Die evangelische Kirche in Deutschland schrumpft schneller als erwartet. Nicht erst 2060, wie in der „Freiburger Studie“ vorhergesagt, werden sich die Mitgliederzahlen halbiert haben. 2045 ist das neue 2060, meint Steffen Bauer, der bis zum Sommer die Ehrenamtsakademie der hessen-nassauischen Landeskirche leitete. Er fordert die Landeskirchen auf, ihren Provinzialismus zu überwinden und Fusionen und Kooperationen voranzutreiben.
Fabian Peters, einer der Autoren der „Freiburger Studie“ und seit kurzem Finanzdezernent der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, hat es in einem FAZ-Interview am 19. August 2024 selbst gesagt: Die Halbierung der Mitgliederzahlen im Raum der EKD wird nicht erst 2060 passiert sein, sondern schon Anfang der 2040er-Jahre. Die Aussage „2045 ist das neue 2060“ ist also eine eher noch optimistische Annahme. Ich sehe aber nicht, dass die Leitungsorgane in den Landeskirchen und in der EKD mit dieser Entwicklung angemessen umgehen.
Im Jahr 2019 hat das Forschungszentrum Generationenverträge an der Universität Freiburg eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens für die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland erstellt. Als Startjahr der Projektion wurde das Jahr 2017 gewählt und es wurden Parameter angelegt, die die Entwicklung der letzten Jahre vor 2017 geprägt hatten. Dabei wurde ermittelt, dass die Kirchenmitgliedschaft sich bis zum Jahr 2060 halbieren würde.
Diese Jahreszahl hat eine große Wirkung erzielt und Veränderungsprozesse wie zum Beispiel in Baden, Hessen und Nassau, der Nordkirche und anderen auf den Weg gebracht. Mit großem Eifer stürzte man sich vor allem auf Interpretationen der Projektion, die den Rückgang der Mitgliederzahl nicht nur in nicht beeinflussbaren demografischen Faktoren sahen, sondern auch ganz stark „kircheneigene Faktoren“ als Ursache ausmachten. Diese, so die gern angenommene These, gelte es zu beheben. Von stärkerer Mitgliederbindung auch mittels digitaler Instrumente und einer Erhöhung der Taufquote war bald überall zu hören.
Dem Selbsterhalt verschrieben
Die EKD-Taufinitiative im Jahr 2023, die große und gute Resonanz gefunden und zu vielen schönen Taufaktionen geführt hat, brachte es aber ans Licht: Die Anzahl der Taufen sank 2023 trotzdem, und zwar deutlich. Das stellt aus meiner Sicht solche Aktionen nicht in Frage, wohl aber deren Einordnung. Die „kircheneigenen Faktoren“ unterliegen ebenfalls den umfassenden Veränderungen im Bindungs- und Beziehungsverhalten unserer Gesellschaft und sind auch Ausdruck einer schnell nachlassenden Bedeutung von Gott, Glaube und Kirche im Leben der Menschen. Und dass die Kirche in der Lage sein würde, mittels der Digitalisierung Bindung zu stärken, muss doch vor allem vor diesem Hintergrund kritisch gesehen werden: Die Landeskirchen (Ausnahme Württemberg!) hinken der Entwicklung im Bereich der digitalen Kommunikation um Jahre hinterher. Gerade das zu einer Speerspitze im Kampf gegen die angeblichen „kircheneigenen Faktoren“ zu erklären, klingt in meinen Ohren absurd. Viel bedeutsamer ist aber jenseits dieser einzelnen Segmente, dass die Organisation Kirche sich vor allem dem Selbsterhalt verschrieben und die Menschen so zu Objekten erklärt hat, die man mit besserer Information und schöneren Aktionen schon würde bei der Stange halten können. Gott sei Dank ist die Motivation im Umfeld der Segenshandlungen vor Ort eine andere.
