„Wir sind gesprächsbereit“

Erfahrungen aus der „steinreichsten“ Landeskirche Deutschlands
Kirche in Lettewitz, Saalekreis (Sachsen-Anhalt).
Foto: kirchbau.de
Kirche in Lettewitz, Saalekreis (Sachsen-Anhalt).

Am Beispiel eines Kirchbaus im Saalekreis in Sachsen-Anhalt schildert der Präsident des Landeskirchenamtes in Erfurt, Jan Lemke, die Herausforderungen der Baunutzung und -erhaltung. Dem so genannten Kirchenmanifest gegenüber zeigt sich der leitende Jurist der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland aufgeschlossen.

Kennen Sie Lettewitz? Ich bislang nicht. Als Ortsteil von Neutz-Lettewitz liegt es im Saalekreis nördlich von Halle, zwischen Wettin und Löbejün. Im südlichen Sachsen-Anhalt mitten in Mitteldeutschland. Bei Google Maps findet man in dem Dorf zwei landwirtschaftlich und zwei technisch-industriell spezialisierte Betriebe, eine Kindertagesstätte und ein Seniorenheim, an Infrastruktur eine Bushaltestelle, die mehreren Linien Anlaufpunkt ist. Und es gibt eine Kirche mit einem Friedhof darum.

Zu der Kirche heißt es auf der Homepage des Evangelischen Kirchengemeindeverbands Wettin, zu dem die Kirchengemeinde Neutz-Lettewitz gehört: „Die Kirche von Lettewitz ist Filial von Sylbitz. Der Turm entstammt noch der romanischen Zeit, er hat noch ein Grabgewölbe, seine Ecken haben Quaderung. Das Schiff ist jünger, wird viel später angebaut sein, steht in einiger Verzahnung und hat einen geraden Ostschluss. Die drei Glocken der Kirche waren bis vor kurzem diese: die Kleinste, 13. Jahrhundert, die Mittlere wurde 1606 in Halle von Lorenz Richter gegossen. […] Die größte Glocke mit 1,05 m Durchmesser wurde von Eckard Krüger in Erfurt gegossen. Er war ein bekannter Glockengießer dieser Zeit. Nur diese Erfurter Glocke ist noch vorhanden, die beiden anderen sind 1912 durch neue ersetzt worden.“ Diese Informationen stammen von Siegmar Baron von Schultze-Galléra und seinen Wanderungen durch den Saalkreis, die er in fünf Bänden zwischen 1913 und 1924 veröffentlichte. Taufrisch ist anders. Der Wikipedia-Eintrag schöpft aus derselben Quelle. Gab es in den vergangenen 100 Jahren etwas Neues?

Keine Gemeinde vor Ort

Zuständig für die Kirche ist der Gemeindekirchenrat des Kirchengemeindeverbandes, einen örtlichen Beirat der Kirchengemeinde gibt es nur in Neutz, aus Lettewitz ist niemand dabei. Der letzte Gemeindegottesdienst in der Kirche hat in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts stattgefunden, danach starb die Gemeinde vor Ort aus. Gottesdienste und Andachten in Lettewitz werden seitdem im Seniorenheim abgehalten. Die Kirche ist mittlerweile abgesperrt, der romanische Turm zeigt Risse und droht nach Westen von der Kirche wegzukippen. Auch das Kirchenschiff ist baulich in schlechtem Zustand, zwischen Turm und Schiff gibt es Lücken im Dach. Die Sanierung würde Hunderttausende verschlingen – Geld, das die Gemeinde nicht hat und der Gemeindekirchenrat, der insgesamt für 15 Kirchen zuständig ist, auch nicht organisieren kann. Das Bemühen des langjährig tätigen Pfarrers, in Lettewitz eine Initiative zum Erhalt des ältesten Gebäudes ins Leben zu rufen, verhallte. Für einen Kirchbauverein reichte es nicht …

