Wahrheit und Geltung

Warum der universelle Geltungsanspruch der Black Theology ein Irrweg ist
PoC-Mann in einer Kirchenbank, neben ihm eine Bibel, darin eine Zeitschrift.
Foto: picture alliance / AP Photo | BRIAN KERSEY

Auf unseren aktuellen Schwerpunkt zur Frage, ob die „Black Theology“ auch in Deutschland eine größere Rolle spielen sollte, reagiert der Zürcher Ethiker und Theologe Johannes Fischer mit einer ausführlichen Stellungnahme. Er sieht wichtige Impulse in der Befreiungstheologie Schwarzer Christ:innen in den USA, warnt aber vor einem universellen Geltungsanspruch.

Das Oktoberheft 2024 der zeitzeichen hat als thematischen Schwerpunkt die Black Theology. Die Beiträge hierzu werfen ein erhellendes Licht nicht nur auf diese theologische Richtung, sondern auch darauf, wie diese gegenwärtig in Deutschland diskutiert und rezipiert wird. Hierauf vor allem beziehen sich die folgenden Anmerkungen.

Unter der Überschrift „Befreiung als Ziel und Zentrum. Eine Skizze der Black Theology nach James H. Cone“ gibt Max Tretter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, eine Einführung.[1] In ihr wird ein Problem sichtbar, das die Rezeption dieser Theologie erschweren kann und das deshalb hier gleich zu Anfang benannt werden soll. Einerseits ist die Black Theology in der Lebenswelt von farbigen Menschen in den USA entstanden und sie reflektiert das Erleben dieser Menschen.[2] Kennzeichnend für sie ist, dass in ihr „die Unterdrückungserfahrungen Schwarzer Personen als maßgebliche Quelle des Theologietreibens anerkannt“[3] werden. Andererseits wird, jedenfalls in Tretters Darstellung, für diese Theologie ein universaler Geltungsanspruch erhoben, also ein Geltungsanspruch auch für Christinnen und Christen, die in anderen Lebenswelten leben und die die Bibel vor dem Hintergrund dieser Lebenswelten lesen und theologisch reflektieren. 

So liest man bei Tretter: „Macht man etwa ernst mit der Aussage, dass, wie sich im Titel eines Hauptwerks Cones spiegelt, Gott der Befreier (1982) ist und Jesus Christus dieses Befreiungshandeln vorantreibt, dann müssen im Umkehrschluss sämtliche Gottesvorstellungen und Bilder von Jesus Christus, die nicht dazu beitragen, bestehende Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen zu durchbrechen oder sogar dazu genutzt werden, diese aufrechtzuerhalten, klar als falsch deklariert und kritisiert werden.“[4] Hier wird aus einer theologischen Aussage, deren Wahrheit sich Menschen vor dem Hintergrund ihrer durch Unterdrückung und Diskriminierung gekennzeichneten lebensweltlichen Situation erschlossen hat, eine Norm abgeleitet, die Verbindlichkeit beansprucht für alle Christinnen und Christen, ganz unabhängig davon, in welchen Lebenswelten sie ihren Glauben leben. Wenn ihr Glaube dieser Norm nicht entspricht, muss er „als falsch deklariert werden“. 

Radikaler Anspruch

In derselben Weise wird im Blick auf die Kirche geurteilt: „Auf ekklesiologischer wie institutioneller Ebene würde ein konsequentes Ernstnehmen dieser theologischen Ideen bedeuten, dass sich Gottes Befreiungshandeln auch in der Kirche und ihren Strukturen spiegeln muss. Mit Cone ließe sich dann einfordern, dass Gemeinschaften, die nicht klar für Befreiung einstehen oder diese gegebenenfalls sogar behindern, nicht ‚Kirche‘ genannt werden dürften, sondern gegebenenfalls sogar als ‚antichristlich‘ bezeichnet werden müssten.“[5] Aus dem Universalitätsanspruch für alle Christinnen und Christen werden Konsequenzen auch für die theologische Ausbildung hierzulande abgeleitet: „Im Anschluss an Willie James Jennings (2020) müsste dann auch die gesamte theologische Ausbildung und kirchliche Bildungsarbeit dahingehend hinterfragt werden, inwiefern sie in Strukturen der ‚weißen Vorherrschaft‘ wurzelt und diese reproduziert, und so umgestaltet werden, dass sie mehr Raum für Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Befreiung bietet.“[6]

