Von der Ächtung zur Achtung
Lange Zeit waren Kirchentage in der DDR die einzigen Begegnungsorte Andersdenkender im öffentlichen Raum. In Westdeutschland dagegen waren sie lange vor allem Orte gesellschaftspolitischen Engagements sowie der geistigen und geistlichen Orientierung. Und was sollen Kirchentage heute und morgen sein? Das analysiert Kristin Jahn, die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Fulda.
Im Jahr 1949 wurde der Deutsche Evangelische Kirchentag in Hannover gegründet. In einer Zeit, in der sich die Täter und die Opfer des Nationalsozialismus auf helllichter Straße wieder begegnet sind. Wie weiter mit uns? In diesem Land? Das haben sich die Gründer um Reinold von Thadden-Trieglaff gefragt. Wir müssen reden über die Schuld. Wir müssen es besser machen, haben sie sich gesagt und den Kirchentag ausgerufen auf der „Woche für das Leben“ in Hannover. Ein Labor für Mündigkeit und Engagement. Für die Suche nach dem Besseren und Besten für dieses Land.
Im gleichen Jahr wurde auch das Grundgesetz verfasst. Das Evangelium und das Grundgesetz haben eine fundamentale Einsicht gemeinsam: Das Feindbild ist abgeschafft. Beides eint die Erkenntnis: Es gibt kein „Wir gegen Die“ – es geht nur gemeinsam. Mit Respekt, auch für den politischen Gegner und im Bewusstsein um unsere Verantwortung. Vor Gott und den Menschen.
Der Kirchentag hat seit seiner Gründung immer wieder Höhen und Tiefen erlebt. Die Besuchendenzahlen spiegelten in den Anfängen, wie groß der Bedarf nach Orientierung und Sinngebung in der Bevölkerung war. Der Schlussgottesdienst in Leipzig 1954 mit 650 000 Teilnehmenden bleibt bis heute die bestbesuchte Veranstaltung aller Kirchentage. Knapp zwanzig Jahre später sind es beim 15. Kirchentag in Düsseldorf 1973 nur noch knapp 8 000 Dauerteilnehmende und gerade mal 24 000 Menschen bei dem Schlussgottesdienst. Durch die Teilung Deutschlands entwickelten sich ab 1961 zwei verschiedene Formen von Kirchentagen. Kirchentage im Osten waren weniger vom Ehrenamt geprägt, ob der nötigen Absprachen zwischen Kirche und Staat – aber dafür stark vom Momentum, der einzige Begegnungsort Andersdenkender im öffentlichen Raum zu sein. Schließlich galt in der DDR das Versammlungsverbot und einzig die Kirchen standen inmitten der Diktatur als so genannte dritte Orte zur Verfügung. Orte der Suche nach Freiheit, Orte der Redefreiheit für Fragen nach Frieden, Orte für alternative Lebensentwürfe bis hin zu Fragen der Bewahrung von Mensch und Natur.
Nicht die Amtskirche
Kirchentage in Westdeutschland haben sich nach 1961 in anderer Weise fortentwickelt. Sie wurden zum Ort gesellschaftspolitischen Engagements. Nachdem die Anziehungskraft des Kirchentages als Ort der geistigen und geistlichen Orientierung in den späten 1960er-Jahren verblasste, sah man sich konfrontiert mit einbrechenden Besuchendenzahlen. Nach dem Tiefpunkt im Jahr 1973 profilierte sich der Kirchentag, auch in seiner Eigenschaft als „Gegenüber zur Amtskirche“, neu. Er wurde mit dem Markt der Möglichkeiten zum Netzwerktreffen der Engagierten, hat seine Landesausschüsse als Brückenköpfe in die westdeutschen Landeskirchen stärker in seinen Gremien verortet. Beteiligung und Mitwirkung waren die Antworten auf eine Zeit, in der die Kirchen monolithisch und hierarchisch verfasst waren und die Selbstwirksamkeit des Einzelnen vor Ort kaum im Blick und oft auch nicht erwünscht war.
