„Die Politik mit ins Boot holen“

Gespräch mit dem EKD-Kulturbeauftragten Johann Hinrich Claussen über die Chancen und Leerstellen des so genannten Kirchenmanifests und was künftig geschehen sollte
Die Kirche des Wortes als Ort des Buches: Bücherkirche Heilig Geist in Mönchengladbach in Mischnutzung als Gemeindekirche und modernes, gut sortiertes Antiquariat mit beweglichem Mobiliar zur flexiblen Raumnutzung.
Foto: Ralf Klöden
Die Kirche des Wortes als Ort des Buches: Bücherkirche Heilig Geist in Mönchengladbach in Mischnutzung als Gemeindekirche und modernes, gut sortiertes Antiquariat mit beweglichem Mobiliar zur flexiblen Raumnutzung.

zeitzeichen: Herr Dr. Claussen, seit Monaten wird das so genannte Kirchenmanifest diskutiert, zumindest bei den Leuten, die sich für das Thema Kirchengebäude und Kirche interessieren. Rund 20 000 Menschen haben es bereits unterschrieben? Sie auch?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Nein, habe ich nicht.

Und warum nicht?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ich beschäftigte mich natürlich intensiv mit diesem Thema und bin mit einigen der Akteure im Gespräch. Aber das Besondere an dieser Initiative ist, dass nicht „offizielle“ Kirchenleute sie auf den Weg gebracht haben, sondern engagierte Fachleute, um ein Gespräch auch in der Gesellschaft anzuzetteln. Das ist eine gute Rollenaufteilung. Deshalb bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, es selber zu unterzeichnen. Aber ich habe viele Menschen darauf aufmerksam gemacht, sich damit zu beschäftigen.

Das heißt, die grundsätzliche Ausrichtung dieses Papieres oder dieses Manifestes teilen Sie schon?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ein wichtiges Anliegen teile ich absolut, nämlich, dass die Zukunft der Kirchenbauten in Deutschland nicht nur eine Sache der beiden großen Kirchen sein darf, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche und damit politische Frage sein sollte. Ich finde es auch gut, über unterschiedliche neue Rechtsformen nachzudenken, mit denen man diese große Aufgabe bewältigen könnte.

Etwas Besseres als eine breite Diskussion darüber, wie auch die Allgemeinheit stärker Verantwortung für Kirchgebäude übernehmen könnte, kann den Kirchen doch gar nicht passieren, oder?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ja, natürlich. Das Thema ist für uns in der Kirche allerdings nicht neu: Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert, in der Kirche, aber auch im Fachgespräch mit staatlichen Behörden. Aber außer gelegentlichen Skandalisierungen oder kuriosen Geschichten, was aus Kirchgebäuden so alles werden kann, vermisse ich schon lange einen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber, was mit diesem großen Kulturerbe geschehen soll. Und wenn das Kirchenmanifest dazu beiträgt, diesen öffentlichen Denkprozess zu befördern, dann freut mich das sehr.

Und wo haben Sie Bedenken?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Eine ganz zentrale Frage wird im Kirchenmanifest nicht gestellt, nämlich die, dass wir sicher auch darüber nachdenken müssen, Kirchengebäude ganz aufzugeben. Die Initiatorinnen und Initiatoren sind meist Personen aus dem Bereich des Denkmalschutzes. Insofern ist es verständlich, dass sie darüber nicht konkret nachgedacht haben …

… weil ihnen das Herz blutet?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Mein Herz blutet auch, wenn es darum geht, Kirchengebäude aufzugeben oder zurückzubauen. Es klänge ja sehr seltsam, wenn ich als Theologe den Abriss vieler Kirchen forderte. Nichtsdestotrotz gehört auch diese Frage mit in das Gesamtportfolio, das jetzt diskutiert werden muss. Im Manifest geht es nur um Erhalt, das ist zu wenig und wird der Situation nicht gerecht.