Einerseits also gilt: „Sie <die Black Theology> entspringt konkreten Unterdrückungserfahrungen Schwarzer Personen und macht diese Unterdrückung zum zentralen Kern ihres theologischen Denkens.“[7] Hierin liegt zweifellos die Stärke dieser Theologie, dass sie auf die Lebenswelt und auf die konkreten Erfahrungen von Menschen bezogen ist und diese reflektiert. Das unterscheidet sie von so mancher akademischen Theologie, die sich in gedanklichen Konstruktionen über Gott, Welt und Menschen ergeht. Andererseits jedoch wird mit dem universellen Geltungsanspruch für diese Theologie Christinnen und Christen, die keine „Schwarzen Personen“ sind und die daher deren Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht teilen, bestritten, dass sie die Bibel in derselben Weise, nämlich vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen Erfahrungen lesen und dabei möglicherweise zu einem anderen Verständnis bezüglich des Handelns Gottes in Jesus Christus gelangen. Von ihnen wird vielmehr verlangt, dass sie sich das Gottes- und Christusverständnis der Black Theology zu eigen machen und die Kirche und die theologische Ausbildung im Sinne dieser Theologie ausrichten. Andernfalls ist ihr Glaube falsch, und ihre Gemeinschaft ist keine Kirche. Damit aber wird genau das eingefordert, was an der „weißen“ akademischen Theologie kritisiert wird, nämlich dass Menschen sich eine Überzeugung zu eigen machen sollen, die mit ihrer Lebenswelt nicht vermittelt ist.

Man ist versucht, die Radikalität dieses Universalitätsanspruchs zu Ende zu denken. Was bleibt von der christlichen Überlieferung übrig, wenn ernst gemacht wird mit der Forderung, dass „sämtliche Gottesvorstellungen und Bilder von Jesus Christus, die nicht dazu beitragen, bestehende Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen zu durchbrechen oder sogar dazu genutzt werden, diese aufrechtzuerhalten, klar als falsch deklariert und kritisiert werden“ müssen?

Paulus und der Sklave Onemisus

Wie steht es diesbezüglich mit dem Apostel Paulus? Anders als in der Verkündigung Jesu finden sich bei Paulus die Worte ‚Freiheit‘ und ‚Befreiung‘ an zentraler Stelle seiner Theologie: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1). Ersichtlich geht es Paulus in diesen Sätzen um etwas anderes als um die Durchbrechung gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Diskriminierungsstrukturen. Das Wort ‚Freiheit‘ meint bei ihm Freiheit vom Gesetz, von der Sünde und vom Tod. Es ist diese Freiheit, zu der Christus befreit hat. Das ist das Zentrum seiner Theologie.

Gegen die zu seiner Zeit herrschende Unterdrückung insbesondere in Gestalt der Sklaverei hat Paulus hingegen nicht aufbegehrt, im Gegenteil. Den entlaufenen Sklaven Onesimus schickt er zurück zu seinem Herrn. Allerdings gibt er ihm einen Brief mit, der an diesen, einen Christen, gerichtet ist und in dem er schreibt: „Denn vielleicht war er <Onesimus> darum eine Zeitlang von dir getrennt, damit du ihn auf ewig wieder hättest, nun nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen, der mehr ist als ein Sklave: ein geliebter Bruder, besonders für mich, wieviel mehr aber für dich, sowohl im leiblichen Leben wie auch in dem Herrn.“ (Philemon Vers 16)

Einerseits also ist Paulus kein Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei. Andererseits aber schärft er im Blick auf die christliche Gemeinde ein, dass diese eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ist und dass es daher in ihr keine Rolle spielen darf, ob jemand Sklave ist oder Freier. (Vgl. auch Gal 3,28)

Was sagt Luther?

