Kirchen sind Gemeingüter

Warum wir einen neuen Pakt für den Erhalt unserer Kirchen brauchen
Neuverwendet: In Bielefeld-Altenhagen wurde die 1956 errichtete Kirche St. Elisabeth 2007 profaniert, verkauft und für Wohnzwecke umgenutzt.
Foto: Karin Berkemann, 2019
Neuverwendet: In Bielefeld-Altenhagen wurde die 1956 errichtete Kirche St. Elisabeth 2007 profaniert, verkauft und für Wohnzwecke umgenutzt.

Die verfassten Kirchen sind alleine mit dem Erhalt ihrer Gebäude überfordert, meint Karin Berkemann. Die Theologin, Kunsthistorikerin und Architektin gehört zu den Initiator:innen des so genannten Kirchenmanifests. Sie fordert neue Verantwortlichkeiten und in der Konsequenz neue Trägerschaften kirchlicher Räume. Dafür nennt sie fünf gewichtige Gründe.

Immer mehr Kirchen werden geschlossen, umgenutzt oder abgerissen. Dabei ist das Dilemma der beiden großen christlichen Konfessionen rasch beschrieben: weniger Mitglieder, weniger Geistliche, weniger Geld. So sehen sich die Landeskirchen und Bistümer genötigt, ihren Gebäudebesitz deutlich zu reduzieren. Expert:innen gehen davon aus, dass in Deutschland künftig ein Drittel bis die Hälfte der rund 45 000 Kirchen infrage gestellt werden. Die meisten Bestände sind bereits gesichtet, viele in einer ersten, zweiten oder dritten Runde ausgedünnt. Damit stehen die kirchlichen Gremien vor Ort vor der schwierigen Wahl, nach einem festen Zeitplan und Bemessungsschlüssel auszusortieren. Es geht längst nicht mehr um Einzelbeispiele, es geht um eine ganze Kulturlandschaft.

Vor diesem Hintergrund haben sich im Frühjahr 2024 zehn baukulturelle Akteure – darunter auch ich – zur „initiative kirchenmanifest.de“ zusammengetan und eine gemeinsame Petition veröffentlicht: „Kirchen sind Gemeingüter!“ So wie zur Gestaltung und Erhaltung dieser Bauten oft jahrhundertelang Stadt- und Ortsgemeinschaften beigetragen haben, so müssen sie jetzt auf Augenhöhe in das Gespräch einbezogen werden. Wer Kirchen „heute allein privatwirtschaftlich als Immobilien betrachtet“, betont das Kirchenmanifest, „beraubt die Communitas“. Dafür sprechen fünf gute Gründe: Eine Kirche hat mehrere Bedeutungsebenen, wurde auf Gemeinschaft angelegt, ist ein radikal öffentlicher Ort, bildet eine schützenswerte Ressource und verdient neue Formen der Trägerschaft.

Wenn es darum geht, das Besondere einer Kirche zu beschreiben, ringen gerade die akademisch Ausgebildeten um Worte. Um die Jahrtausendwende war viel von auratischen Räumen die Rede, gar von Heiligkeit. Doch es wurde immer deutlicher spürbar, dass diese Bauten an gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit verlieren. Vom Fernsehturm bis zum Minarett, die städtische Silhouette ist bunter geworden. Und bei den Kirchenräumen spricht man aktuell mehr von Kosten und Nutzen und den Rechtsformen, beides effektiv miteinander zu verbinden. Dabei droht der öffentliche Charakter dieser besonderen Bauten auf der Strecke zu bleiben. Das Manifest macht klar, dass es nicht den einen, alles bestimmenden Punkt gibt, mit dem der Wert einer Kirche steht und fällt. Vielmehr sind diese Bauten „mehrfach codierte Orte“. Natürlich wurden sie ausgelegt als Räume des religiösen Lebens, für Gottesdienst und Gemeindearbeit. Doch darüber hinaus bilden sie auch Merkzeichen in der Silhouette, bezeugen eine reiche Tradition an Kunst, Musik und Handwerk und dienen seit Generationen als Orte des Gemeinwesens – kurz, sie sind Kulturerbe.

