Heimatkirchen

Persönliche Reflexionen der zeitzeichen-Redaktion
Friedenskirche zu Potsdam mit eingerüstetem Turm, 2023.
Foto: Hans-Jürgen Krackher
Friedenskirche zu Potsdam mit eingerüstetem Turm, 2023.

Welches Kirchengebäude hat mich geprägt, an was kann ich mich erinnern, und welcher Kirche fühle ich mich besonders verbunden? Die Mitglieder der zeitzeichen-Redaktion erinnern sich an Sakralbauten ihres Lebens. Vier Miniaturen über Kirchbauten.

Ich bin katholisch und ein Kind des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die ganze barocke Pracht des Katholizismus, die bis zum absurden Bombast reichen kann, habe ich erst relativ spät kennen-gelernt, in fremden Kirchen. Es waren katholische Gottesdienste, in denen ich mich eher als Kulturwissenschaftler fühlte, ungefähr so: „Ach, so pompös-überladen sah Katholizismus also früher aus.“ Alles fremd. Dieses Gefühl der Fremdheit hat mit meiner religiösen Prägung und meiner Herkunft zu tun.

Mein Vater war evangelisch, aber über seinen Glauben sprach er nie. Nur einmal im Jahr ging er in den Gottesdienst, natürlich an Heiligabend mit der Familie. Seine zuverlässig einzige Bemerkung zur Sache vor dem Aufbruch war: „Habt ihr Geld?“ Bei der Kollekte sollte niemand in die Bredouille kommen. Dass dies dann meist eine katholische Messe war, war ihm egal. Er war ökumenisch bis ins Herz, da bin ich sicher.

Meine Mutter ist katholisch, ja zu katholisch, erzogen worden. Sie kommt aus Belgien und hat den überfrommen Katholizismus Flanderns vor dem Konzil noch kennen gelernt, genauer: in Nonneninternaten erlitten. Dass sie später überhaupt noch in die katholische Messe ging, lag vor allem daran, dass sie meinen Bruder und mich als Messdiener sehen wollte – der Glaube ist ihr von den strengen Nonnen ziemlich ausgetrieben worden. Schade.

Meine Heimatkirche ist „Heilig Geist“ in Hanau-Großauheim. Es ist ein kleiner, moderner Bau, Anfang der 1970er-Jahre gebaut für die Gläubigen eines Neubaugebiets. Alles ist nüchtern und schmucklos, auf den ersten Blick sieht man von außen gar nicht, dass dies eine Kirche ist. Innen ist die Ausstattung sehr schlicht. Es gibt zwar alte Kirchenbänke, aber außer einem großen roten Wandteppich mit einer abstrakten weißen Taube hinter dem blockförmigen Steinaltar und angedeuteten sieben rot-gelben Feuern der Glasfenster in dunklen Nischen ist alles fern vom katholischen Pomp. Ganz im Sinne des Konzils: Hier geht es um einen modernen Glauben, nicht eine Überwältigung durch die Pracht der Tradition. Gleichwohl oder gerade deshalb spiegelt diese kleine Kirche in Hanau meinen Glauben – und deshalb bedeutet mir dieses Gotteshaus etwas, wann immer ich den Weg in die Heimat (ich zögere bei diesem Begriff) finde und Zeit habe, eine Messe dort zu besuchen. Diese Kirche erscheint mir heute kleiner als früher, noch nüchterner und schlichter, als ich sie in Erinnerung habe. Aber sie ist dann doch die erste Heimat meines Glaubens geworden. Sie hat für mich trotz aller Nüchternheit etwas Persönliches, Gemütliches, fast Familiäres. Richtig schön ist „Heilig Geist“ in Hanau nicht. Aber gerade dieses Zurückgenommene symbolisiert für mich das, worauf es ankommt in Kirchen: Es sind Orte der Gemeinschaft der Glaubenden, die zusammenfinden, um ihren sehr unterschiedlichen, individuellen Glauben zu leben und zu feiern. Das ist möglich in einer Holzhütte am Amazonas, im prächtig-kalten Berliner Dom, in einer überladenen bayerischen Wallfahrtskirche und vermutlich sogar in einer Mega-Church in Laos. Eine schöne Architektur kann helfen, sich auf das Wesentliche im Glauben zu konzentrieren und leichter in die Stille oder ins Gebet zu finden. Aber nötig ist sie am Ende nicht. Das beweist für mich „Heilig Geist“ in Hanau-Großauheim.

