Schicksalstag in Moldawien
Die Republik Moldau taucht nur selten hierzulande in den Nachrichten auf. Doch am morgigen Sonntag findet dort eine Wahl statt, die entscheidend für die Zukunft des Landes ist, insbesondere für das Verhältnis zu Russland und zur EU. Der Journalist Jörgen Klußmann, Studienleiter an der Evangelischen Akademie im Rheinland, hat sich intensiv mit der Geschichte des Landes beschäftigt und ordnet die morgige Wahl ein.
An diesem Sonntag, dem 20. Oktober wird fernab vom Interesse der Weltöffentlichkeit in der südosteuropäischen Republik Moldawien eine schicksalsschwere Entscheidung getroffen. Die Bürger und Bürgerinnen der jungen, gerade mal 33 Jahre alten Republik haben die (Präsidentschafts-) Wahl. Gleichzeitig findet ein Referendum statt, in dem die Moldauer:innen, entscheiden sollen, ob der EU-Beitritt, den die pro-europäische Amtsinhaberin Maia Sandu und ihre Regierung vertreten, in die Verfassung aufgenommen werden soll. Die Alternative ist, sich wieder Russland anzudienen, was ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung lieber sähe. Die russisch-sprachigen pro-Putin-Medien wettern jedenfalls mit deftiger Propaganda und Desinformation gegen einen EU-Beitritt. Im kommenden Frühjahr finden außerdem noch Parlamentswahlen statt.
Moldau oder deutsch geschrieben „Moldawien“ ist eine ehemalige Sowjetrepublik im Südosten Europas zwischen Rumänien und der Ukraine. Mit dem Fall der Sowjetunion 1991 erklärte sich das Land für unabhängig und mäandert seitdem zwischen Ost und West. Das liegt nicht zuletzt daran, dass eine bedeutende russische Minderheit im Lande lebt und im Osten, in Transnistrien, an der Grenze zur Ukraine noch bis zu 1500 russische Soldaten stationiert sind, die auf einem beträchtlichen Waffenarsenal sitzen. Als sich Moldau von der UdSSR abspaltete, erklärte Transnistrien seinerseits 1992 die Sezession, was zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen moldawischen Truppen und den Russen führte. Nach einem halben Jahr wurden die Kämpfe unter Vermittlung der OSZE beendet, forderten aber mehr als 500 Menschenleben. Seitdem hat sich die Situation jedoch wieder normalisiert. Transnistrien ist von keinem Staat der Welt anerkannt und defacto von Moldau abhängig, weil die Grenze zur Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges gesperrt ist und der Warenverkehr nur in diese Richtung abgewickelt werden kann. Zudem hat mehr als jeder zweite Einwohner einen moldawischen Pass.
Wechselvolle Geschichte
Mit der russischen Invasion in der Ukraine sind die Befürchtungen jedoch erneut gewachsen, dass Russland sich mit der Ukraine auch gleich Transnistiren und die ganze Republik Moldau wieder einverleiben könnte. Über Oligarchen wie Ilan Schor, der moldauische Banken um eine Mrd. US Dollar betrog und seit 2015 mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, finanziert Russland seine Desinformation, indem es Gerüchte verbreitet, dass europäische Landwirtschaftspolitik moldawischen Bauern schadet. Schor floh zuerst nach Israel und nachdem es ihm dort zu unsicher wurde, schließlich nach Moskau. Von dort sendet er regelmäßig Videobotschaften nach Moldawien und unterstützt pro-russische Politiker wie die neue Gouverneurin in Gagausien im Südosten des Landes, eine bis dahin völlig unbekannte Politikerin, die mehrfach von Putin empfangen wurde. In Gagausien leben in der Mehrheit muslimische, turkmenischen Gagausier die mit über 80 Prozent ie Mehrheit der Einwohner bilden.
Der kleine Vielvölkerstaat Moldau hat eine wechselvolle Geschichte. Von der Urzeit an war das fruchtbare Gebiet im Südosten Europas bewohnt. In der Antike siedelten dort auch Römer und bildeten mit der Zeit zusammen mit der slawischen Mehrheit eine rumänische Kultur. Im frühen Mittelalter gehörte Moldau mal zum Großreich Dschingis Khans, dann stand es unter der Oberhoheit Ungarns, bis es unter dem Volkshelden Stephan Mare im 14. Jhdt. ein eigenständiges Fürstentum wurde, das sich zahlreichen Eroberungsversuchen von Polen und dem Osmanischen Reich erwehren musste. Schließlich unterlag es doch der Hohen Pforte und musste von da an Tribute nach Istanbul zahlen, bis es schließlich im 19. Jhdt. an das russische Zarenreich fiel. Nach dem ersten Weltkrieg gehörte es in Teilen zu Rumänien, war zu Beginn des Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzt, die alle Juden vertrieben oder ermordeten und wurde dann 1940 wieder der Sowjetunion einverleibt.