Doch neulich kamen Menschen um die Kirche zusammen. Ein Kamerateam des MDR war vor Ort, als die erwähnte größte Glocke mit einem Kran im Wege einer Notbergung aus dem Turm herabgeholt wurde. Falls der Turm einstürzt. Die 800 kg schwere Glocke wird erst einmal bei einem Bauern eingelagert. Vor 30 Jahren war noch vom Gemeindekirchenrat versucht worden, die Glocke durch ein neues Joch an ihrem Platz zu halten. Vor der Kamera stellt ein Mitglied des Gremiums allerdings fest, dass dies als Initialzündung rückblickend nicht ausgereicht hat, um die kleine Ortsgemeinde in die Lage zu versetzen, sich um das Gotteshaus kümmern zu können. Auch der Ortsbürgermeister denkt im Interview nicht daran, dass die Glocke ihren Platz wieder im Kirchturm haben könnte, sondern möchte sie auf einem freien Platz auf dem Kirchhof sichtbar und auch läutbar aufstellen. Die gute Nachricht der Glockenrettung soll zum Schmunzeln anregen. Auf dem Lande ist eben auch mal was los. Aus journalistischer Sicht bot sich daher an, den Beitrag mit der Redewendung, dass die Kirche im Dorf bleiben möge, zu beenden. Wirklich?

Konzentration auf weniger Gebäude

Die Kirche in Lettewitz steht hier beispielhaft. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM), die die größten Teile der Bundesländer Sachsen-Anhalt und Thüringen und kleine Teile von Sachsen und Brandenburg umfasst, ihre Kirchengemeinden und ihre Kirchenkreise tragen das Eigentum an insgesamt 3 955 Sakralbauten, nämlich insbesondere 3 813 Kirchen und drei Kapellen, hinzu kommen 118 Friedhofskapellen und 21 als Kirchenruinen erhaltene Überreste von Kirchbauten. Neben den Sakralbauten sind 1 670 Häuser zur gemeindlichen Nutzung vorhanden, nämlich 1 073 (ehemalige) Pfarrhäuser und 597 Gemeindehäuser und -zentren. Schließlich besteht Eigentum an 1 088 sonstigen Gebäuden, im Einzelnen an 402 Wohnhäusern, 368 Leichenhallen, 82 Kindertagesstätten, 58 Glockenhäusern, -trägern oder -türmen, 49 Verwaltungsgebäuden, 40 Tagungshäusern, 40 Nebengebäuden, 19 weiteren Türmen, 15 Garagen, sieben Archiven, vier Scheunen und vier Schulen. Die EKM ist damit einem schon länger gepflegten Kalauer entsprechend buchstäblich „steinreich“.

Die kirchliche Nutzung dieser Gebäude nimmt ab. So fanden im Jahr 2022 statistisch erfasste 51 575 Gottesdienste (ohne Heiligabend) statt, das heißt pro Sonntag circa 1 000 Gottesdienste, mithin etwa in jeder vierten Kirche einer. Heiligabend ist ein Sonderfall: 2023 gab es in der EKM 3 545 Gottesdienste zum Fest. Selbst wenn jeder Gottesdienst in einer anderen Kirche gefeiert worden wäre, wären 271 Kirchengebäude „übrig“ (7 Prozent). Da in etlichen Kirchen allerdings mehrere Heiligabendgottesdienste abgehalten wurden und auch Gottesdienste in Pflegeheimen oder im Freien mitgezählt wurden, ist anzunehmen, dass in 10 Prozent der Kirchengebäude an Heiligabend kein Gottesdienst stattgefunden hat. In der Kirche in Lettewitz zum Beispiel. Zukünftig werden noch weniger Kirchengebäude für Gottesdienste genutzt werden. Besonders wegen der sinkenden Zahl von Kirchenmitgliedern und damit von Pfarrerinnen und Pfarrern, Prädikantinnen und Prädikanten. Parallel dazu läuft die Konzentrierung kirchlicher Nutzung auf weniger Gebäude, mithin der Rückgang der Anzahl der Gebäude selbst; das ist das Ziel der kirchlichen Gebäudekonzeption, um die Baulast pro Kirchenmitglied in finanzieller und personeller Hinsicht nicht nur nicht weiter steigen zu lassen, sondern zu reduzieren. Im Zeitraum 2019 bis 2023 wurden drei Kirchen verkauft, eine Kirchenruine, 68 Pfarrhäuser, ein Turm und 22 andere Gebäude.