Die Autor:innen des Manifests begründen ihre Forderungen auch damit, dass diese Räume eigentlich sowieso nicht nur den Kirchen gehörten, sondern traditionell auch immer Räume für die Allgemeinheit seien. Was sagen Sie dazu?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Das Wort „gehören“ ist interessant, weil es ganz unterschiedlich aufgefasst werden kann. In einem elementaren Sinne gehören natürlich die Kirchengebäude nicht nur den Kirchen. Sie haben mehrere Sinndimensionen und auch Funktionen, die über den kirchengemeindlichen Kern hinausweisen. Deshalb müssen wir alles, was wir verändern, mit dem Denkmalschutz und anderen staatlichen Stellen abstimmen. Außerdem erhalten wir schon jetzt viele Zuschüsse zur Denkmalpflege, sowohl vom Staat als auch von zivilgesellschaftlichen Partnern. Insofern sind Kirchenbauten kein „kirchliches Privateigentum“, über das wir allein verfügen. Andererseits „gehören“ die Kirchengebäude juristisch in der Regel eben den Kirchengemeinden, und das ist auch gut so. Beides ist also richtig: Die Kirchen „gehören“ den Kirchen, aber nicht nur ihnen. Das muss man sinnvoll miteinander in Verbindung setzen. Gerade bei Kirchengebäuden, die wir als Kirche nicht mehr allein nutzen können, müssen neue Formen gefunden werden, Nutzung und Verantwortung zu teilen.

Was heißt das konkret?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Dass wir als Kirche in neuen Verantwortungsgemeinschaften beteiligt bleiben, aber eben die Verantwortung teilen. Deshalb suchen wir Partner und lernen dabei, die Verfügungsgewalt über unsere Gebäude zu teilen.

Aber da gibt es doch aus den vergangenen Jahrzehnten schon viele Einzelbeispiele, wo das geschieht. Für Kirchengebäude vielleicht weniger, aber doch in großem Stil für Gemeindehäuser oder -zentren?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Es gibt gute Beispiele, wie Gemeindehäuser in Stadtteilhäuser umgewandelt wurden, die von Kirchengemeinde und Kommune gemeinsam betrieben werden. Nur ein Beispiel: In Berlin-Spandau ist das Paul-Schneider-Haus der Luther-Gemeinde in ein wirklich schönes Stadtteilhaus verwandelt worden. Dort findet wichtige soziale Arbeit statt, und sonntags wird dort Gottesdienst gefeiert. Ein anderes Beispiel sind die vielen Kirchbauvereine in den östlichen Bundesländern. Da haben in den Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung ganz bunt zusammengesetzte Vereine Kirchen gerettet – häufig übrigens mit Hilfe der wunderbaren Kiba-Stiftung. Auch das Leben in den sanierten Kirchen wird gemeinsam gestaltet. Da ergibt sich dann von der Struktur her eine echte Machtteilung, also eine Aufgabe von Verfügungshoheit seitens der Kirche.

Nun sind Gemeindehäuser vielleicht etwas unproblematischer, was Umwidmungen oder andere Nutzungen angeht, weil sie doch einen profaneren Charakter als Kirchen haben. Was ist es, was eine Kirche für uns Evangelische zu einem heiligen Raum macht?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Heilig ist ein Raum nicht an und für sich in einer objektiven Weise, sondern weil Menschen darin Heiliges erfahren, und das kann im Gottesdienst geschehen. Das kann sich auch in persönlichen Begegnungen ereignen oder in der Erfahrung von Musik. Zudem kann der Raumeindruck – still, schön, erhaben – der privaten Frömmigkeit dienen. Deshalb schlägt mein Herz natürlich eher für eindrucksvoll gestaltete und ästhetisch geformte Sakralräume. Allerdings höre ich immer wieder von Kolleginnen und Kollegen, sie würden lieber die alte historische Sakralkirche aufgeben, weil die sie im Erhalt überfordert und außerdem gar nicht zu ihrer konkreten Gemeindearbeit passt. Anders als das möglicherweise auf den ersten Blick „hässliche“ Gemeindehaus aus den 1970er-Jahren, das jedoch für die Gemeindearbeit und für die am kommunalen Gemeinwesen orientierte Arbeit stimmiger ist als der „Tempel“.

Trotzdem scheint in kirchlichen Kreisen die Sorge verbreitet, dass gemeinsam verwaltete Sakralräume ihren Charakter verlieren, wenn die Kirchengemeinde die Deutungshoheit verliert.