Deportationen unter Stalin
Trotz dieser wechselvollen Geschichte ist es insbesondere dieser sowjetische Teil der Geschichte, der den Menschen leidvoll im Gedächtnis geblieben ist. Das liegt wohl vor allem daran, dass mit der sowjetischen Zeit die Deportationen begannen, die in drei Wellen über das Land fegten. 1940, 1949 und 1951 wurden alle diejenigen deportiert, die Stalin und seinem totalitären System ein Dorn im Auge waren: Dazu gehörten neben ehemaligen Nazi- Kollaborateuren oder ethnischen Rumänen auch andere Minderheiten - vor allem aber die wohlhabende, wirtschaftlich besonders aktive Schicht, welche die lokalen Elite bildete. Allein bei der größten Welle in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 verbannte das Stalin-Regime in Moskau 35.796 Menschen, darunter auch rund 12.000 Kinder. In Viehwagen wurden die Menschen vor allem nach Sibirien und Zentralasien gebracht. Wer nicht auf dem Wege dahin starb, musste dort unter widrigsten Bedingungen in Arbeitslagern schuften. Die Erinnerungen an diese schrecklichen Zeiten sind bis heute noch unter den Menschen außerordentlich wach und nicht nur in Moldawien.
Im vergangenen Jahr berichtete die taz über eine Ausstellung von zwei dieser Viehwaggons vor dem Parlament in der Hauptstadt Chisinau, mit denen die Deportationen durchgeführt wurden. Dort konnte man sich auch über das Schicksal der eigenen Familie erkundigen. Infolge dessen waren die Waggons gut besucht. Doch rief das die Republik der russischen Union auf den Plan. Der russische Botschafter in Moldawien bezeichnete die Ausstellung als „russophob“, die zum „Hass auf Russland und alles Russische“ aufrufe. Er verwies auf die Verbrechen, die während der rumänischen Besatzung und der Nazizeit begangen wurden, ließ die sowjetischen Deportationen aber unerwähnt. Darauf reagierte der moldawische Außenminister mit der Bemerkung, diese Argumentation sei ein Versuch, die moldauische Geschichte zu verfälschen.
Wenige Erinnerungen an Juden und Shoa
Szenenwechsel: Im lokalen Geschichtsmuseum in Edineț, einer Kleinstadt im Nordwesten der Republik Moldau, nahe der Grenze zu Rumänien, ist der Erinnerung an die Deportation ebenfalls der größte Teil der Exponate gewidmet. In einem Raum wird das Innere eines Viehwaggons nachgestellt und mit zahlreichen Fotos der Deportierten aus dem Ort und der näheren Umgebung gedacht, die Opfer der sowjetischen Verfolgung wurden.
Von der jüdischen Geschichte Edinets, das zu Beginn des 20. Jhdt. einmal zu über 80 Prozent von Juden bewohnt gewesen war, erfährt man dagegen nichts. Auf die Frage deutscher Besucher, warum dieser Teil der Geschichte denn nicht behandelt werde, heißt es lapidar, dass es aus dieser Zeit keinerlei Ausstellungsobjekte mehr gebe. Ob das an der totalen Vertreibung der Juden und der Zerstörung allen jüdischen kulturellen Erbes liegt, bleibt unbeantwortet und mag dahingestellt sein. Fakt ist, dass außer einem zentralen Mahnmal in der Hauptstadt nur wenig an die Vertreibung der Juden und die Shoa in Moldawien erinnert.
Die Uhren ticken dort anders und auch anderswo, wo die Erinnerungen an die stalinistische Unterdrückung noch quicklebendig sind, werden sie durch die neueren imperialistischen Bestrebungen Russlands noch einmal wiederaufgefrischt und erneuert. Die Angst vor dem totalitären Regime der Sowjetunion und seines Nachfolgers Russland ist in der historischen Erfahrung stark verankert und hat tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Historiker schätzen, dass allein in Moldawien bis zu 120.000 Menschen deportiert wurden. Viele starben bereits auf dem Weg nach Sibirien, andere wurden assimiliert und wurden zu treuen Sowjetuntertanen. Wieder andere kehrten erst nach Jahrzenten teils gebrochen wieder in die alte Heimat zurück. In der gesamten UdSSR wurden insgesamt 7,5 Mio. Menschen deportiert, 1,5 Mio. starben dabei.
EU-Beitritt oder nicht?