Um die jüngsten Veränderungen der Kirchenlandschaft nachvollziehen zu können, werden sie von mir seit acht Jahren im Online-Magazin moderneREGIONAL dokumentiert. Die partizipative virtuelle Datenbank „invisibilis“ macht hier „verlorene“ Kirchenbauten wieder sichtbar. So ließen sich bereits mehr als 2 000 Standorte verzeichnen, die über eine virtuelle Karte und nach verschiedenen Kriterien durchsucht werden können. Den Schwerpunkt bilden gut 1 700 geschlossene, abgerissene, bedrohte oder umgenutzte Kirchen, die zwischen 1850 und 2024 errichtet wurden. Gezielt kommen auch die „unsichtbaren“ Kirchen jenseits der großen Namen und spektakulären Umnutzungen zum Zug. Seit 2020 gilt ein besonderes Augenmerk den Klein- und Serienbauten, die „invisibilis“ in rund 300 Einträgen bereichern und mit einem Podcast vorgestellt werden.

In der Schwebe

Die auf „invisibilis“ gelisteten Kirchen, die Veränderungsprozessen unterworfen sind, unterteilen sich in zwei Gruppen: Eine Hälfte (45 Prozent) befindet sich noch in der Schwebe, denn die Bauten stehen entweder zur Disposition oder sind geschlossen im Wartestand. In der zweiten Hälfte (47 Prozent) haben die Räume ihre Wandlung bereits durchlaufen, weil sie in eine profane Nutzung überführt oder abgerissen wurden. Es verbleibt ein geringer Anteil (8 Prozent) von Kirchen, die an eine andere religiöse Gruppierung abgegeben wurden. Diese Lösung erweist sich häufig als Übergangsphänomen, denn viele kleinere Gemeinschaften verändern sich rasch oder wechseln den Standort, sobald der Bau erste Unterhaltskosten einfordert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass immer mehr Kirchenbauten der Öffentlichkeit entzogen werden.

Auch wenn man heute oft vor verschlossenen Türen steht, eigentlich sollten Kirchen, wie alle kulturellen Räume, für alle Menschen zugänglich sein. Denn solche Bauten sind, und das ist leider selten geworden, auf Gemeinschaft hin angelegt. Dieser Anspruch auf Teilhabe ist verbrieft – in zahlreichen Erklärungen der Vereinten Nationen zu Menschenrechten und Kulturerbe, ebenso in der Faro-Konvention des Europarats. Nicht umsonst hat man nach dem Zweiten Weltkrieg europaweit alle Anstrengungen und Ressourcen gebündelt, um beschädigte oder zerstörte Kirchen wiederherzustellen oder neu zu errichten, oft noch vor den Wohnbauten. Gerade die Türme in der Silhouette standen für Alteingesessene wie für Flüchtlinge für einen Neubeginn.

In jenen Jahren entwickelte der Architekt Otto Bartning (mit Emil Staudacher) für das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland seine ikonischen hölzernen Notkirchen, ein Bauprogramm in mehreren Typenreihen. Mit standardisierten Elementen, die mit Spenden finanziert und angeliefert wurden, konnten die Gemeinden vor Ort eine neue Kirche zusammensetzen – mit viel Eigenleistung. Von den zwischen 1947 bis 1954 errichteten Bauten verzeichnet „invisibilis“ 98 Einträge. Die überwiegende Mehrzahl (72 Prozent) zeigt bis heute ihre angestammte Nutzung. Neben wenigen Abgaben an religiöse Gemeinschaften (zwei Prozent) und einigen Abrissen (12 Prozent) ist vor allem die Art der Umnutzungen (14 Prozent) hervorzuheben: Häufig behielten die Gemeinden ihre Bauten als Gruppenraum oder Kindergarten. Diese hohe Akzeptanz der Bartning’schen Montagekirchen begünstigte auch, dass zwei von ihnen in ein Freilichtmuseum überführt werden konnten.

In den boomenden 1960er- und 1970er-Jahren wurden vermehrt Typenkirchen aufgelegt, um zeit- und kostensparend dennoch eine hohe Qualität zu gewährleisten. Von 1964 bis 1975 etwa realisierte das Bistum Rottenburg-Stuttgart 26 hausförmige Stahlbetonmontage-Kirchen des Architekten Wilhelm Frank. Von ihnen befinden sich bis heute 92 Prozent in ihrer ursprünglichen Nutzung. Das Kapellenbauprogramm der schleswig-holsteinischen Landeskirche hingegen, das neben Typenbauten auch Einzellösungen kannte, zeigt einen höheren Veränderungsgrad: Von den 79 gelisteten Kirchen werden noch 78 Prozent liturgisch bespielt. Diese Zahlen widerlegen die Vermutung, serielle Kirchen seien bei den Gemeinden per se weniger beliebt, vielmehr spielt die Strukturschwäche einer Region eine entscheidende Rolle. Es bleibt festzuhalten, dass nicht allein die künstlerische Individualität, sondern vielmehr die Teilhabe, das Mitmachen, zu Akzeptanz und Erhalt beitragen.

