Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht
Die politische Debatte um eine mögliche gesetzliche Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland und die Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch hat auch die ethische Debatte neu angeregt. „zeitzeichen“ will die oft von Männern dominierte Debatte durch Beiträge von evangelischen Frauen bereichern, die vor dem Hintergrund ihrer beruflichen und persönlichen Erfahrungen entstanden. Im folgenden Text beschäftigt sich Eske Wollrad, die Geschäftsführerin des Evangelischen Zentrums Frauen und Männer in Hannover, noch einmal grundsätzlich mit der Gesamtproblematik.
„Schwangerschaftsabbruch soll nach Gottes Willen nicht sein.“ So heißt es in der gemeinsamen Verlautbarung der Evangelischen Kirche in Deutschland und der römisch-katholischen Kirche unter dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“. Um also Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, muss mit der ganzen Härte des Gesetzes agiert werden, daher ist in Deutschland Abtreibung unter Strafe gestellt, das heißt, Abtreibung stellt eine kriminelle Handlung dar. Einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte wird jedoch diese Straftat unter bestimmten Bedingungen nicht bestraft. Diese juristische Verrenkung – seit 1995 in Kraft – wurde von den Kirchen bejaht, die theologischen Probleme sind damit allerdings nicht gelöst.
Was sagt die Bibel zu Abtreibungen? Sie enthält keine systematische theoretische Reflexion zu ethischen Themen, auch nicht zum Schwangerschaftsabbruch. Ein Beispiel für eine indirekte Auseinandersetzung mit der Thematik findet sich im Ersten Testament in 2. Mose 21,22-23. Dort geht es um einen erzwungenen Schwangerschaftsabbruch durch Gewalt gegen eine Frau. Die Gewalttat wird an dieser Stelle als Sachbeschädigung gewertet. Auch im Zweiten Testament gibt es keine Äußerungen zu Abtreibungen.
Bibel nicht eindeutig
Vielfach wird das 5. Gebot als eindeutiger Hinweis darauf verstanden, Abtreibungen abzulehnen. Wir kennen es in der Übersetzung „Du sollst nicht töten.“ In der antiken jüdischen Übersetzung des Ersten Testaments ins Griechische, der Septuaginta, wird das Gebot mit „Du sollst nicht morden“ übersetzt. Auch andere Bibelstellen lassen darauf schließen, dass nicht jegliches Töten gemeint ist. So findet sich in Exodus 22,17 eine direkte Tötungsaufforderung: „Du sollst Zauberinnen nicht am Leben lassen.“ Es gibt also keine einheitliche biblische Maßgabe, die widerspruchsfrei von der Gewissensentscheidung entbindet.
Ich kann nur töten, was vorher am Leben war. Gegner_innen der Abtreibung argumentieren, ein Embryo sei einem geborenen Menschen gleichzustellen, er sei gewissermaßen ein fertiger Mensch, nur eben sehr klein. Lässt sich diese Meinung biblisch stützen? Die Zeugnisse sind nicht eindeutig, wann das Leben beginnt. In Psalm 139, 13-16 heißt es: „Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. […] Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war“. Das Gebildet-Sein kann darauf deuten, dass der Embryo schon als fertiger Mensch zu sehen ist, das Noch-Nicht-Bereitet-Sein kann als ein sich entwickelndes Leben gedeutet werden. In Hiob 33,4 heißt es: „Der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben“ oder in Genesis 2,7: „Und Gott machte den Menschen [...] und blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase.“ Nur wann dies geschieht, wird nicht gesagt. Bei der Geburt? Bei der Befruchtung? Sowohl der Rat der EKD als auch das Strafgesetzbuch bekräftigen, dass es sich beim Embryo nicht um einen „fertigen Menschen“ handelt. In der Stellungnahme des Rats der EKD vom Oktober 2023 wird folglich „ein abgestuftes Lebensschutzkonzept“ als denkbar erachtet.
Drei ethische Fragen
Auf dem Feld der Ethik sind drei Fragen entscheidend, die solche, die sich für den Erhalt des § 218 aussprechen, mit Ja beantworten müssen: 1. Ist die Anwendung von Zwang zur Durchsetzung eigener Wertvorstellungen legitim? 2. Ist das Recht des Embryos auf Leben höher einzustufen als das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren? 3. Ist die Anwendung des protestantischen Grundprinzips der Gewissensfreiheit in Bezug auf Schwangere auszusetzen?
Zur Frage des Zwangs: In Deutschland gilt der Gebärzwang, das Bundesverfassungsgericht spricht von der „Rechtspflicht, das Kind auszutragen“. Des Weiteren existieren die Beratungspflicht und die Pflicht zur Einhaltung einer Wartezeit. Somit erscheint die schwangere Person als Trägerin von Pflichten, die sie bei Strafandrohung zu erfüllen hat, während der Embryo als Rechtsträger erscheint, dessen Interessen das Gesetz anwaltlich vertritt.
