Jantine Nierop, Pfarrerin der Evangelischen Landeskirche in Baden, lehrt seit 2014 Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Von 2017 bis 2019 leitete sie das EKD-Studienzentrum für Genderfragen in Hannover. Vor fünf Jahren wurde sie Hochschulpfarrerin in Heidelberg. Doch dann gab sie diesen Posten auf – im Streit um das Konzept Gender. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Vor etwa zweieinhalb Jahren wurde meine Stelle als Hochschulpfarrerin in Heidelberg unhaltbar. Es ist schmerzhaft, über das Geschehene zu schreiben, aber ich will dennoch davon berichten. Die Ereignisse im Jahr 2022 beendeten jahrelange gute und sogar freundschaftliche Beziehungen. Kaum jemand innerhalb der Universitätsgemeinde hat mich im Konflikt unterstützt. Das nagt an mir.
Dies gehört zur Vorgeschichte: Von 2017 bis 2019 hatte ich als Praktische Theologin die Leitung des EKD-Studienzentrums für Genderfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover inne. Ich habe dort angefangen, weil ich dazu beitragen wollte, die Chancengleichheit für Frauen in der Kirche zu erhöhen. Zu diesem Zeitpunkt war das Thema Gender in der breiten Öffentlichkeit noch relativ unbekannt, oder man stand ihm skeptisch gegenüber. Es ist unglaublich, dass das erst sieben Jahre her ist. Das Konzept Gender interessierte mich, weil es so viel darüber aussagt, was wir in der Gesellschaft als typisch männlich und typisch weiblich ansehen. Abgesehen von den körperlichen Unterschieden sind das meist Konstruktionen in unseren Köpfen. Aber etwas, das konstruiert ist, kann auch dekonstruiert werden. Ich fand es faszinierend, diese Konstruktionen zu demontieren, um zu zeigen, dass sie nur Vorstellungen sind. Es sind allerdings mächtige Vorstellungen, die einen enormen Einfluss haben. Aber ich habe argumentiert, dass man auch jenseits dieser Klischees sein Leben frei leben kann, als Mann oder als Frau. An einem bestimmten Punkt hat sich das Konzept Gender in der Gesellschaft völlig verändert. Anstatt ein Gedankenkonstrukt zu sein, das man abbauen kann, wurde es quasi heiliggesprochen. Gender wurde plötzlich zu einem unveräußerlichen Teil der eigenen Identität.
Eine Art Menschenrecht
In den Yogyakarta-Prinzipien (2007) hatte eine internationale Gruppe von Menschenrechtlern die Geschlechtsidentität (‚gender identity‘) als eine Art Menschenrecht festgelegt. Rückblickend ist dies das erste Signal, dass sich die Dinge zu ändern begannen. Diese Prinzipien gewannen zunehmend an Einfluss auf den politischen Aktivismus und die nationale und internationale Gesetzgebung. Nach ihnen ist Geschlecht im rechtlichen Sinne reine Gefühlssache und hat nichts mehr mit einem bestimmten Körper zu tun. In Deutschland ist dies nun seit dem 1. November der Fall, wenn das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft tritt. In den Niederlanden, wo ich ursprünglich herkomme, wurde ein vergleichbares, aber längst nicht so weitgehendes Gesetz vom Parlament abgelehnt.
Der renommierte britische Rechtswissenschaftler Robert Wintemute vom King’s College London, der an der Festlegung der Yogyakarta-Prinzipien beteiligt war, hat sich inzwischen von ihnen distanziert und warnt öffentlich vor der rechtlichen Ersetzung von Geschlecht durch Geschlechtsidentität. In meiner Zeit beim Studienzentrum für Genderfragen habe ich an einem Band mitgewirkt, in dem argumentiert wird, dass Geschlecht kein binäres System ist (entweder männlich oder weiblich), sondern eine breite Palette von Möglichkeiten. Das tat ich, weil ich damals wirklich dachte, dass Menschen – nach dem Stand der biologischen Wissenschaft – nicht eindeutig als männlich oder weiblich kategorisiert werden können. Mir wurden die Augen geöffnet, als ich später Lehrbücher über Biologie und Sexologie studierte. Die mittlerweile gesellschaftlich weit verbreitete Theorie über das ‚Geschlecht als Spektrum‘ findet man dort überhaupt nicht. Es gibt zwei Geschlechter: männlich und weiblich. Daran ändert auch das Phänomen der Intersexualität nichts.
