Erbe und lebendige Spiritualität
Kirchengebäude sind öffentliche Räume und kulturelles Erbe abendländischer Kultur. Dieses Erbe wird nur gesichert, wenn sie dabei Orte lebendiger Spiritualität bleiben, meint der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl. Er setzt sich kritisch mit dem so genannten Kirchenmanifest auseinander, dem er aber durchaus auch positive Aspekte abgewinnt.
Am 11. Mai 2024 wurde in dem Online-Magazin moderneREGIONAL ein Text mit dem Titel „Kirchen sind Gemeingüter! Manifest für eine neue Verantwortungsgemeinschaft“ veröffentlicht. Der Text, oft als „Kirchenmanifest“ bezeichnet, fand auch Widerhall in zahlreichen Medien. Die Initiatorin Karin Berkemann hat hier noch einmal die wichtigsten Inhalte zusammengefasst.
Was ist das Anliegen des Manifests und warum lohnt es sich für die Kirchen, sich damit intensiver auseinanderzusetzen? Das Kirchenmanifest würdigt die über 40 000 Kirchengebäude in Deutschland als kulturelles Erbe, stellt aber zugleich fest, dass die christlichen Gemeinschaften aufgrund ihres Mitgliederrückgangs und der sinkenden finanziellen Mittel zukünftig immer weniger für die dauerhafte Bestandssicherung dieser Gebäude sorgen könnten. Deshalb müsse diese Bestandssicherung zukünftig Aufgabe der ganzen Gesellschaft sein und in Form von Stiftungen sichergestellt werden. Als Vorbild für eine solche Stiftung wird die „Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur“ aus Nordrhein-Westfalen genannt. Das Manifest begründet die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für die Kirchenbauten mit deren besonderen Merkmalen. So sind Kirchenbauten „mehrfach codierte Orte“, das bedeutet „Räume der christlichen Bekenntnisse und damit Zeugnisse der Geschichte der Menschen mit Gott. Zugleich sind sie kulturelles Erbe aller Menschen. Sie sind Räume der Kunst. Des Handwerks und der Musik“.
Als kulturelles Erbe, so heißt es im Manifest, müssen Kirchen perspektivisch allen Menschen zugänglich sein und werden daher auch „radikal öffentliche Orte“ genannt. Das Manifest will, dass dieses kulturelle Erbe allen Menschen zugänglich ist und zugleich sicherstellen, dass durch Stiftungen ihr nachhaltiger Bestand gewährleistet werden kann. Die bisherigen Reaktionen und Stellungnahmen, insbesondere aus dem Raum der Kirchen, sind dankbar für die Problemanzeige zur Bestandsgefährdung kirchlicher Gebäude. Die Stellungnahme von Evangelischer Kirche in Deutschland und Deutscher Bischofskonferenz verspricht wohlwollende Prüfung. Sie bietet einen Dialog auf Augenhöhe an und weist auf die Komplexität von Detailfragen hin, insbesondere was das Stiftungsrecht angeht. Bei aller grundsätzlicher Wertschätzung klammert die Stellungnahme jedoch die kontroversen theologischen Positionsbestimmungen weitgehend aus. Das Manifest unterbreitet den Kirchen ein attraktives Angebot. Denn überall dort, wo Landeskirchen und Bistümer ihre Gebäude nicht mehr halten können, stehen sie vor demselben Problem: Sie müssen für einen nicht mehr finanzierbaren Kirchenraum Lösungen finden. Oft besteht das Dilemma zwischen Abriss und mehr oder weniger überzeugender Umnutzung. Wenn diese Kirchengebäude unter Denkmalschutz stehen, kommt ein Abriss nicht in Frage. Das betrifft längst nicht mehr nur die Dorfkirchen in Ostdeutschland.
In die Verantwortung nehmen
In dieser Situation will das Manifest Staat und Gesellschaft in die Verantwortung nehmen. Öffentlich finanzierte Stiftungen sollen den Bestand der Gebäude dauerhaft sichern. Diese begründet das Manifest damit, dass das kulturelle Erbe allen „gehöre“ (ebd.). Dieser schillernde Begriff ist bewusst gewählt. In einem ideellen Sinn „gehören“ diese Gebäude als Teil des kulturellen Erbes tatsächlich allen Menschen. Im juristischen Sinn gilt das nicht. Mit dem Übergang in eine öffentliche beziehungsweise staatliche Stiftung würden sich die Besitzverhältnisse ändern – weg von den Kirchen. Deshalb müsste auch die Nutzung der Gebäude neu ausgehandelt werden. Berkemann betont, dass die großen Kirchen in den vergangenen Jahren zwei sehr widersprüchliche Signale Richtung Staat, Denkmalpflege und Gesellschaft ausgesandt hätten: Einerseits hätten sie gegenüber dem Denkmalschutz eine rechtliche Sonderstellung der Kirchen im Denkmalschutzgesetz reklamiert. Andererseits hätten sie andere gesellschaftliche Akteure im Blick auf ihre gesellschaftliche Mitverantwortung um Unterstützung für den Erhalt der Kirchengebäude gebeten. Berkemann kritisiert damit das widersprüchliche kirchliche Selbstverständnis, dass sich Kirche einerseits „als vom Staat unabhängige Größe“, andererseits als „integralen Teil der Gesellschaft“ sieht.