Ersichtlich entspricht die paulinische Theologie damit nicht der Norm, welche in Tretters Darstellung durch die Back Theology aufgestellt wird. Denn dieser zufolge muss Theologie darauf gerichtet sein, „äußere Unterdrückungszustände anzugehen“ und „diskriminierende Gesellschaftsstrukturen zu überwinden“[8]. Sie muss, wie James H. Cone dargelegt hat, Ziele von der Art verfolgen, wie die Black Power-Bewegung sie verfolgt: „Christentum steht Black Power nicht fremd gegenüber; es ist Black Power.“[9] Daher kann Cone in Bezug auf die Black Power-Bewegung schreiben, dass sie „Manifestation Gottes selbst“ ist. Mit diesem Gottesverständnis lässt sich die paulinische Theologie schwerlich zusammenbringen.

Wie steht es mit Luther? Auch innerhalb seiner Theologie kommt der Freiheit zentrale Bedeutung zu. Allerdings geht es um die Freiheit eines Christenmenschen, die Luther ähnlich begreift wie Paulus. Gewiss ging es in der Reformation auch um die Befreiung aus äußeren Machtstrukturen, mit denen die damalige Kirche Menschen beherrscht und unterjocht hat. Doch die christliche Freiheit, wie Luther sie in seinem Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ entfaltet, besteht nicht in der Befreiung aus diesen Machtstrukturen. Sie ist, wie bei Paulus, in dem Gottesverhältnis begründet, das in Christus Wirklichkeit geworden ist. Daher ist auch Luthers Theologie nicht darauf gerichtet, äußere Unterdrückungsverhältnisse und gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen zu durchbrechen und zu überwinden. 

Man könnte fortfahren: Wie verhält es sich zum Beispiel mit den Liedern Paul Gerhardts? Paul Gerhardt erlebte zu seiner Zeit gänzlich andere Verhältnisse, als schwarze oder farbige Menschen sie im 20. Jahrhundert in Amerika erlebten, nämlich den dreißigjährigen Krieg. Das gehörte zu seinem lebensweltlichen Hintergrund, den er auch in seinen Liedern verarbeitet hat. Auch diese Lieder und deren implizite Theologie lassen jeden Impuls vermissen, äußere Unterdrückungsverhältnisse und Diskriminierungsstrukturen zu bekämpfen und zu überwinden. Soll man sie deshalb aus dem Gesangbuch entfernen?

Theologie ist immer kontextuell

Wie gesagt, besteht das Problem in dem universellen Geltungsanspruch, der für die Black Theology erhoben wird.  Dieses Problem trifft man allerdings nicht nur bei der Black Theology an. Auch „weiße“ Theologien haben immer zu universellen Geltungsansprüchen tendiert. Man unterscheidet dann nicht zwischen Wahrheit und Geltung und meint, dass, was wahr ist, doch allgemeingültig sein muss in dem Sinne, dass alle Menschen diese Wahrheit anerkennen müssen. Dabei vergisst man den lebensweltlichen Hintergrund, vor dem sich die eigene theologische Wahrheitserkenntnis gebildet hat. Alle Theologie hat, wenn sie nicht bloße Gedankenkonstruktion ist, einen lebensweltlichen Hintergrund und ist daher immer „kontextuelle“ Theologie. 