Philipp Gessler

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Mit ihrem fast 60 Meter hohen Turm ist sie weit ins Wesertal hinein sichtbar. Zwischen Hameln und Minden liegt die St.-Agnes-Kirche der Kirchengemeinde Steinbergen, der südlichsten Gemeinde der schaumburg-lippischen Landeskirche. Es war die Kirche, in die ich regelmäßig auf meinen erklärten Wunsch hin zum Kindergottesdienst gefahren wurde, in der ich liebevolle Gemeinschaft erfuhr und die biblischen Geschichten entdeckte. Es war die Kirche, in der schon meine Mutter konfirmiert und meine Eltern getraut worden waren, in die meine Großmutter zur Bibelstunde und zum Gottesdienst ging. Dass der neugotische Prachtbau im Stil der hannoverschen Architekturschule gebaut worden war, der reichverzierte Altar den späten Historismus darstellte, davon erfuhr ich erst später. Mir ging es als Kind und später in der Evangelischen Jugendarbeit nicht um Ästhetik, vielmehr verband ich mit diesem Kirchenbau Gemeinschaft, soziales Engagement und einen Raum, in dem ich innehalten und mit Gott ins Gespräch kommen konnte. Dieser Kirchbau mit seinem aufwändigen Kreuzrippengewölbe gab mir ein Stück Heimat und einen besonderen Raum, der Stille. Noch heute besuche ich die St.-Agnes-Kirche zu unterschiedlichen Anlässen wie Taufen und Konfirmationen in meiner Familie.

Auf meinem weiteren Lebensweg habe ich neue Kirchentüren geöffnet, vor die ich auf beruflichen oder privaten Pfaden getreten bin. Die Kirchengebäude sind es, die mich an jedem neuem Ort faszinieren und anziehen, ich besuche sie zumeist als Erstes. Ich freue mich über jedes Ausruhen auf Inseln mitten im Stadtlärm, kann die Welt vor der Tür lassen und etwas von der christlichen Hoffnung spüren. Eine Hoffnung, die schon vor mir viele Menschen über die Jahrhunderte in ihren Kirchenbauten erfahren haben. Sich in diesen Räumen mit ihnen verbunden zu fühlen, das stärkt mich.

Nach einem Umzug lebe ich nun in einer Kirchengemeinde, die zum UNESCO-Welterbe gehört. Wieder ist es ein Turm, der weithin sichtbar auf sich aufmerksam macht: der Glockenturm der Friedenskirche im Potsdamer Park Sanssouci. Doch der nach dem Vorbild des romanischen Campanile der Kirche Santa Maria in Rom entworfene und 1850 vollendente Glockenturm war in seiner Substanz erheblich gefährdet. Er brauchte Hilfe, und ich fühlte mich verantwortlich. Deshalb bin ich Mitglied des Bauvereins der Friedenskirche geworden. Der leitende Pfarrer und engagierte Gemeindemitglieder organisierten die Kampagne „Gib mir Halt“. Mit vereinten Kräften der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz gelang es, private Großspender und Botschafterinnen der Spendenkampagne zu gewinnen. Durch die Arbeit im Bauverein einer Weltkulturerbekirche und in der Zusammenarbeit mit den Architekten habe ich mit meinem Engagement als Öffentlichkeitsarbeiterin auch eine Sensibilität für das Kirchenbauwerk mit seiner fragilen Substanz an sich entwickelt. Die Sanierung des Turmes ist nun abgeschlossen, aber schon warten neue Aufgaben. Kirchbauwerke sind Orte des Glaubens und ewige Baustellen.