Im Hintergrund dieser Kritik Berkemanns steht eine eindeutige Präferenz für ein bestimmtes Kirchenverständnis, das in der kirchlichen Rezeption des Manifestes nicht einfach mitübernommen werden sollte. Es geht um die Frage, wie das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft angemessen beschrieben werden kann. Unstrittig ist, dass Kirchenräume gerade in einer säkularen Gesellschaft öffentlich zugängliche Räume bleiben sollten und die Kirchen die öffentliche Wortverkündigung als Dienst an der ganzen Gesellschaft begreifen. Im Manifest heißt es allerdings: „Im Sinne einer weltoffenen, einer Öffentlichen Theologie versteht sich Kirche als integraler Bestandteil der sie umgebenden Gesellschaft, ohne völlig in ihr aufzugehen. Dieses Plus, diesen Mehrwert vermitteln Kirchen sinnfällig als radikal öffentliche Räume. Daher muss ihre Zukunft mit allen gesellschaftlichen Akteuren ausgehandelt werden.“
In einer säkularen Gesellschaft muss sich die Kirche von ihrem Auftrag her aber nicht nur als zivilgesellschaftliche Akteurin erweisen, sondern auch als kritisches Gegenüber dieser Gesellschaft und ihres Gemeinwesens. Das heißt für die Kirchenräume, dass sie öffentliche Räume, Räume des gesellschaftlichen Diskurses bleiben müssen, zugleich aber im Sinne Foucaults fremde Orte, so genannte Heterotopien sind.
In der deutschen Geschichte waren Kirchenräume immer wieder Gegenräume. Sie waren letzte Versammlungsorte einer kritischen Gegenöffentlichkeit. Wie etwa die Friedensgebete in der ehemaligen DDR, ohne die es die friedliche Revolution wohl so nicht gegeben hätte. Als Vorbild für eine denkbare Stiftungsarchitektur dient dem Manifest die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur aus Nordrhein-Westfalen. Diese Stiftung hat sich um den Erhalt von alten Zechen und anderen Industriedenkmälern verdient gemacht. Zwar haben die Zechen des Ruhrgebietes eine hohe symbolische Bedeutung für die Region. Aber anders als Kirchen sind sie längst außer Betrieb. Dass das Manifest gerade diese Stiftung zum Vorbild nimmt, zeigt, wie das Manifest die Zukunft der Kirchengebäude sieht. Vergleichbar den stillgelegten Zechen erscheinen Kirchen als Relikte längst vergangener Zeiten.
Heilige Räume
Anders aber als es das Manifest zugrunde legt, geht es bei der Nutzung von Kirchenräumen weder um eine frühere rein sakrale Nutzung noch eine rein nachsakrale Nutzung. Kirchen sind öffentliche Orte einer lebendigen Spiritualität. Gerade darin haben sie Zukunft. Auf dem Leipziger Kirchbautag 2002 wurde diese Raumerfahrung mit der „Sehnsucht nach heiligen Räumen“ in Verbindung gebracht: „Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Menschen nach ‚heiligen Räumen‘ sehnen: nach Rastplätzen für ihre Seele, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben. Wir erleben, dass Menschen unsere Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens aufsuchen – ganz gleich, ob sie Kirchenmitglieder sind oder nicht. Wir wissen, dass unsere Kirchengebäude hilfreiche Zeichen des Anderen in einer diesseitigen Welt und Wegweiser für Sinn in einer fragenden Welt sind.“ Der Kirchenraum wird hier als heiliger Ort beschrieben. Das meint zunächst einen Ort, in dem Erfahrungen möglich sind, die sich dem reinen Verstehen entziehen. Solche Erfahrungen werden transzendent genannt.