Die entstehende Friedensbewegung in den 1980er-Jahren war ein zweites Momentum, mit dem Kirchentag im Bewusstsein der Gesellschaft in Ost und West aufblitzte als Ort, an dem sich etwas bewegt. Der Kirchentag hat damit Geschichte geschrieben. Er entwickelte sich zur Herberge für das Anliegen engagierter Menschen in Westdeutschland und war Schutzraum für freien Diskurs in der ehemaligen DDR. Im Laufe seiner Geschichte hat sich der Kirchentag inhaltlich mehr und mehr verengt, beziehungsweise wurde parallel das Feld des gesellschaftlichen Konsenses kleiner. Von den evangelikalen Lagern wurde er ab Ende der 1960er-Jahre als zu „gottlos” angesehen. Dies gipfelte in der Gründung des pietistisch geprägten Christustages als Alternativangebot. Von manchen wurde er mit einem linkspolitischen Spektrum in Verbindung gebracht. Teilweise wurden Personen, die offen bekannten, bei der Konrad-Adenauer-Stiftung Stipendiat gewesen zu sein, nicht ins Präsidium gewählt. Die Verengung – ganz egal ob milieubedingt oder parteipolitisch – ist eine permanente Gefahr des Kirchentages, liegt sie doch unter anderem in dessen eigener Struktur begründet. Dieses Risiko für den eigenen Anspruch auf Vielfalt zu sehen und zu bannen, liegt in den Händen der Präsidialversammlung des Kirchentages. Dieses Gremium aus rund einhundert ehrenamtlich Engagierten bildet eine Art demokratische Basis, die starken Einfluss auf inhaltliche und organisatorische Entscheidungen des Kirchentages hat. Sie ist „Wahlvolk”, auch für sich selbst und für das Präsidium und berät letzteres. Fehlt hier die Freude an der Vielfalt konträrer Positionen, gerät die DNA des Kirchentages als Diskursplattform ins Wanken.
Die Zukunft des Kirchentages liegt heute wie in den Anfängen des Kirchentages in der Lust, die eigene Komfortzone zu verlassen und für die Freiheit des Andersdenkenden den Raum aufzumachen. Sie liegt auch in dem Bestehen auf völliger Autonomie in der Programmgestaltung – auch wenn diese aufgrund knapper werdender Ressourcen seitens der kirchlichen und öffentlichen Zuschussgeber verständlicherweise vermehrt hinterfragt wird. Kirchentag versteht sich heute mehr denn je als Diskursplattform. Offen für alle, aber nicht für alles. Personen, die menschenverachtende, rassistische Positionen vertreten, bekommen keine Bühne. Der Kirchentag fördert weder Beschimpfung noch Verurteilung. Er initiiert Kontroversen: respektvoll, vorurteilsfrei, konstruktiv.
Kontroversen wagen
Bereits 2023 wurde mit dem 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg dieser Weg beschritten. Die Kontroverse wurde wieder stärker fokussiert und gewagt. Es wurde hart in der Sache gestritten, aber ohne sich zu zerstreiten. Immer in der Annahme, auch das Gegenüber könnte Recht haben, so zum Beispiel auf dem Podium zur Friedensethik oder im Gespräch mit Verantwortlichen der „Letzten Generation“. Nicht immer ist dabei alles geglückt. So mancher Schwarze Peter wurde erneut bereits in der Anmoderation an einzelne Gesprächsteilnehmer verteilt. Aber der Kirchentag ist auf dem richtigen Weg, und seine Zukunft wird sich daran entscheiden, ob er fähig ist, unterschiedliche Positionen zu Wort kommen zu lassen; wenn er sich als faire Plattform präsentiert und nicht vorschnell Position ergreift, ausgrenzt oder unbewusst ausblendet.