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ich habe keine Angst, dass uns durch das Teilen von Nutzung und Verantwortung an Kirchengebäuden etwas verlorengeht. Im Gegenteil: Wir öffnen damit die Räume. Allerdings sollten wir es uns nicht zu leicht machen. Deshalb fände ich es problematisch, wenn wir uns als Kirche ganz aus der Verantwortung für ein Kirchengebäude herausziehen. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung bleiben wir sowieso immer damit identifiziert – jedenfalls solange ein Gebäude als Kirche erkennbar bleibt.

Den Kirchenraum mit anderen teilen, eigenen Raum ein Stück weit aufgeben – was bedeutet das letztlich für das Selbstverständnis von Kirchen und Gemeinden?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Das ist die entscheidende Frage. Wir haben es ja eben nicht nur mit einem reinen Immobilienproblem zu tun. Es geht hier immer auch um das theologische Bild unserer Kirche. An der Diskussion zeigt sich, dass sich das kirchliche Selbstverständnis rasant und von Grund auf verändert. Die praktischen Sorgen, zum Beispiel um Geld und Erhalt, sind das eine. Doch ich finde, wir haben auch einen geistlichen Klärungsbedarf. Denn die Orientierung an alten Modellen sitzt tief, und es ist nicht leicht, sich davon zu lösen.

In welche Richtung sollte es also gehen?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Wir werden institutionell weniger, das verbindet uns mit allen anderen großen Institutionen. Darauf müssen wir uns einstellen und eine eigene Theologie des Weniger-Werdens formulieren. Entscheidungen über Gebäude sind immer sehr hart, emotional belastend und müssen auf sehr komplexe Fragestellungen eine Antwort geben. Sie werden übrigens am Ende zu einem großen Teil von Ehrenamtlichen getroffen, die dafür hohen Respekt verdienen. Aber was immer in den Einzelfällen am Ende herauskommt, es sollte die Prämisse gelten: Wir werden weniger, aber wir geben uns deswegen nicht auf. Insofern wünsche ich mir und meiner Kirche, dass wir uns für neue Realitäten, Chancen und Menschen öffnen und mit anderen in die Kooperation gehen. Das ist immer die bessere Möglichkeit, als sich auf sich selbst zurückzuziehen, sich zu verhärten, sich einzuigeln und so zu versuchen, die eigene Zukunftsangst durch mehr Kontrolle in den Griff zu bekommen. Das wird nichts.

In der evangelischen Kirche bildet man sich ein, besonders vorbildlich öffentlich zu kommunizieren, weil wir ja angeblich so „demokratisch“ sind. Im Kirchenmanifest wird nun gefordert, es bräuchte bei Entscheidungen über die Zukunft von Kirchengebäuden eine größere Öffentlichkeit. Können Sie diese Forderung nachvollziehen?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ja und nein. Nein, weil unsere Prozesse nicht einsam von einer obersten Leitung ausgeheckt und dann knallhart durchgezogen werden. Sondern es gibt immer eine breite, öffentlich zugängliche Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Für die allerdings interessiert sich die breite Öffentlichkeit leider selten. Erst wenn etwas, nach langer Debatte, dann entschieden wird, wenn alles fertig ist, dann interessiert sich auch „die Öffentlichkeit“ und ist empört – häufig sind das übrigens Kleingruppen mit Sonderinteressen. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich eingestehen, dass unsere kirchendemokratischen Prozesse faktisch in einem Binnenmilieu stattfinden. Insofern ist das Kirchenmanifest eine gute Gelegenheit, die Dinge einmal breiter zu diskutieren.

Worüber lohnt es sich denn, mit den Leuten des Kirchenmanifests zu diskutieren?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Wir haben offenkundig unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich Kirche und andere Institutionen oder Gruppen darüber verständigen, welche Kirchen erhalten werden können oder nicht. Aber sehr verblüffend finde ich, dass selbst die evangelischen und katholischen Verantwortlichen kaum einmal ihre jeweiligen Gebäudepläne miteinander abgleichen. Ich habe erlebt, dass zwei evangelische Gemeinden zusammengelegt wurden und beide alten Kirchen dieser Gemeinden abgebrochen wurden. Dafür ist eine schöne, kleine neue Kirche gebaut worden – zweifelsohne sehr gelungen. Aber in unmittelbarer Nähe gab es eine stillgelegte katholische Kirche, deren Nutzung nicht erwogen worden war. Nachhaltig ist das nicht. Für mich war das ein Aha-Erlebnis, dass wir uns auf diesem Gebiet ökumenisch viel besser abstimmen sollten.