Damit sind wir bei der zweiten Frage. Das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren greift erst nach den Zwangsmaßnahmen, findet im Kontext juristischer Strafbarkeit statt und kann nur umgesetzt werden, wenn eine Klinik/Praxis sowie finanzielle Mittel vorhanden sind. Diese Nachrangigkeit der Selbstbestimmung wird von internationalen Organisationen scharf kritisiert, die auf dem Grundsatz reproduktiver Gerechtigkeit die reproduktiven Rechte vor allem als Menschenrechte geborener Menschen und als wesentlichen Teil ihrer Freiheit und Selbstbestimmung verstehen. Das bedeutet: Das Recht Schwangerer, über ihren Körper zu bestimmen, ist ein Menschenrecht und keinem anderen Recht unterzuordnen.
Die Freiheit des Gewissens
Und nun zur letzten Frage. Ein protestantisches Grundprinzip ist die Gewissensfreiheit eines Christenmenschen. Zwar ist das Gewissen keine irrtumsfreie Instanz, jedoch gilt: „Gegen das eigene Gewissen zu handeln ist immer verkehrt, weil es niemals gut sein kann, im Widerspruch zu seinen eigenen ethischen Überzeugungen zu handeln. Deshalb darf niemand zu gewissenswidrigem Tun gezwungen werden“ – so formuliert es die Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007. Der Kontext dieser Aussage ist die Erwägung von Pro und Contra zum Dienst an der Waffe. Die Frage von Leben und Tod wird hier individualethisch verhandelt: Zwischen dem Christenmenschen, der sich zu entscheiden hat, und Gott steht kein Papst und auch kein Pfarrer – und auch kein Rat der EKD. Warum gilt das nicht für Schwangere? Hier argumentieren Gesetz und EKD nicht individualethisch, sondern infantilisieren Schwangere kollektiv als Unmündige, denen eine eigene Urteilsbildung auf der Basis ernsthafter Gewissenprüfung gar nicht zuzutrauen ist.
In seiner Stellungnahme vom Oktober 2023 spricht sich der Rat der EKD für eine Zwangsberatung für Schwangere aus, denn: „Gerade Frauen, deren Selbstbestimmungsrecht durch ökonomische Abhängigkeiten oder ihre Freiheitsansprüche infrage stellende Strukturen eingeschränkt ist, können von einem bloßen Rechtsanspruch auf psychosoziale Beratung unter Umständen keinen Gebrauch machen. Auch der Zugang zu Informationen und zum weiteren sozialstaatlichen Unterstützungsangebot kann nicht für alle Betroffenen gleichermaßen vorausgesetzt werden; insofern leistet die verpflichtende Beratung einen Beitrag zur Sicherstellung einer ‚informed decision‘ und kann in diesen Situationen eine Chance, Stärkung und Entlastung für Frauen sein.“ Anstatt sich für den Abbau tatsächlich existenter struktureller Barrieren einzusetzen, die Frauen daran hindern, ihre Rechte wahrzunehmen, setzt die EKD auf kollektiven Zwang. Ob die evangelische Christenheit in Deutschland diesem Diktum folgt, wird sich zeigen – die Studie der Kommission der Bundesregierung jedenfalls hat erbracht, dass diese Art der Frauenfeindlichkeit nicht mehr unwidersprochen bleibt.
Aus dem Strafgesetz streichen
Die Evangelischen Frauen in Deutschland e. V. (EFiD) fordern die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch und das Recht der schwangeren Person auf eine qualitative, ergebnisoffene, kostenfreie, barrierearme Schwangerschafts(konflikt)beratung sowie das Recht auf eine qualitätsgesicherte Gesundheitsversorgung. Die Grundlagen dafür sind in einer Broschüre mit dem Titel „Der Paragraf 218 in der theologischen Debatte. Eine Argumentationshilfe für evangelische Frauen in Deutschland“ aufgeführt.
Die EFiD kritisieren, dass Zwang und Verletzung der Menschenwürde oft als hinzunehmendes Übel betrachtet werden, um werdendes Leben zu schützen – ein hoher Preis, der ganz umsonst gezahlt wird. Denn: Kein Gesetz kann einen Schwangerschaftsabbruch verhindern. Schon immer haben Personen, die ungewollt schwanger waren, Mittel und Wege gefunden. Was Gesetze wie der § 218 hingegen verhindern, das sind sichere Abbrüche. Mithin geht es bei dem Lebensschutz um das Leben der Schwangeren, und zu Recht schreibt der Rat der EKD, es wäre „konsequent, im Einklang mit dem Aktionsprogramm der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (1994) und der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), den Schutz des Lebens durch die Stärkung der (Menschen)Rechte der Frau sicherzustellen.“
Hinweis: Dieser Artikel wurde angeregt durch die vier bisherigen Beiträge der Reihe zum Thema Schwangerschaftskonflikt, die auf Initiative und in Zusammenarbeit mit Dr. Lea Chilian (Zürich), Mag. theol. Ruth Denkhaus (Hannover) und Prof. Dr. Sarah Jäger (Jena) entstand.
Bisher erschienen:
Britta Köppen: Begegnung im Konflikt. Wie evangelische Kirche wirklich stützen und schützen kann
Maren Bienert: Paradoxien der Pflicht. Zur Debatte um § 218: Die Arbeit der Beratungsstellen
Eske Wollrad
Eske Wollrad ist Geschäftsführerin des Evangelischen Zentrums Frauen und Männer gGmbH in Hannover.