Der Kirchentag ist keine NGO. Er ist kein Akteur in einer bestimmten Sache, aber er bringt Akteure miteinander ins Gespräch, vernetzt sie, ist Treffpunkt von engagierten Gruppen und Einzelnen, die auf dessen Basis gemeinsam losgehen, Bündnisse schmieden und das Beste wagen: zum Beispiel Menschen retten vor dem Tod, wie dies durch „United4Rescue“ geschieht. Kirchentag als Plattform macht genau dieses Engagement möglich und weist damit auf Christus hin. Er sendet durch seine vorurteilsfreie und respektvolle Debattenkultur performativ die Botschaft der Mitmenschlichkeit Gottes aus. Offen für alle, aber nie für den Hass auf Andersdenkende.
Manche fragen, wie politisch ist Kirchentag eigentlich noch? Er ist sehr politisch, aber eben nicht parteipolitisch. Er ist politisch, weil er die Dinge der Polis in den Blick nimmt. Die Verzweiflung der Jugend, den Rassismus und Antisemitismus in unserem Land. Die Fragen nach dem Wirtschaftsstandort Deutschland genauso wie die Frage nach Gerechtigkeit angesichts des Klimawandels oder des Missbrauchsskandals in Kirchen und kirchlichen Institutionen. Er ist politisch in seiner Haltung, ohne Feindbild unterwegs zu sein. Er will vorurteilsfrei den Dialog immer wieder wagen und die Mitmenschlichkeit Gottes dabei keinen Zentimeter preisgeben.
Das vorletzte Wort
Es ist politisch, in diesen Zeiten zu loben, zu beten und zu singen. Nicht mitzuschimpfen, wenn alles schimpft. Es ist politisch, in diesen Zeiten von Gottes Herrlichkeit zu erzählen, von dem Gott, der uns richten und aufrichten wird. Von dem Gott, der uns zusammendenken kann aller Schuld und allen Differenzen zum Trotz. Dieser Aspekt der Rechtfertigungstheologie ist dem Kirchentag ins Stammbuch geschrieben. Es ist politisch, in diesen Zeiten die Trennung zwischen Werk und Person immer wieder wie Sand ins Getriebe der Verurteilungen zu streuen: Was, wenn Gott wirklich über uns thront? Wenn er das letzte Wort hat? Welches Recht habe ich dann zu richten? Aber welche Pflicht habe ich auch, das vorletzte Wort zu wagen; das Unrecht zu benennen, das mir oder Dir widerfahren ist, und nach einem besseren Weg für unser Leben im Morgen zu suchen.
Kirchentag ist konstruktiv. Auch weil er mit Gott rechnet. Dass dieser das letzte Wort hat, lässt uns das vorletzte Wort wagen und in der Wut aufeinander nicht stecken bleiben. Dass Gott den Menschen rechtfertigt aus Gnade und nicht aufgrund seiner Werke, macht uns demütig und frei zugleich. Frei auch, zu unseren eigenen Fehlern zu stehen und uns zugleich eine bessere Zukunft zuzugestehen. Es ist politisch, der Trennung nicht das Wort zu reden, ohne Feindbild zu debattieren, ohne Feindbild im Chor zu singen, die eigene Stimme für die Freiheit des Nächsten zu erheben. Kirchentag durchleuchtet die Polis im Spiegel der Schrift und lädt zu einer anderen Haltung ein. Er macht bei dem ganzen „Wir gegen Die“, „hier die Guten, da die Bösen” nicht mit. Denn er weiß um die Schuldhaftigkeit des Menschen und um seine Freiheit zur Umkehr.