Verhältnis zur Welt

Schon die Bibel kennt beides – den Stolz, Gott ein prächtiges Haus errichtet zu haben, und die Kritik an solch einer Selbstanmaßung des Menschen. Auch die Kirchbaugeschichte lebt von der großen Bandbreite an architektonischen Lösungen, von der bescheidenen gotischen Bettelordenskirche über den barocken Festsaal bis zum modernen Gemeindezentrum. Heute noch unterscheiden sich zwischen den Konfessionen oft die Vorstellungen von Charakter und Nutzungsmöglichkeiten eines Kirchenraums, wie es sich in den unterschiedlichen Regularien zur Entwidmung oder Profanierung niederschlägt. Doch gemeinsam ist den Theolog:innen, dass sie aktuell das Verhältnis der Kirche zur „Welt“ neu auszuloten suchen. Einer dieser Ansätze, die Öffentliche Theologie, begreift Kirche und ihre Räume als Teil der sie umgebenden Gesellschaft, ohne darin völlig aufzugehen.

Blickt man auf den aktuellen Wandel der Kirchenlandschaft, dann hat die Konfession kaum Einfluss auf die Zahlen. Unter den „invisibilis“-Kirchen, die Veränderungsprozessen unterworfen sind, finden sich 46 Prozent in römisch-katholischen Bistümern und 43 Prozent in evangelischen Landeskirchen. Für die kleineren Gruppierungen (11 Prozent), darunter vorwiegend neuapostolische Gemeinden, sticht ins Auge: Nur äußerst wenig Bauten (ein Prozent) stehen offen zur Disposition, während die Hälfte (50 Prozent) geschlossen ist. Hier diskutiert man eher intern (oder wird dabei medial weniger beachtet) und trennt sich dann beherzt. Bei den Umnutzungen wiederum treffen sich die gelisteten Kirchen der beiden großen Konfessionen und der kleinen Gemeinschaften bei je rund einem Viertel.

Stärkere Unterschiede lassen sich im regionalen Vergleich ausmachen. In Bundesländern, die traditionell eine bunte religiöse Landschaft aufweisen, werden mehr Kirchen an eine andere Gemeinschaft abgegeben: Sachsen und Baden-Württemberg (je 12 Prozent), Hamburg (13 Prozent) und vor allem das multikulturelle Berlin (22 Prozent). Im Gegenzug bleibt der Hauptstadt ein eher geringer Anteil (30 Prozent) von Bauten, die geschlossen sind oder zur Disposition stehen. Eine hohe Nachfrage führt hier zu kurzen Übergangszeiten, während sich in den östlichen Bundesländern (ohne Berlin) deutlich über die Hälfte (57 Prozent) der gelisteten Kirchen in der Schwebe befinden.

Wertvolle Reibungsflächen

Kirchenbauten sind für das Manifest auch materiell gesehen ein schützenswertes Gut – vom Mauerwerk bis zur Glasgestaltung, von der Glocke bis zur Orgel. Selbst wenn Ausstattungsstücke im Abrissfall geborgen und an einem neuen Standort eingesetzt werden, verlieren sie ihre gewachsene historische und (bau-)künstlerische Einbettung. All diese äußeren und inneren Werte bedürfen der Forschung und Vermittlung, um sie auch künftig als lebendigen Teil des Kulturerbes erfahrbar machen zu können. Nicht zu vergessen, dass in den Kirchen bereits aufgewendete Energie gespeichert ist. Auf lange Sicht gerechnet, sind Abriss und Neubau die ökonomisch wie ökologisch schlechtere Wahl. Zudem bergen traditionell langlebige Räume häufig wertvolles Erfahrungswissen über die Kunst des Reparierens, wie sie unter Architekt:innen aktuell als Umbaukultur wiederentdeckt wird. Und in den sich aufheizenden Städten wächst den kühlen Kirchenräumen gerade ein neuer unerwarteter Wert zu.

Dass Kirchen ganz nachhaltig sogar an einem anderen Standort neu zur Geltung kommen können, dokumentiert „invisibilis“ anhand der rheinischen „Wanderkirchen“. Nach Wettbewerb und Probebauten hatte die dortige Landeskirche in den 1960er-Jahren zwei Montagesysteme ausgewählt und in Serie produziert. Wenn eine Gemeinde einen solchen Bau nicht mehr brauchte, sollte er abgeschlagen und woanders wieder zusammengesetzt werden. Die vom Architekten Helmut Duncker (mit Martin Görbing) entwickelte Nurdachkirche war hier besonders beliebt. Von den auf „invisibilis“ dokumentierten 36 Bauten befinden sich zwar zwei Drittel (69 Prozent) in der Veränderung oder haben diese bereits durchlaufen. Aber immerhin 11 Prozent der Dunckerkirchen wurden ein- bis zweimal wiederverwendet – eine von ihnen erfüllt heute im österreichischen Stadl-Paura ihren liturgischen Dienst.