Stellt man dies in Rechnung, dann ist im Blick auf theologische Urteile die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Geltung unabweisbar. Was vor dem Hintergrund der eigenen Lebenswelt als wahr erkannt wird, das ist damit noch nicht für andere gültig, da diese vor dem Hintergrund ihrer Lebenswelt urteilen. Daher sollte man universelle Geltungsansprüche aus der Theologie verbannen. Nur zu oft waren und sind sie mit Machtansprüchen verbunden, nämlich anderen vorzuschreiben, wie sie zu denken und Dinge zu verstehen haben. Wie der Beitrag von Tretter zeigt, gibt es auch rund um die BlackTheology derartige Tendenzen. Die Einsicht, dass es viele Lebenswelten gibt, vor deren Hintergrund die Bibel resonant werden kann, und zwar ganz unterschiedlich resonant werden kann, macht theologisch bescheiden. Und sie führt zu einer Einstellung des Respekts in Bezug auf den Glauben und die theologische Einsicht von Christinnen und Christen anderswo und zu früheren Zeiten.

Welche Schlüsse soll man aus dem Gesagten ziehen? Folgt daraus, dass Christinnen und Christen, die die Bibel in unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten rezipieren, einander nichts zu sagen haben und dass daher die Black Theology für weiße Europäer irrelevant ist?

Es gibt im Themenschwerpunkt dieses zeitzeichen-Hefts zwei sehr lesenswerte Beiträge, die Antwort geben auf diese Frage. Sarah Ntondele, Studentin der evangelischen Theologie in Hamburg, schreibt in ihrem Beitrag mit dem Titel „Dem Schwarzen Christus begegnet. Wie Schwarze Schriftsteller die Theologie Bonhoeffers formten[10] über die Wende, die Dietrich Bonhoeffers theologisches Denken durch die Begegnung mit dem schwarzen amerikanischen Christentum während seines Studienjahres am Union Theological Seminary in New York genommen hat.

Zu Einsichten verhelfen

Sie verdeutlicht diese Wende an einem Gedicht von Countee Cullen mit dem Titel „The Black Christ“, das Bonhoeffer offenbar tief beeindruckt hat und das er noch Jahre später in seinem Aufsatz „Protestantismus ohne Reformation“ erwähnt. Darin wird Jesus als erster in einer Reihe von gelynchten schwarzen Männern im Süden der USA imaginiert. Christus begegnet im Leidenden – das wird zu einem zentralen Gedanken in Bonhoeffers Theologie. Man fühlt sich an sein spätes Gedicht „Christen und Heiden“ erinnert, in dem es heißt: „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.“ Sarah Ntondele kontrastiert dies mit Bonhoeffers deutschnational geprägtem theologischen Denken vor seinem Amerikaaufenthalt. Was an diesem Beitrag deutlich wird, das ist, dass Menschen, die die Bibel vor dem Hintergrund unterschiedlicher lebensweltlicher Erfahrungen lesen, einander sehr viel sagen können und dass sie einander zu entscheidenden theologischen Einsichten verhelfen können. Deshalb ist es auch die Black Theology wert, dass man sich mit ihr auseinandersetzt. 

Den Gewinn, der daraus zu ziehen ist, verdeutlicht Claus-Dieter Osthövener, Professor für Systematische Theologie an der Universität Marburg, in seinem Beitrag mit dem Titel „Kreuz und Lynchbaum. Was ich als Weißer Mann von der Black Theology gelernt habe“[11]. Über seine Erfahrungen mit der Black Theology schreibt er: „Ich lerne dort ‚die Menschheit‘ neu kennen, in ihren Abgründen und ihrem den bedrückendsten Umständen abgerungenen Stolz, in ihrer unbändigen Freude und ihrem dumpfen Hass. Und inmitten dieser Gegensätze und Spannungen zeigt sich dann doch als eine Art Vision die Idee einer vielfältigen und zugleich solidarischen, im emphatischen Sinne ‚weltbürgerlichen‘ Gemeinschaft aller Menschen.“[12]