Die identitätspolitischen Debatten der vergangenen Jahre haben die Gesellschaft – und auch den Kirchentag – nicht stärker, sondern teilweise schwächer gemacht. Bei aller Notwendigkeit, Minderheiten endlich eine Stimme zu geben, fußen diese Debatten in vielen Fällen darauf, dass immer schon ein Wir gegen eine Gruppe in Stellung gebracht wird. Dagegen setzt der Kirchentag das Wir der Geschöpfe Gottes, und in diesem Wir ist jeder Mensch mitgedacht und jeder gewürdigt – in Unschuld und Schuld. Denn Gott grenzt nicht aus. Auch nicht um des Guten Willen.
Auf einer Tagung in Leuna im Frühjahr 2024 hat sich das Präsidium des Kirchentages noch einmal grundsätzlich mit der Frage beschäftigt: Sind wir Diskursplattform oder kirchlich-politischer Akteur? Legen wir uns auf Standpunkte fest oder suchen wir den Ausgleich der Perspektiven? Worin liegt unser Schatz? Das Präsidium hat für sich festgehalten: Unser Bekenntnis ist performativ, es ist die Art und Weise unseres Dialoges, aber keines einer bestimmten Position. Darum schließt sich der Kirchentag auch keinen Bündnissen oder anderen Vereinen an. Wir wissen uns schon gebunden in dem, der alle und alles erschuf.
Wir wollen Diskurse führen in jenem evangelischen Selbstverständnis, das zwischen Werk und Person trennt und jedem Menschen zugesteht, mit sich und miteinander noch nicht fertig zu sein. Wir wollen Diskurse führen in der Gewissheit, dass der Mensch noch Zukunft hat und je einzeln in der Freiheit und Verantwortung steht, sich zu verändern. Das ist die Hoffnungserzählung, die unsere Gesellschaft braucht. Mutig, stark, beherzt: Die drei Worte als Motto und Losung des 39. Deutschen Evangelischen Kirchentages (vom 30. April bis 4. Mai in Hannover) greifen diese Haltung auf.
Wach bleiben
Es braucht in diesen Zeiten Mut, beieinander zu bleiben. Wach zu bleiben füreinander; Mensch zu bleiben und dem politischen Gegner zu sagen: Du, das sehe ich anders. Es braucht Mut, das Gespräch zu wagen, ohne sich in die eigene Bubble, die Komfortzone ohne Widerspruch, zurückzuziehen. Es braucht Mut, das Gespräch im Freundeskreis, auf der Arbeit, in der Verwandtschaft immer wieder zu wagen. Nachzufragen, wenn Ressentiments verbreitet werden, den Realitätscheck zu wagen, wenn über Geflüchtete hergezogen wird. Es ist mutiger zu fragen: „Wo hast Du das erlebt? Wie meinst Du das, woran machst Du das fest?“ – anstatt einfach wegzuhören oder mitzugrummeln.
Der Kirchentag will diesen Mut feiern und fördern. Dafür braucht es Stärke, Glaubensstärke, Vertrauen in Gott, dass er mit mir und mit Dir noch nicht fertig ist. Dass Veränderung möglich ist. Das letzte Wort über uns ist nicht gesagt. Das hat Gott. Und weil das so ist, können wir beherzt sein, einander zugewandt sein und bleiben. Uns in der Sache voneinander abgrenzen, ohne einander auszugrenzen. Diskurs statt Empörung. Achtung statt Ächtung. Engagement statt Forderungen „an die Politiker” – das möchte Kirchentag ermöglichen als größte zivilgesellschaftliche Diskursplattform.
Nötiger ist sie mehr denn je, gerade angesichts der Wahlergebnisse in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Die Zeit der Proteste und Banner ist vorbei. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns unsere Wahrheiten an die Köpfe schlagen. Es braucht ein Miteinander in diesem Land, denn das Feindbild ist abgeschafft, schon seit 75 Jahren, sagt das Grundgesetz, schon seit fast 2000 Jahren, sagt Christus Jesus – und beides treibt uns an. Und damit: Auf in den Diskurs! Denn alles fängt mit einem Wort an.
Kristin Jahn
Dr. Kristin Jahn ist Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Fulda.