Wie das Kirchenmanifest ausdrücklich betont, bieten gerade moderne Gottesdiensträume „wertvolle Reibungsflächen, um unsere freie demokratische Gesellschaft weiterhin erfahrbar zu machen“. Auf drei der vier Bauphasen (1850–1918, 1919–1955, 1976–2024) entfällt je rund ein Zehntel (9–15 Prozent) der „invisibilis“-Kirchen im Wandel. Dem gegenüber stammen zwei Drittel (66 Prozent) der Bauten aus den Boomjahren 1945 bis 1975. Der Umgang mit den Veränderungen stellt sich in den vier Phasen annähernd gleich dar, nur die Umnutzungsquote liegt bei den – in Form und Material meist traditionelleren – Kirchen vor 1945 etwas höher (29 beziehungsweise 28 Prozent) als der Durchschnitt. Beim Termin einer Profanierung oder Entwidmung spielt der Faktor Zeit ebenfalls eine Rolle. Viele Gemeinden wählen dafür zeichenhaft Ostern (und den pastoral dienlichen Verweis auf die Auferstehung) oder das 50. Jubiläum der Fertigstellung.

Über das Alltägliche hinaus

Der Soziologe Ray Oldenbourg arbeitete heraus, dass Menschen Dritte Orte brauchen, an denen sie sich – zwischen ihrem Zuhause und ihrem Arbeitsplatz – begegnen und austauschen können. Als traditionelle Gemeinschaftsräume sind Kirchen, ob mittelalterlich, barock oder modern, eben solche Dritte Orte. Gerade zieht eine Ausstellung, ein Projekt von Baukultur NRW, eine weitere Deutungsebene ein: Als Vierte Orte ermöglichen Kirchen demnach auch eine Erfahrung über das Alltägliche hinaus. Wenn sie also Begegnungs- und Sinnräume zugleich sind, dann können hier Liturgie und Soziales, Gottesdienst und Kultur gut nebeneinander bestehen.

Um eine solche neue Deutungs- und Nutzungsbalance von Kirchen transparent aushandeln zu können, fordert das im Mai 2024 erschienene Manifest eine neue Verantwortungsgemeinschaft „mit einer Stiftung oder Stiftungslandschaft für Kirchenbauten und deren Ausstattungen“. Schon fünf Wochen später äußerten sich die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz in einer gemeinsamen (!) Presseerklärung positiv zu den Forderungen der Petition. Nachdem diese bereits von rund 20 000 Menschen unterschrieben wurde, während auf Podien und in der Presse breit darüber diskutiert wird, muss im nächsten Schritt gemeinsam eine konkrete Organisationsform abgesteckt werden.

Im Mai 2024 etwa bewarb man eine (explizit nicht-kirchliche) Stiftung zum Erhalt der Lübecker Altstadtkirchen mit Bezug auf das Manifest – das könnte Schule machen. Die Bundesstiftung Baukultur wiederum fordert eine vorlaufende und vergütete „Phase Null“, die frühzeitig Akteure vor Ort in die Planungsprozesse einbezieht. Denkbar sind ebenso Zwischenformen wie ein Kreativ-Moratorium: Nach festen Regeln werden ausgewählte Kirchen für zehn Jahre aus dem Verwertungsdruck herausgenommen, um dort frei zu experimentieren – damit dürfte sich in den meisten Fällen eine passgenaue Lösung finden lassen. Oder Kirche folgt ihrem eigenen Rat, festgehalten in der jüngsten Studie der Deutschen Bischofskonferenz „Ernährungssicherheit, Klimaschutz und Biodiversität“. Bezogen auf das „Gemeingut Boden“ steht Kirche demnach in einer dreifachen moralischen Pflicht: als Dialogermöglicherin, als Anwältin des Gemeinwohls und als Vorbild. Übertragen auf die baulichen Gemeingüter, könnte Kirche diesem Anspruch als Eigentümerin umso leichter gerecht werden. 

 

Die Thesen des so genannten Kirchenmanifests und die dazugehörige Petition finden Sie unter www.kirchenmanifest.de.

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