Ein Beitrag in diesem Themenschwerpunkt, der überschrieben ist mit „Rassismus im Semesterplan. Warum Schwarze Theologie an hiesigen Fakultäten wichtiger werden sollte[13], hat mich ratlos gemacht. Er stammt von Nathalie Eleyth, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für christliche Gesellschaftslehre der Universität Bochum arbeitet. In diesem Beitrag geht es nicht um Theologie, sondern um Moral. So jedenfalls ist seine Argumentation aufgebaut. Die Verfasserin begründet die Notwendigkeit einer Rezeption der Black Theology an den deutschen theologischen Fakultäten damit, dass die Gesellschaft in Deutschland eine durch und durch rassistische Gesellschaft ist. „Irritierend ist die Ausblendung rassismuskritischer Diskurse in der Theologie, weil Rassismus im postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland ein Strukturierungsmerkmal der Gesellschaft ist, rassismusfreie Räume nicht existieren und Menschen of Color alltäglich Ausschluss- und Entrechtungserfahrungen machen. Erklärbar sind die unterkomplexe theologische Verhandlung von Rassismus und die epistemische Marginalisierung der Erkenntnisprivilegien von Menschen of Color, weil Theologie und Kirche in Deutschland dominant weiße Räume bilden und Teil der weißen Dominanzkultur sind, in der die Verleugnung, strategische Bagatellisierung oder auch Externalisierung von Rassismus normalisiert sind.“ 

Rassismus kein empirisches Phanömen

Weil Gesellschaft, Kirche und Theologie rassistisch sind, braucht es Schwarze Theologie: „Die Notwendigkeit Schwarzer Theologie in Deutschland ergibt sich vor allem durch die Realität der superdiversen, aber keineswegs post-rassistischen Gesellschaft. Alle Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sind rassistisch sozialisiert – ob sie dies anerkennen oder nicht. Rassismus ist in unseren Wissensarchiven, unserer Sprache, in der Alltags- und Hochkultur, der Sozialstruktur und allen gesellschaftlichen Teilbereichen vom Bildungssystem über das Gesundheitssystem bis hin zum Wohn- und Arbeitsmarkt.“ So sind auch „Seminarpläne mit ausschließlich weiß positionierten Theolog*innen … das Ergebnis von Rassismus.“ Seminare exklusiv über die Theologie Friedrich Schleiermachers oder die Theologie Karl Barths oder Paul Tillichs sind hiernach Manifestation einer rassistischen theologischen Einstellung.

Wer fordert, dass Rassismus zu einem Querschnittsthema in den einzelnen theologischen Fachdisziplinen gemacht werden soll, der sollte freilich darüber nachgedacht haben, was eigentlich mit dem Wort ‚Rassismus‘ zum Ausdruck gebracht wird. Die Verfasserin schreibt in den zitierten Sätzen über Rassismus so, als würde es sich dabei um ein empirisches Phänomen halten. Das jedoch ist mitnichten der Fall. Empirisch lassen sich bestimmte Überzeugungen und Verhaltensweisen von Menschen erheben. Doch die moralische Wertung, die in dem Wort ‚Rassismus‘ steckt, lässt sich nirgendwo in der Empirie auffinden. Und sie lässt sich auch nicht aus der Empirie logisch ableiten. Sie wird vielmehr von denen getroffen, die Überzeugungen und Verhaltensweisen anderer als „rassistisch“ qualifizieren und Menschen als Rassisten bezeichnen. Daher sagt der Rassismus-Vorwurf mindestens so viel über die Sprecherin oder den Sprecher aus wie über das, worauf sich der Vorwurf bezieht.