Kümmerer ohne Kirchenmitgliedschaft

In der EKM stehen rund 20 Prozent aller evangelischen Kirchen Deutschlands, hier leben aber nur 3,2 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder Deutschlands. 2023 kamen 156 Kirchenmitglieder auf eines der 3 813 Kirchengebäude (ohne Friedhofskapellen et cetera). Wie viele Menschen es braucht, um ein Kirchengebäude zu erhalten, ist nicht pauschal zu sagen. Bisweilen reicht eine engagierte Person im Ort, die andere mitreißt und sich um alles kümmert. Die Aufgaben nur für den Bau- und Nutzungserhalt sind vielfältig: Begehungen, Reparaturen, Baum- und Rasenpflege, Wartung von Orgel, Glocken und Uhr etc.

Nicht alle Engagierten und Kümmerer sind Kirchenmitglieder, doch wird ihre Zahl geringer. Kümmern möchte man sich um ein Gebäude, das man selbst nutzt und über das man mitbestimmen kann. Seit langem schon übernimmt die ganze Gesellschaft in vielen Orten Mitverantwortung. Davon zeugen Kirchbauvereine und -initiativen, in denen sich auch viele Nicht-Kirchenmitglieder engagieren. Auch neue Nutzungen sichern den Erhalt mancher Gebäude. Die EKM hat von 2014 bis 2023 mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen zur Nutzung nicht mehr traditionell kirchlich geprägter Orte Modellprojekte entwickelt, wie die Kunstkapelle in Krobitz, die Bienen-Garten-Kirche in Roldisleben oder die Her(r)bergs-Kirchen im Thüringer Wald. Kirchen, für die es Kümmerer gibt, finden (fast) immer eine Nutzung, und sei sie (zeitlich) gering. Noch gibt es für die meisten Kirchen in der EKM solche Menschen. Zahlen sind schwer zu ermitteln und je nach Kirchenkreis sehr unterschiedlich. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre kann jedoch geschätzt werden: Mindestens jede fünfzehnte Kirche in der EKM ist bereits jetzt ohne eine ortsansässige Person, die sich um sie kümmert. Bei rund 250 Kirchen ist also zugespitzt formuliert schon jetzt fraglich, ob überhaupt jemand die Feuerwehr anruft, wenn der Blitz einschlägt.

Altbischof Axel Noack wird oft mit dem Bonmot zitiert, dass viele Menschen in Ostdeutschland vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben. Das wahr wohl vornehmlich auf die Kirche als Institution gemünzt, gilt aber für die Kirchengebäude trotz ihrer unübersehbar erscheinenden Präsenz indes vielerorts auch. Denn kombiniert man die genannten Fakten und Entwicklungen, ergibt sich bei optimistischer Schätzung für 2035 folgendes Bild: Rund 2 500 Kirchengebäude können gehalten und genutzt werden, wenn auch zum Teil auf geringem Niveau. Gut 1 300 Kirchengebäude sind dann in Einzelfällen verkauft oder abgebrochen, weit überwiegend stehen sie jedoch unbeachtet und ungenutzt da und verfallen langfristig. Für diese 1 300 Kirchengebäude brauchen wir und die Gesellschaft eine Lösung.

In dieser Situation wurde das Kirchenmanifest der gleichnamigen Initiative von Fachleuten aus den Bereichen Denkmalpflege, Baukultur und Architekturgeschichte im Mai 2024 unter der Überschrift „Kirchen sind Gemeingüter! Manifest für eine neue Verantwortungsgemeinschaft“ veröffentlicht. Verbunden damit war eine Petition, die zu neuen Modellen der Trägerschaft und einer neuen Lastenteilung beim Erhalt von Kirchgebäuden aufruft. Der Initiativkreis beschreibt Kirchen als baukulturelles Erbe der gesamten Gesellschaft und ruft auf, mittels einer Stiftung oder Stiftungslandschaft für den Erhalt zu sorgen (siehe Seite 24).