Thomas Erne, ehemaliger Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, beschreibt diese Räume allerdings nicht als identisch mit dieser Transzendenzerfahrung. Die Räume sind keine Container für Transzendenz. Sie besitzen aber einen unabweisbaren Verweischarakter. Daneben, so Erne, überlagern sich verschiedene Formen von Erfahrung: eine religiöse und eine ästhetische. Genau diese Überlagerung, so Erne, ist das Merkmal heutiger kirchenräumlicher Transzendenzerfahrungen: Erne nennt Kirchen daher auch hybride Räume der Transzendenz. Die Spannung, die sich aus einer religiösen Transzendenzerfahrung (zum Beispiel etwa während eines Gottesdienstes) und einer ästhetischen Transzendenzerfahrung (etwa während einer kunstgeschichtlichen Führung) ergibt, will Erne produktiv machen. Ich finde diesen Zugang zu der Erfahrung mit Kirchenräumen sehr hilfreich. Sie ist auch für den christlichen Glauben grundlegend. Erne spricht von Daseinsweitung. Er hebt aber hervor, dass der hybride Charakter dieser Raumerfahrung an die auch weiter bestehende religiöse Praxis in diesen Räumen gebunden wird: „Eine Kirche (…), die nicht in der religiösen Kommunikation der Gemeinde, in den verschiedenen Formen der Liturgie die Gegenwart Gottes feiert, verliert auch ihren ästhetischen Reiz und ihre Leistungskraft als Schnittstelle und Hybridraum der Transzendenz (…). Die Kirche ist ein räumliches Dispositiv, das im religiösen Vollzug, im Gottesdienst der Gemeinde, immer wieder aufs Neue austariert werden muss, sonst verliert sich ihr ästhetischer Wert.“
Das Manifest argumentiert vom reinen Erhaltungsinteresse der Gebäude her, nicht aber von ihrer spirituellen Nutzung. Dabei geraten gerade die Interessen der Öffentlichkeit aus dem Blick, die das Manifest vertreten will. Eine Stiftung, die die Kirchengebäude als kulturelles Erbe bewahrt, sichert gerade nicht ihre Zukunft. Es muss eine Stiftung sein, die sich auf die Fahnen schreibt, das spirituelle Erbe der Kirchen zu sichern. Dafür sind die christlichen Kirchen nach wie vor die kompetenten Ansprechpartnerinnen mit der meisten Erfahrung, wie Kirchengebäude spirituell genutzt werden können. Die beiden großen Kirchen in Deutschland erleben derzeit große Transformationsprozesse. Für eine Kirche im Umbau sind Kirchen als hybride Räume der Transzendenz besonders attraktiv. Ein gelungenes Beispiel für ein solches Raumhybrid ist zum Beispiel der Umbau der Reutlinger Christuskirche zu dem Diakonischen Zentrum Christuskirche. Die evangelische Christuskirche wurde 1936 fertiggestellt. Der Neubau verstand sich als ein deutliches Zeichen des öffentlichen Widerspruchs gegen die damalige Naziherrschaft. Durch die starke Veränderung des Sozialraums in den vergangenen Jahrzehnten stand die Gemeinde zuletzt vor der Frage, wie sie die Kirche erhalten und wie eine zukünftige Nutzung aussehen könnte.
Offene Treffpunkte
Das zukünftige Nutzungskonzept bewahrt den Sakralraum der Kirche und sichert ihn für Gottesdienste und Veranstaltungen. Zugleich werden barrierefreie Orte der diakonischen Begegnungskultur geschaffen, offene Treffpunkte, Beratungsangebote und Wohnungen für einkommensschwache Personen. Möglich wird dieses Zukunftsmodell durch eine Erweiterung um zwei weitere diakonische Träger. Dieser Trägermix ist meines Erachtens für die Weiternutzung ursprünglich rein liturgisch genutzter Kirchenräume die wohl beste Wahl und reinen Stiftungsmodellen deutlich überlegen.
Das Kirchenmanifest würdigt Kirchengebäude als unverzichtbaren Teil abendländischer Kultur. Es will dazu beitragen, sie auch dann zu erhalten, wenn Landeskirchen und Bistümer die finanziellen Mittel nicht mehr dafür haben. Aus christlicher Perspektive geht es aber nicht primär darum, diese Gebäude als kulturelles Erbe zu erhalten, sondern es geht um die Erhaltung eines spirituellen Erbes. Nur als Ort einer lebendigen Spiritualität haben die Kirchengebäude eine Zukunft. Dafür wurden sie schließlich auch gebaut.
Wie könnte also eine Zukunft aussehen, in der Kirchengebäude durch eine öffentlich finanzierte Stiftung abgesichert wären? Welche Klärungen müssten herbeigeführt worden sein? Fragen des Stiftungsrechts und der mitunter komplexen Eigentumsverhältnisse von Kirchengebäuden müssten geklärt werden. Vor allem aber müsste klar sein, was das Ziel der öffentlich finanzierten Stiftung ist. Wenn diese Punkte geklärt sind, müssten die Kirchengemeinden frei entscheiden können, ob sie der Stiftung die Gebäudelast übertragen oder nicht. Einen Zwang zum Eigentümerwechsel gäbe es nicht. Die Kirchen müssten mit den Kommunen vor Ort Nutzungsverträge aushandeln, die sicherstellen, dass diese Gebäude auch weiterhin Orte der Verkündigung bleiben und damit bestimmte Nutzungen dauerhaft ausschließen. So leisten die Kirchengebäude als Manifestation und Aktualisierung von Daseinsweitung auch für eine säkulare Gesellschaft einen wichtigen Dienst.
Ernst-Wilhelm Gohl
Ernst-Wilhelm Gohl (*1963), ist seit 2022 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Vorher war er von 2006 bis 2022 Dekan in Ulm.