In jedem Fall: Von rund 21,5 Millionen Gemeindemitgliedern der Evangelischen Kirche Ende 2017 sank die Zahl auf nur noch 18,5 Millionen Ende 2023, ein Verlust von drei Millionen Menschen. Und die Zahlen von 2024 lassen bis Mitte des Jahres zum Beispiel für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau erkennen, dass erneut von einem Verlust an Mitgliedern in Höhe von rund drei Prozent ausgegangen werden muss. Damit sind die Annahmen von 2019 für die Projektion der „Freiburger Studie“ durch die Realität völlig überholt.
Die Rückgänge der Gemeindemitglieder haben bis ins Jahr 2022 in absoluten Zahlen nicht auf den Rückgang an Kirchensteuern durchgeschlagen. Unter anderem eine gute Konjunktur, sehr gut verdienende und kirchensteuerzahlende Babyboomer und eine geringe Inflation ließen den Eindruck von weiter sprudelnden Kirchensteuereinnahmen entstehen.
Das Jahr 2023 markierte die Wende, denn das Kirchensteueraufkommen ging um 5,3 Prozent gegenüber dem Jahr 2022 zurück. Auch hier deuten die Zahlen für 2024 kaum eine Erholung an, zumal die Konjunktur nach wie vor schwächelt. Reinhold Bingener von der FAZ spricht deswegen von einer „finanziellen Zeitenwende“ für die Kirche, und die realen Zahlen machen die Einbrüche im Jahr 2023 deutlich: Die Württemberger zum Beispiel waren 38 Millionen, die Rheinländer rund 45 Millionen und die Bayern circa 50 Millionen Euro unterhalb der erhofften Einnahmen.
Aufbrüche vor Ort
Das alles kommt nicht überraschend, es hat sich längst und deutlich angekündigt. Innerhalb der Kirche lassen sich aber seit geraumer Zeit fast überall zwei gegenläufige Entwicklungen wahrnehmen. Die eine stimmt hoffnungsvoll und frohgemut, die andere sorgt für immer größere Probleme.
Zunächst die positive Entwicklung: Überall in den Landeskirchen lassen sich erhebliche Aufbrüche, Erprobungen, Neuerungen feststellen, die in der Regel von der Kirche vor Ort ausgehen. Ob es sich um Gottesdienstformen, -zeiten und -orte handelt oder um Pop-up-Aktionen, ob es um Segenshandlungen mit und ohne Kasualagenturen geht, ob es um gemeindeübergreifendes Handeln oder ein dezidiert sozialraumorientiertes Mittun geht, ob ein neues und anderes Zuhören, ein Miteinandertun oder ein Machen-Lassen von Menschen im Mittelpunkt steht, ob es um Teambildung und Kooperation von Gemeinden geht – es lassen sich viele Ausprägungen einer Kirche in Bewegung aufzeigen. Dabei kann es nicht um ein Ausspielen von Neu gegen Alt, von Innovation gegen das Bewährte gehen. Es geht um ein Ausprobieren, um das Sammeln von Erfahrungen in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft. Und dabei, so erlebe ich das, kommt die Frage nach Gott und Glaube, nach einer Vergewisserung über den Auftrag als Kirche nicht zu kurz.
In der Kirche vor Ort geht das einher mit vielen strukturellen Veränderungen. Da wird neu geordnet, wohin der Körperschaftsstatus gehört, und davon unterschieden wird die geistliche Gemeinde, die geistliche Gemeinschaft vor Ort als unersetzbarer Teil der regio-lokalen Kirche stark betont. Da soll an verschiedenen Stellen die Verwaltung gestärkt werden, um die Haupt- und Ehrenamtlichen zu entlasten und ja, da wird auch über verbindliche Formen der gemeindlichen Zusammenarbeit in Kooperations- oder Nachbarschaftsräumen nachgedacht, die bis zur Fusion und zu neuen Leitungsstrukturen gehen. Hier, auf dieser Ebene, geht die Kirchenentwicklung mit der Ressourcensteuerung oft Hand in Hand. Das ist schwer und tut weh, das bringt aber auf der anderen Seite auch Aufbrüche mit sich, macht Mut und Hoffnung und eröffnet neue Horizonte.