Kathrin Jütte

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Ich habe ein gebrochenes Verhältnis zu Kirchengebäuden. Das liegt selbstverständlich an der Kirche, in der ich meine evangelische Frühprägung erhalten habe. Eine Ruhrgebietskirche, gebaut in den Jahren 1910 und 1911, im Krieg teilweise zerstört, dann 1949 wieder in leicht verändertem Zustand eingeweiht. So weit, so normal. Entscheidend aber war der Altarraum, der 1955 mit einem großen Wandgemälde geschmückt wurde. Darauf mehrfach zu sehen der Jünger Petrus, nach dem die Kirche auch benannt war. Aber rechts unten, neben der knienden Maria, ist auch Johannes zu sehen, mit goldenem Schein um den Kopf. Und dieser Lieblingsjünger Jesu sah dem Pfarrer, der die Gemeinde und den Wiederaufbau der Kirche nach dem Krieg bis in die 1970er-Jahre hinein leitete, wirklich sehr ähnlich. Zufall? Kaum. Der Mann war bekannt für seinen Standesdünkel, fuhr immer im schwarzen Mercedes durch die von Arbeiterfamilien geprägte Gemeinde, ließ seinen erwachsenen Küster wie einen Messdiener im entsprechenden Gewand beim Gottesdienst assistieren, wollte die Konfirmandinnen gerne mit Alben ausstatten (was Elternprotest zum Glück verhinderte). Überhaupt ließ er die Kirche mit allerlei katholischen Elementen (Weihekreuze, Tabernakel, Reliquiengrab im Altar) ausstatten. Und er war, wie ich später in meinem Geschichtsstudium in einer Arbeit über Entnazifizierung in meiner Heimatstadt herausfand, durchaus als großzügiger Spender von „Persilscheinen“ bekannt, die die braunen Westen nicht nur sauber, sondern wieder rein machten. Dass sein Nachfolger im Amt dann sein Schwiegersohn wurde, war nur noch das Tüpfelchen auf dem i dieser geistlichen Dynastie an der Emscher.

Auch woanders gilt: Kirchengebäude dienen nicht nur der Andacht und Verehrung Gottes, sondern zu einem gehörigem Maße auch der Eitelkeit derjenigen, die sie bauen oder für den Bau verantwortlich sind. Der Verdacht erhärtete sich immer wieder. Der Kölner Dom beispielsweise war geplant als steinerne Hülle für die Knochen der Drei Könige, mit denen man im Wettstreit der Reliquien wieder an die Spitze der religiösen Hotspots kam. Vollendet wurde er als Nationalsymbol für Deutschland.

Dass so was auch auf evangelisch geht, zeigen der Berliner Dom und unendlich viele andere Kirchen, die von der Nähe zwischen Thron und Altar geprägt sind. Wenn beim Besuch von Kirchen mit bedeutungsvollem Ton auf diese besondere Figurengruppe hier, das wertvolle Gemälde dort und die Orgel aus der bekannten Werkstatt von xyz hingewiesen wird, gucke ich kunsthistorisch beeindruckt und denke an das Altargemälde meiner Heimatkirche. Um es mal klar zu sagen: Die meisten Kirchengebäude bringen mich nicht näher zu Gott als ein langes Bad in einem Sommersee, barocke Engelsscharen um mich herum stören meine Kontemplation, die Gemeinschaft der Gläubigen spüre ich nur selten in Kirchenbänken, eher in den oft persiflierten Stuhlkreisen in welchem Raum auch immer. Und dass ich mich in den unbeliebten kirchlichen Mehrzweckbauten der 1950er- und 1960er-Jahre wohler fühle als in einer Kirche aus den Jahrhunderten davor, dürfte klar geworden sein.