In ihrem lesenswerten Buch „Wie man Mensch wird. Auf den Spuren der Humanisten“ schreibt Sarah Bakewell auch über David Hume, den schottischen Aufklärer, der in dem Bestreben, die Welt menschlicher zu machen, scharfsinnig Vorurteile seiner Zeit zerpflückt hat. Allerdings teilte Hume ein Vorurteil, das unter den Intellektuellen seiner Zeit verbreitet war. Wenn er vom Menschen schrieb, dann bezog sich dies auf körperlich und geistig gesunde weiße Männer. „In einer berühmt-berüchtigten Fußnote sagte er, nichtweiße Menschen seien ‚von Natur aus minderwertig‘ und würden nichts hervorbringen, was mit den Schöpfungen der Europäer vergleichbar wäre. Sie hätten ‚keine genialen Erzeugnisse, keine Künste, keine Wissenschaften.‘ Nachdem James Beattie ihm und anderen Philosophen vorgeworfen hatte, sie betrachteten ‚jede Praktik und jede Ansicht als barbarisch, die nicht den Gepflogenheiten des modernen Europas entspricht‘, revidierte Hume seine beleidigende Äußerung und beschränkte deren Geltung auf Menschen afrikanischer Herkunft – was auch nicht viel besser ist.“[14]

Hochmoralischer Antrieb

In diesen Sätzen trifft Sarah Bakewell eine moralische Wertung in Bezug auf das, was Hume über nichtweiße Menschen und über Menschen afrikanischer Herkunft geschrieben hat. Sie spricht von einer „beleidigenden Äußerung“ und bezeichnet Humes Beschränkung dieser Äußerung auf Menschen afrikanischer Herkunft als „auch nicht viel besser“. Dabei unterscheidet sie jedoch zwischen Hume als Person und seiner Überzeugung. Eben diese Unterscheidung wird nivelliert, wenn man Hume einen Rassisten nennt. Bei dieser Charakterisierung wird Hume als Person mit seiner Überzeugung identifiziert mit der Folge, dass das moralische Urteil über seine Überzeugung zu einem Urteil über seine Person wird. Damit ist er als Aufklärer und Humanist erledigt. Denn ein Rassist kann kein Humanist sein. Also muss man, wie es in England geschehen ist, Studentenwohnheime umbenennen, die seinen Namen tragen, und Statuen entfernen, die an ihn erinnern. Was er philosophisch gedacht hat, muss niemanden mehr interessieren. Denn das Denken eines Rassisten ist rassistisch infiziert, und daher kann an ihm nichts Gutes sein.

Vielleicht werden diejenigen, die Hume einen Rassisten nennen, sich verteidigen, indem sie darauf verweisen, dass seine Überzeugung doch eindeutig rassistisch und folglich Hume ein Rassist ist. Doch damit wird wiederum von Rassismus so gesprochen, als handele es sich dabei um eine objektive, empirisch feststellbare Realität. Was empirisch feststellbar ist, das ist Humes Überzeugung. Was jedoch nicht empirisch feststellbar ist, das ist die Identifikation von Humes Person mit dieser Überzeugung. Das ist vielmehr etwas, das diejenigen aktiv tun, die Hume als Rassisten bezeichnen. Daher sagt diese Bezeichnung mehr über sie aus als über Hume. 

Warum tun sie das? Offenbar aus einem hochmoralischen Antrieb, der sich nicht der Vermehrung des Guten, sondern dem Kampf gegen das Böse verschrieben hat und der eine Lust daran hat, überall das Böse aufzuspüren und an den Pranger zu stellen. Bis hin zu einer ganzen Gesellschaft. Oder wie anders soll man die Feststellung verstehen, dass die Gesellschaft in Deutschland eine durch und durch rassistische Gesellschaft ist? Es ist wahr – und ich habe dies selbst als Studentenpfarrer und im Ruhestand im Asylarbeitskreis seines Wohnorts bei der Suche nach Wohnungen für farbige Studenten und Asylwerber permanent erfahren, so, wie wenn man gegen eine Betonwand anrennt –, dass es in Deutschland tiefsitzende Vorurteile gegenüber Menschen of Color gibt. Doch sollten wir die Menschen, die diese Vorurteile haben, nicht Rassisten nennen und auch ihr Verhalten nicht als rassistisch bezeichnen.