Die andere Entwicklung beschreibe ich so: Auf der Ebene der Landeskirchen herrscht der Provinzialismus. Wenn davon auszugehen ist, dass spätestens 2045 das neue 2060 ist, dann stellt diese Berechnung die Evangelische Kirche insgesamt, aber vor allem die zahlenmäßig kleineren Landeskirchen, vor große Herausforderungen. 2012 fand der letzte Fusionsprozess innerhalb der EKD seinen Abschluss: Die Nordkirche wurde gegründet. Damals zählte man in der EKD fast 23,4 Millionen Mitglieder. Ich halte es nach innen und außen nicht für vermittelbar, dass man mit 10,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2045 noch genauso 20 Landeskirchen ausweisen könne wie im Jahr 2012 mit 23,4 Millionen Mitgliedern. Um es zuzuspitzen: 20 leitende Geistliche, 20 Kirchenleitungen, 20 zentrale Verwaltungen für 10,5 Millionen Mitglieder werden im Jahr 2045 längst nicht mehr zu plausibilisieren sein. Aber nirgendwo taucht in den Reformpapieren auch der zahlenmäßig kleineren Landeskirchen das Stichwort „Fusion“ bislang auf, obwohl alle wissen, wie lange ein Fusionsprozess andauert und welche Ressourcen auf dem Weg dorthin gebraucht werden. Nur: Die Ressourcen werden schnell immer weniger. Also: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Nun kann man zu Recht fragen, ob Fusionen denn immer gut seien und andere Formen, wie enge Kooperationen, nicht vielleicht die bessere Variante sein könnten. Ich will das gar nicht bestreiten. Es mutet aber merkwürdig an, dass man für sich auf der Ebene der Landeskirche etwas verneint, was man auf den Ebenen der Gemeinden und der Kirchenbezirke und Kirchenkreise für notwendig erachtet und gesetzlich regelt.
Aber selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass eine Fusion der falsche Weg sei, dann müsste es doch längst umso intensivere Gespräche über Kooperationen, über Synergien auf allen Ebenen und in allen Bereichen geben. Die Kirchenkonferenz, der Rat der EKD und auch die EKD-Synode müssten doch von ganz vielen Übereinkünften zwischen Landeskirchen im Bereich der Akademien, der Ausbildungsstätten, der Fachstellen in Zentren und Einrichtungen hören. Doch weit gefehlt. In Landeskirchen, die Kürzungen im gesamtkirchlichen Bereich schon beschlossen haben, hätte die nachdrückliche Eröffnung von Kooperationsgesprächen vor Jahren zu fachlich wesentlich sinnvolleren Kürzungen und aufeinander abgestimmten Synergien als jetzt geführt. Provinzialismus schadet. Und gerade in den Landeskirchen, die jetzt von ihren Fachstellen Szenarien mit bis zu 75 Prozent (!) Kürzungen bis 2035 verlangen, wird den Papieren nach immer nur an interne „Lösungen“ gedacht. Die Westfalen hatten einen schon nicht mehr genehmigungsfähigen Haushalt, die Württemberger müssen in neun bis zwölf Jahren sage und schreibe eine Milliarde Euro für die Versorgung zurücklegen. Das alles muss doch die Kooperationsanstrengungen mit den Nachbarkirchen in den Mittelpunkt rücken. Provinzialismus schadet.
Vergrößerte Gräben
Wenn aber gegenwärtig weder Kooperation noch Fusionen Teile einer Strategie sind, dann könnte man noch hoffen, dass man sich wenigstens in größeren Leitungsrunden zu einem gemeinsamen Hören und Lernen zusammentut. Dann würde die Nordkirche allen sagen können, welchen Stand ihre mutigen Überlegungen zu den Themen „Kirchensteuer“, „Mitgliedschaft“, „Kosten des Klimaschutzes“ und zu den anstehenden großen Prioritätenentscheidungen haben. Baden und Kurhessen-Waldeck könnten berichten, dass sie davon ausgehen, dass nur deutlich unter 50 Prozent der Gebäude noch mit landeskirchlichen Zuschüssen werden rechnen können (Kurhessen-Waldeck nur 30 Prozent), Bayern wird erzählen, ob und wie der Prozess „Profil und Konzentration“ seinen Weg jetzt bestimmt, Baden und Hessen-Nassau würden von ihrer Art einer „regio-lokalen Kirche“ berichten, Sachsen von der Stärkung der Prädikant:innen, Braunschweig von den bevorstehenden weitreichenden strukturellen Entscheidungen, die Westfalen vom neuen Leitungsgesetz zur Erprobung für zehn Prozent der Gemeinden. Es würde zentral und intensiv über das Kirchenbild, das Pfarrer:innenbild, die digitale Kirche und so weiter diskutiert.