Nun geht es um die Zukunft der kirchlichen Gebäude und ihrer Finanzierung. Wer immer Geld dafür geben will, soll das tun. Die Kirche sollte sich allerdings sehr genau überlegen, welche Gebäude sie weiter finanziert. Kirchensteuern müssen nicht in Museen der religiösen Kunst fließen, dafür findet man andere Finanziers. Für die Anmietung von Ladenlokalen oder anderen Orten, an denen sich Menschen begegnen, miteinander ins Gespräch und vielleicht sogar ins Gebet kommen, braucht man eigentlich auch nicht viel Geld. Offene Türen, guter Kaffee und engagierte Mitarbeitende sind wichtiger. Wir haben viel zu lange an der steinernen Kirche gebaut und sie immer wieder restauriert. Nun wird sie immer leerer. Wäre es nicht also endlich an der Zeit, mehr in Menschen zu investieren als in Steine? Die Kirche in meiner Heimatgemeinde ist übrigens mittlerweile entwidmet. Was daraus wird, ist unklar. Um ehrlich zu sein: Es ist mir egal.

Stephan Kosch

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Jesus hat rote Haare! Irgendwann mit vier oder fünf Jahren, jedenfalls noch bevor ich lesen konnte, hatte sich mir das erschlossen. Immer wieder wanderten meine Augen in jungen Jahren an den zwölf Glasfenstern der Kirche meiner Kindheit auf und ab. Sie war von unserer Wohnung aus fußläufig, und so gingen wir in der Regel jeden Sonntag zu ihr, der Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven. Wir gingen – nach meinem kindlichen Gefühl – „Herr, durch dein Geläute“, wie ich Paul Gerhardts ähnlich klingende Zeile „Gib, dass wir heute, Herr, durch dein Geleite / auf unsern Wegen unverhindert gehen“ lange missdeutete, und je näher wir kamen, desto lauter das Geläute der Glocken.

Dann übernahm Klein Reinhard das Kommando: Es galt, eine Bank mit einem coolen Wappen zu erwischen. Warum? Die Christus- und Garnisonkirche ist keine Kirche wie andere Kirchen. Wie der Name schon sagt, wurde sie für das Militär errichtet, also bei uns in Wilhelmshaven für die Marine. Alle Bankreihen waren (und sind!) mit Wappen geziert, die die Namen von Kriegsschiffen tragen, aber auch von Waffen-Gattungen. Ich glaube, meine Lieblingsbank war die mit dem Wappen „Torpedoboote und Zerstörer“, aber auch „U-Boote“ standen hoch im Kurs. Meine Eltern ließen mich gewähren, Hauptsache, der Junge war zufrieden und blieb ruhig.

Am besten aber gefielen mir die drei bunten Glasfenster im Altarraum, auf denen in zwölf Motiven die wichtigsten Stationen von Jesu Leben und Leiden, seinem Sterben und Auferstehen gemalt sind. Ich fand sie herrlich, aber ich fürchtete mich auch vor ihnen – tremendum et fascinans, so hätte es Rudolf Otto beschrieben. Diese Gemälde, auf denen Jesus mit eindrucksvollen Augen und eben roten Haaren dargestellt ist, sind das Werk von Ivar O. Lim, eines Wilhelmshavener Künstlers ohne Wikipedia-Eintrag. Er schuf die Fenster in den Jahren 1959 und 1960. Ihre Lichtspiele prägen den Raum in besonderer Weise, besonders morgens und vormittags, wenn die Sonne sie lebendig macht.

Die Fenster der Christuskirche retteten mich durch manche öde und alles andere als kindgerechte Predigt hindurch, die es dort in den ersten Jahren nach 1970 zu hören gab. Durch sie erschien mir Jesus Christus sehr lebendig, spannungsreich, kraftvoll und durchaus etwas gruselig – aber er war immer ein Hingucker. Dieser Jesus von Ivar O. Lim – er legte sich früh auf den Grund meines Herzens, und er berührt mich noch immer, wenn ich bei ihm vorbeischaue. Sollte es meinen Jesus mit den roten Haaren einmal nicht mehr geben – es ginge meiner Seele nah.

Reinhard Mawick

 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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