Wertvoll und geschichtsträchtig

Aus Sicht der Kirche ist das Manifest zu begrüßen, zumal es zeigt, dass nicht nur sie das Problem erkannt hat und auch nicht die Einzige ist, die diese wunderbaren Bauwerke liebt. Ein gesellschaftlicher Diskurs zu dem Thema läuft nun und wird noch intensiver geführt werden müssen, um den Verlust unseres kulturellen Erbes abzuwenden. Nirgendwo sonst in Deutschland finden sich so viele wertvolle und geschichtsträchtige Gotteshäuser. Über 90 Prozent der Kirchen, aber auch viele der anderen Gebäude, stehen unter Denkmalschutz und sind als wertvolles Kulturgut gekennzeichnet. Alles, was den Kirchen dabei hilft, ihre Verantwortung für den Erhalt und die Nutzung der kirchlichen Gebäude wahrzunehmen, ist positiv. Das Manifest zeigt und befördert das gesellschaftliche Interesse am Thema. Gerne greifen wir die Unterstützung auf. Und eine Erfahrung aus den Kirchengemeinden: Mit Freuden würden viele Gemeinden nicht genutzte Kirchen mit ihrer (ebenfalls nicht genutzten) Ausstattung in eine Stiftung geben, gerade wenn damit deren Zugänglichkeit gesichert wäre. In Altenburg etwa hat die Gemeinde sich dafür ausgesprochen, die Übergabe der Agneskirche in eine solche Konstruktion zu prüfen. Und vielerorts ist es ähnlich – die Gemeinden geben gerne ab in wohlwollende und möglichst nicht kommerzielle Hände. Die fehlen bislang an den meisten Orten.

Das Manifest behandelt den wichtigen Teilbereich der Bedeutung der Kirchenbauten als gesamtgesellschaftliches Kulturerbe, blendet indes andere wichtige Aspekte aus oder berührt sie nur am Rande: Kirchen und ihr Inventar sind in erster Linie Orte und Gegenstände der Spiritualität und der Religionsausübung. Diese Prägung steht bleibend im Mittelpunkt aller künftigen Nutzungsüberlegungen, schon weil die Gebäude kirchliches Eigentum sind. Insoweit geht es nicht nur um die kulturhistorische Verantwortung, sondern zugleich um theologische und spirituelle, gesellschaftliche und rechtliche Aspekte. Diese Verantwortung kann den Kirchen niemand abnehmen.

Hilfe der Gesellschaft nötig

Umgekehrt denke ich allerdings, dass an solchen Orten, an denen angesichts nachhaltigen Desinteresses am Erhalt oder Aufbau eines kirchlichen Lebens die Bedeutung der vorhandenen Kirchgebäude auf das damit verbundene Kulturerbe geschrumpft ist, auch die Kirche nur noch im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gefragt ist. Klar, die Verkehrssicherung obliegt der Eigentümerin, alles Weitere bedarf der Hilfe der Gesellschaft. In Sachsen-Anhalt etwa, wo knapp 10 Prozent der Bevölkerung einer evangelischen Landeskirche angehören, wird es nicht möglich sein, die 70 Prozent der erfassten Kunst- und Kulturgüter, die sich in kirchlicher Verantwortung befinden, dauerhaft zu erhalten. Entweder hat die Gesamtgesellschaft ein Interesse an deren Erhalt oder – das ist keine Drohung – sie werden verlorengehen. So wie der romanische Kirchturm von Lettewitz, wenn er einstürzt.

Unsere Kirche hat vielerlei Aufgaben, allen voran den Auftrag zur Vermittlung des Evangeliums durch Verkündigung, Bildung, Seelsorge und diakonisches Handeln. Keine dieser Tätigkeiten ist auf denkmalgeschützte, kulturell wertvolle, prächtig ausgestattete Räumlichkeiten angewiesen, zu deren Erhalt kirchliche Mittel nicht ausreichen. Die Verwaltung historischer Werte ist aus theologischer Sicht kein kirchlicher Auftrag. Kirche ist kein Verein zum Erhalt des kulturellen Erbes einer Gesellschaft. Dass wir es trotzdem bewahren wollen, liegt daran, dass Kirchengebäude und ihre Ausstattung ihrerseits Zeugnis ablegen von dem Vertrauen und Hoffen ihrer Erbauer auf Gott. Solange das Zeugnis nicht ins Leere geht.

Tatsächlich stellt sich die Frage, wie weit die Kirchen angesichts schwindender Möglichkeiten dies künftig leisten und mit welcher Unterstützung sie rechnen können. In diesem Sinn ist das Kirchenmanifest ein Appell an Staat und Gesellschaft, qualitätvolle Unterstützung zu leisten. Seine Wirksamkeit wird hoffentlich auch Lettewitz erreichen. Kirchlicherseits sind wir offen und gesprächsbereit.

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