Geschieht das? Und wenn ja, wirkt das? Oder, so meine Vermutung, macht jede Landeskirche immer noch ihr je eigenes Ding, also genau das, was man Gemeinden und Kirchenbezirken nicht empfiehlt? (Ausnahme ist mindestens die Nordkirche, die intensiv an vielen Orten hörend unterwegs ist). Das alles müsste an Maßnahmen längst eingeleitet sein, aber leider ist es in der Realität noch schlimmer: Es werden Entscheidungen getroffen, die die Gräben vergrößern. Da treffen die drei geografisch nahen Landeskirchen in der Pfalz, in Hessen und Nassau und in Kurhessen-Waldeck innerhalb kurzer Zeit Entscheidungen über eine wichtige und kostenfreie Softwarelösung für all ihre Gemeinden in ihrem jeweiligen Gebiet, aber das Ergebnis ist jeweils ein anderes. Und damit nicht genug. Während zum Beispiel in Baden, in Kurhessen-Waldeck, in Württemberg vorzugsweise mit MS Teams gearbeitet wird, ist die Benutzung dieses Programms in Hessen und Nassau untersagt. Schlimmer noch: Da schert Kurhessen-Waldeck kurzfristig aus der hundertprozentigen Bundesbeamtenbesoldung aus, und nun gibt es im Bereich der seit langem mit der EKHN gemeinsam betriebenen Institute Pfarrer:innen mit unterschiedlicher Bezahlung je nach Herkunftslandeskirche. Gerade in diesem Feld „Besoldung, Dienstverhältnisse“ braucht es aber doch sorgsame Abstimmung untereinander.
Beim Thema „Klimaschutz“ gehen die Gesetze weit auseinander. Auch hier macht jede Landeskirche ihr eigenes Ding. Einig scheint man sich nur in einem zu sein: Nichts davon ist finanzierbar, weswegen man die Kosten und ihre Finanzierbarkeit weitgehend verschweigt. (Ausnahmen sind hier wohl nur Nordkirche und Bayern). Die nächste Glaubwürdigkeitslücke tut sich also auf und alle Organe machen mit.
Wandel der Führung
Was es bräuchte? Die Führung des Wandels bedarf des Wandels der Führung. Und genau den gibt es noch nicht. Der Wandel fängt aus meiner Sicht damit an, alle gängigen Muster, Haltungen, Überzeugungen, Gewissheiten zu hinterfragen, die eigenen „alten“ Erfahrungen hintanzustellen. Ich glaube nicht, dass die jetzt anstehenden Herausforderungen mit der gewohnten Art zu leiten zu bewältigen sind. Es braucht neue Arbeitsweisen (zum Beispiel Bayern mit den beiden Zukunftskonferenzen aller leitenden Organe, die Offenheit der Nordkirche mit ihren monatlichen digitalen Veranstaltungen, in denen man in die Werkstatt mit hineingenommen wird). Es braucht vor allem Leitungen, die die Organisation Kirche konsequent von der bevorstehenden Zukunft her denken und nicht mehr vor allem bewahrend, behördlich und damit die Vergangenheit so lange wie möglich verlängernd unterwegs sind. 2025 braucht es EKD-weite Prozesse der Leitungen mit dem Ziel, eine konkrete Zukunfts-Landkarte für verschiedene Bereiche kirchlichen Handelns und der Organisation zu skizzieren, um dann unverzüglich gemeinsam darauf hinarbeiten zu können.
Weitere Informationen: www.kirchedermenschen.de
Steffen Bauer
Dr. Steffen Bauer ist Leiter der Ehrenamtsakademie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Darmstadt.