Wenn man an das Ende von diesem Manifest blickt, heißt der letzte Satz: „Kirchenbauten und ihre Ausstattungen gehören nicht allein den Kircheninstitutionen und Gemeinden, als ererbte Räume sind sie Gemeingüter, sie gehören allen.“ Das klingt besonders in den Ohren von Kirchenjuristen provozierend. Denn irgendwie geht es ja am letzten Ende nicht nur um Machtteilung, sondern auch um fair geteilte Verantwortung für die Räume, oder?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ich teile prinzipiell das Verständnis, dass Kirchbauten Räume der Allgemeinheit sind und dass eine allgemeine Teilhabe möglich sein sollte. Aber Teilhabe gibt es nur, wenn man auch Verantwortung übernimmt. Wer Teilhabe will, der muss auch seinen Beitrag dafür leisten, dass es funktioniert. Aber da sind viele vom Kirchenmanifest schon längst auf dem Weg, sich darüber Gedanken zu machen.

Eine Idee, die in diesem Zusammenhang aufgekommen ist, ist die, dass die Staatsleistungen für die Kirchen in der Weise abgelöst werden könnten, dass die jährliche Summe von jetzt gut 600 Millionen Euro pro Jahr in den Erhalt gefährdeter Kirchgebäude fließen könnten. Was halten Sie davon?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Diese Idee hat der Journalist Matthias Kamann aufgebracht, sie hat mit dem Kirchenmanifest erst einmal nichts zu tun. Es klingt verlockend, dass solch ein anstrengendes Thema wie die Staatsleistungen zum Nutzen aller so erledigt werden könnte. Aber als absoluter Nicht-Fachmann auf diesem Feld ahne ich, dass das wohl nicht so einfach funktionieren wird. Es gibt viele Arten von Staatsleistungen, so viele verschiedene Seiten, die geben und empfangen, und außerdem wollen Teile der Politik gar keine Ablösung. Interessanter wäre es, ein anderes Finanzierungsmodell zu erwägen, nämlich eine Art Kultursteuer – ähnlich wie in Italien, und zwar als gesonderte Abgabe der Allgemeinheit für den Erhalt historischer Gebäude. Das käme dann natürlich nicht nur kirchlichen Gebäuden, sondern allen historischen und öffentlichen Gebäuden zugute, deren Erhalt ebenfalls akut gefährdet ist.

Sie meinen, eine Kultursteuer nicht als Alternative zur Kirchensteuer, sondern als allgemeine Kultursteuer für solche Zwecke?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Eine neue Idee ist das nicht. Wichtig ist mir, darüber nachzudenken, dass das Anliegen des Kirchenmanifests sich auch auf andere Kulturbauten in Deutschland beziehen lässt. In den Wohlstandsjahrzehnten wurden wunderbare Kulturbauten errichtet, seien es Museen oder Konzertsäle, die jetzt sanierungsbedürftig sind oder bald werden. Ich habe den Eindruck, die beiden Kirchen haben einen Reflexionsvorsprung gegenüber vielen Vertretern der Kulturpolitik, die immer noch fordern: erhalten, erhalten, erhalten … Aber das wird leider längst nicht überall möglich sein – weder im kirchlichen noch im staatlichen Bereich. Hier gilt es, nüchtern nachzudenken und überzeugende Kriterien zu entwickeln.

Was erhoffen Sie sich in nächster Zeit von den Impulsen des Kirchenmanifests?

JOHANN HINRICH CLAUSSEN: Ich hoffe zum einen, dass sie helfen, die Aufmerksamkeit auf die vielen innerkirchlichen Prozesse zu lenken, die bereits seit langem laufen und die dringend bekannter werden müssen. Zum anderen weiß ich, dass viele der Initiatorinnen und Unterstützer des Kirchenmanifests auch daran arbeiten, ihre Ideen zu präzisieren. Am Ende muss es in der Praxis funktionieren, und die ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Zum Dritten ist es sehr wichtig, dass wir auch die Politik auf verschiedenen Ebenen mit ins Boot holen. Denn letztlich wird es finanziell nicht ohne politische Entscheidungen gehen.

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 26. September in Berlin.

 

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Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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