienste. Dass zudem ein Mann aus dem Umfeld der Dresdner Stasi heute als Präsident der Russischen Föderation in Europa Krieg führt, zeigt, wie wenig vergangen die Vergangenheit ist.