Die Enteignungen, die Stalin in der Ukraine, Russland, in Kasachstan den zwanziger Jahren durchführen ließ und die dort zu einer unvorstellbaren Hungersnot, dem Holodomor, einem Völkermord führte, dem weit mehr als acht Millionen Menschen zum Opfer fielen, wurde ebenfalls in Teilen Moldawiens erlitten. Die Verbrechen von damals sind aus Sicht der Russen heute aber nur der Versuch, Russland und seine Politik zu verunglimpfen. Ein großer Teil der russischen Minderheit in Moldawien sieht das ebenfalls so. Für sie ist der aktuelle pro-europäische Kurs von Präsidentin Maia Sandu und ihrer PAS-Partei, die derzeit noch die Mehrheit im Parlament hat, der falsche Weg. Auch sie setzen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen und dem Referendum über die Verfassungsmäßigkeit eines EU-Beitritts auf Sieg. Doch während sie einen EU-Beitritt ablehnen, verbindet die pro-europäische Präsidentin Maia Sandu damit ihr politisches Schicksal. Olga Ursu, die stellvertretende Bürgermeisterin der Hauptstadt Chisinau, die für die Wirtschaft, Finanzen und Investment verantwortlich ist, beklagt, dass die Präsidentin den Erfolg des Status als EU-Beitrittskandidat für sich allein beansprucht und nun auch durch die zeitgleiche Präsidentschaftswahl und das EU-Referendum eng mit ihrer Person verknüpft. Es gebe auch andere pro-europäische Kräfte wie z.B. Ion Cheban, den Oberbürgermeister Chisinaus, der aus der sozialistischen Partei komme.
Szenenwechsel - In Causeni, einer moldawischen Kleinstadt im Süden des Landes haben die Bürger der Stadt ein Mahnmal errichtet, dass alle Deportierten der Stadt und aus der näheren Umgebung namentlich auflistet. Die Gedenktafel ist hundert Meter lang und wird gesäumt von drei großen stilisierten Kreuzen. Die Schüler des ortsansässigen Gymnasiums haben ein Projekt auf die Beine gestellt, das offiziellen Besuchern der Stadt diesen Teil der jüngeren Geschichte nahebringen soll. Doch zunächst spricht die Lehrerin und erklärt, dass es das Ziel der Schülergruppen sei, nicht nur dieses, sondern auch andere Denkmäler der Stadt vorzustellen und zu erklären. Ein Denkmal, das an die Kriegstoten während des „großen vaterländischen Krieges“ erinnert (so heißt der 2. Weltkrieg in Russland), ein Mahnmal, das die Gefallenen in Afghanistan ehrt und eines, das den Toten während des Atomunfalls in Tschernobyl gedenkt. Das mit Abstand größte und auffälligste Mahnmal ist aber ohne jeden Zweifel das für die Deportationsopfer der Sowjetunion, das in einer Art Garten liegt. Ein Mahnmal, das an die Shoa erinnert, gibt es auch hier nicht.
Einsatz für Flüchtlinge aus der Ukraine
Die Schuldirektorin ist selbst ein Kind zweier Deportierter, die beide aus Causeni kamen, sich aber erst im Arbeitslager kennenlernten. Sie überlebten und kehrten nach Jahren in die Stadt zurück. „Die Geschichten, die meine Eltern erzählten, waren so unglaublich, dass wir Kinder sie manchmal gar nicht glauben wollten.“ Später habe sie erfahren, dass es zahlreiche andere Familien gab, die Ähnliches berichteten aber da seien ihre Eltern schon verstorben gewesen und sie habe sich dafür geschämt, dass sie die Erzählungen der Eltern angezweifelt habe, sagt die Direktorin.
Den Schülern ist die Tragweite der Geschichte ebenfalls durchaus bewusst, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie haben erleben müssen, wie Russland auch in jüngster Zeit einfach ein Nachbarland überfallen konnte und welche Folgen das für das eigene Leben haben kann, auch wenn der Krieg „nur“ auf der anderen Seite der Grenze stattfindet. Auch nach Causeni kamen tausende Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder, die schwer traumatisiert waren und dringend Hilfe brauchten. Viele Schüler engagierten sich und halfen gemeinsam mit anderen Bürgern, wie fast überall in Moldawien. Für die Zukunft wünschen sich die Schüler vor allem deswegen eine schnelle Aufnahme in die EU, „damit der Krieg nicht auch noch uns erreicht und wir frei von Verschleppung, Unterdrückung und Bedrohungen sind und frei reisen können!“ Den jungen Leuten ist anzusehen, dass sie es ernst meinen, gehören sie doch zur künftigen Elite des Landes. Sie wirken selbstbewusst und optimistisch.
Jörgen Klußmann
Jörgen Erik Klußmann ist Studienleiter "Politik des Dialogs und der Vielfalt" an der Evangelischen Akademie im Rheinland.