Es geht um Macht

Es gibt in Deutschland eine hochmoralische Vorwurfskultur, bei der man sich gegenseitig in Schubladen steckt und damit fertig ist mit dem anderen. Verständigung ist dadurch unmöglich. Doch wie soll sich etwas ändern, wenn nicht über Verständigung? Ein kluger Therapeut sagte mir einmal, dass Vorwürfe gleichbedeutend sind mit der Weigerung, zu verstehen und dazuzulernen. Die Art und Weise, wie heute das Wort ‚Rassismus‘ gebraucht und strategisch eingesetzt wird, liefert dafür reiches Anschauungsmaterial.  

Bei alledem geht es ganz entscheidend um Macht, wie dieser Beitrag verdeutlicht. Es geht um die Durchsetzung der Black Theology im Lehrplan deutscher evangelischer Fakultäten, um die Besetzung von Lehrstühlen mit Menschen of Color, um die Diskreditierung dessen, was als „weiße“ Theologie bezeichnet wird, und um anderes mehr. Wer anderer Meinung ist, der muss es sich gefallen lassen, als Rassist und Anhänger der „weißen Dominanzkultur“ bezeichnet zu werden. Das macht ein schlechtes Gewissen. So wird Moral aufgefahren, um Menschen zum Einknicken zu bringen. In dieser Hinsicht ist dieser Beitrag paradigmatisch für eine Entwicklung, die sich gegenwärtig immer mehr auch an Universitäten im deutschsprachigen Raum ausbreitet,[15] nachdem sie im angelsächsischen Raum schon lange zu beobachten ist.

Braucht es an Deutschlands evangelisch-theologischen Fakultäten mehr Black Theology? Man kann zurückfragen: Warum soll es im Jahr 2024 in Deutschland eine Theologie „brauchen“, die in den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Blick auf die Black Power-Bewegung in den USA entwickelt worden ist? Müsste man nicht vielmehr sagen, dass das, was es wirklich braucht, ein offener und unverstellter Blick ist für theologische Entwicklungen anderswo sowie die Bereitschaft, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und aus ihnen im Blick auf die eigene Theologie zu lernen? Hierfür ist Bonhoeffer ein Beispiel. 

 

[1] Max Tretter, Befreiung als Ziel und Zentrum. Eine Skizze der Black Theology nach James H. Cone, zeitzeichen 8/2024, 30-32.

[2] Mit dem Wort ‚Lebenswelt‘ bezeichne ich die Welt, wie sie von Menschen erlebt wird, im Unterschied zu der Welt der Tatsachen, mit der sich die Wissenschaften befassen.

[3] Tretter, aaO. 31f.

[4] AaO. 31.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] AaO. 31.

[9] James H. Cone, Schwarze Theologie: Eine christliche Interpretation der Black Power-Bewegung, 1971, 48. 

[10] Sarah Ntondele, Dem Schwarzen Christus begegnet. Wie Schwarze Schriftsteller die Theologie Bonhoeffers formten, zeitzeichen 8/2024, 39-41.

[11] Claus-Dieter Osthövener, Kreuz und Lynchbaum. Was ich als weißer Mann von der Black Theology gelernt habe, zeitzeichen 8/2024, 36-38.

[12] AaO. 38.

[13] Natalie Eleyt, Rassismus im Semesterplan. Warum Schwarze Theologie an hiesigen Fakultäten wichtiger werden sollte, zeitzeichen 8/2024, 33-35.

[14] Sarah Bakewell, Wie man Mensch wird. Auf den Spuren der Humanisten. Freies Denken, Neugierde und Glück, München 2023, 224.

[15] Vgl. hierzu Johannes Fischer, Was hat theologische Dogmatik mit Postkolonialität zu tun?, https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2024/07/Theologische-Dogmatik-und-Postkolonialit%C3%A4t.pdf

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Privat

Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"