2019 fing ich als Hochschulpfarrerin in Heidelberg an. In der Universitätsgemeinde gibt es eine aktive Gruppe von Queers, die ein paar Mal im Jahr einen eigenen Gottesdienst gestaltet. Die Gruppe ist so etwas wie das Aushängeschild der Gemeinde. Mit einer beruflichen Vergangenheit am Studienzentrum für Genderfragen wurde ich von ihnen zunächst gut angenommen. Zu einem Queer-Studientag steuerte ich einen Workshop bei. Als ich mich mehr mit der Queer-Theorie beschäftigte, stellte ich allerdings fest, dass sie in grundlegenden Punkten keine wissenschaftliche Grundlage hat. Welche Anhaltspunkte gibt es für eine in jedem Menschen angelegte Geschlechtsidentität, die unabhängig vom Körper das Geschlecht bestimmen soll? Sind die Geschlechter Mann und Frau nicht eine biologische Gegebenheit?
Und was das Konzept der Non-Binärität angeht: Ist das nicht eher rückschrittlich anstatt progressiv, indem es – gerade durch die Verneinung – Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit noch einmal bestätigt? Meine Kritik an der Queer-Theorie äußerte ich in verschiedenen Zusammenhängen. Hinter meinem Rücken schickte die Queer-Gruppe einen langen Brief an den Vorstand der Universitätsgemeinde, der in Kopie an Menschen an der Universität und im Heidelberger Rathaus ging. Darin hieß es, dass meine Ansichten diskriminierend und gefährlich seien für meinen Umgang mit jungen Menschen. Später nahm die Gruppe den Brief zurück, aber der Schaden war bereits angerichtet. Ich hatte nicht erwartet, dass Menschen, mit denen ich jahrelang an der Theologischen Fakultät zusammengearbeitet hatte, mich so knallhart fallen lassen würden.
Eine geheime Seele
Die queere Gemeinschaft ist sichtbar. Sie haben gesellschaftlich den Wind im Rücken. Menschen finden die Idee einer angeborenen Geschlechtsidentität, die man suchen kann, vielleicht spannend – eine Art geheime Seele, die vom Körper getrennt ist. Außerdem gibt es wohl ein kollektives Schuldempfinden. Schwule und Lesben sind sehr lange diskriminiert worden, und wir erkennen jetzt, dass das ein Unrecht war. Wir wollen einen solchen Fehler in Bezug auf queere Menschen nicht noch einmal begehen, so die Einstellung. Das sieht man vor allem bei den Kirchen, die wollen es jetzt richtig machen.
Das Bittere ist, dass man gerade viele Schwule und Lesben unter den Kritikern der Queer- und Transbewegung findet. Eine Studie aus England (Cass-Review) ergab, dass ein hoher Prozentsatz der transidentifizierenden Kinder tatsächlich homosexuell ist. Kritiker nennen dies ‚transing the gay away‘. Auch Autismus spielt eine Rolle: Geschlechtsdysphorie und eine Autismus-Spektrum-Störung treten nicht selten gemeinsam auf. Autistische Kinder haben oft Schwierigkeiten mit sozialen Konventionen und entsprechen häufig nicht den Geschlechterstereotypen, die mit ihrem Geschlecht verbunden sind. Während des Konflikts war ich nicht nur Hochschulpfarrerin, sondern auch Dozentin an der Theologischen Fakultät. Das machte es besonders schwierig, denn ich lehrte (und lehre) auch über Genderfragen. Ich konnte mich als Pfarrerin in wissenschaftlicher Hinsicht eigentlich nicht frei äußern.
Als ich keinen Rückhalt mehr spürte und meine Position unhaltbar wurde, beschloss ich, von der Pfarrstelle zurückzutreten. Ich habe mich aber bewusst dafür entschieden, die Kritik an der Queer-Theorie und der Transbewegung weiterhin öffentlich zu äußern. Ich hatte einen Twitteraccount und konnte auf diese Weise Menschen innerhalb der Kirche über internationale Entwicklungen informieren. Die Gefahren für Kinder sind groß, wenn sie mit dem Gedanken aufwachsen, dass sie ihr Geschlecht ändern können. Auch die soziale Transition ist nicht ungefährlich. Die Forschung zeigt: Sehr oft bleibt es nicht dabei, sondern es folgen medizinische Eingriffe, die häufig irreversibel sind. Ich glaube, dass viele Menschen momentan aufwachen. Es gibt weltweit immer mehr kritische Studien. Sie zeigen zum Beispiel, dass das Selbstmordrisiko bei jungen Menschen, die sich einer Transition unterzogen haben, keineswegs gesunken ist. Vielen Transitionierten geht es nicht gut, auch durch Pubertätsblocker und verabreichte männliche oder weibliche Hormone. Verminderte Intelligenz, verminderte Fähigkeit, sexuelle Lust zu empfinden (Anorgasmie), Unfruchtbarkeit und Osteoporose können eine Folge sein. Mit jeder neuen Studie wird der Kreis der kritischen Wissenschaftler größer.
Frankreich, England und die nordischen Länder bevorzugen inzwischen einen therapeutischen Ansatz anstelle von Pubertätsblockern und der Gabe von Hormonen. Deutschland und die Niederlande machen vorerst weiter, obwohl die deutsche Behandlungsrichtlinie inzwischen von prominenten Ärzten und medizinischen Berufsverbänden heftig Gegenwind bekommt. Zuletzt haben sich vierzehn deutsche Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Deutsche Ärztetag sehr klar geäußert.
Meines Erachtens sollte die Kirche der Transbewegung gegenüber viel kritischer sein – und dies gerade aus seelsorglicher Sicht. Es hilft niemandem, Menschen auf einen Weg zu schicken, von dem wissenschaftlich nicht erwiesen ist, dass er sie glücklicher macht, im Gegenteil. Gerade im Blick auf das Wohlergehen von Kindern trägt die Kirche eine hohe Verantwortung und darf sich hier nicht einseitig positionieren. Dafür ist es wichtig, dass sie den Anschluss an die Wissenschaft nicht verliert. Denn wenn es dort eine Trendwende gibt – und die Anzeichen dafür gibt es zuhauf –, dann sollte man den einmal eingeschlagenen Weg nicht weitergehen.
Die Kirche sollte den Menschen helfen, sich frei von allen möglichen aufgezwungenen Bildern und Rollenmodellen für Jungen und Mädchen zu fühlen. Ich lese Geschichten von Eltern, die sagen: Unsere Tochter wollte schon als Kind nie ein Kleid tragen. Dann denke ich: Na und? Dann trägt sie eben kein Kleid! Auf diese Weise kann man der quälenden Identitätssuche vielleicht den Stachel nehmen. Gerade die Kirche könnte hier Eigenes einbringen, das den Menschen hilft: Du bist als Mann oder Frau geschaffen, aber das sagt nichts über deine Persönlichkeit aus. Wir müssen wieder lernen, dass manche Dinge einfach so sind, wie sie sind. Die Herausforderung besteht darin, nicht zuzulassen, dass Stereotypen über Männer und Frauen unser Verhalten bestimmen. In der Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 werden den unterschiedlichen Körpern von Mann und Frau keine eigenen spezifischen Rollen zugewiesen. Das ist sehr schön.
Dann gibt es natürlich noch die feministische Sache. In dem Moment, in dem ein Mann einfach sagen kann, dass er eine Frau ist – weil er sich „so fühlt“ –, sind die Rechte der Frauen bedeutungslos. Dann gibt es Probleme in allen Bereichen der Gesellschaft, wo Geschlecht eine Rolle spielt: auf öffentlichen Toiletten, in Umkleideräumen, in Gefängnissen, in Pflegeheimen. Und natürlich im Sport: Ich sehe immer mehr Menschen mit männlichen Körpern, die an Frauenwettbewerben teilnehmen. Gerade auch wieder bei den Olympischen Spielen. Das ist eine unfaire Verzerrung des Wettbewerbs. Die Kategorie Frauen wird praktisch abgeschafft sein. Auch hier wachen jetzt viele Menschen auf. Die Süddeutsche Zeitung hat zum Beispiel ungewöhnlich kritisch berichtet. Das gibt mir Hoffnung.
Zum Weiterlesen:
Die aktuelle Kritik von vierzehn ProfessorInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ (mit Verweisen auf den Cass-Review) findet man hier:
www.zi-mannheim.de/forschung/abteilungen-ags-institute/kjpp/informationen.html.
Informationen über die Kritik des Deutschen Ärztetags an Pubertätsblockern und Hormontherapien: www.aerzteblatt.de/
nachrichten/151391/Einsatz-von-Pubertaetsblockern-und-Hormontherapien-staerker-abwaegen
Über XY-Chromosomen im Frauensport: Johannes Aumuller/Thomas Kistner, Olympisches Boxturnier. XY ungelöst, in: Süddeutsche Zeitung, 13. August 2024.
Jantine Nierop
Dr. Jantine Nierop ist Pfarrerin und Assistentin an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg.