Wissen, wie’s läuft

Tengos sanfte Apokalypse

Lauernd lässt James McNew den Bass tuckern. Mit trockenem Schlagzeugticken tänzelt Georgia Hubley im Gleichschritt daneben. Betörend leichthändig gibt Ira Nagels verzerrte Gitarre Obertonsalven, dronige Untiefen, Stegkratzer und Fuzz-Melodiestöße ab. Sanft singt er: „I see clearly how it ends / I see the moon rise as the sun descends.“ Der Opener „Sinatra Drive Breakdown“ markiert, wohin die Reise auf „This Stupid World“ geht. „Fallout“ setzt mit Sonic-Youth-Anklängen fort: „I want to fall out of time / reach back, unwind / before it gets too loud / before it knocks me out / fall out of time.“ Dann lässt „Until It Happens“ zu hüpfendem Bass und Akkordeon alle Katzen aus dem Sack: „Prepare to die / prepare yourself while theres still time / Its simple to do / And then it happens to you.“

Achse des je nach Zählung 16. oder 17. Yo-La-Tengo-Albums sind Zeit und Endlichkeit. Nachvollziehbar, stoßen doch die Mitlieder dieser großen, 1984 gegründeten Alternative-Band längst selbst an jenen Horizont, den sie nehmen, wie man das von ihnen kennt: unbeschwerte Westküsten-Psychedelik mit Ostküsten-Härte verblenden, Feedbackgewitter mit schwelgendem Dreampop. Ein Konzept, das sie in vielen Facetten erkundet haben. Schmeichelweicher Gesang, wunderbare Popmelodien und unscheinbare, doch grandiose Rhythmusarbeit kommen hinzu. Hehre Botschaften haben sie hier wie stets nicht, bloß unprätentiös relevante wie schöne Musik im Gepäck, die dem Leben unverstellt ins Auge blickt, so etwa im Titeltrack: „This stupid world / It‘s killing me / This stupid world / Is all we have.“ Die Bassdrum hyperventiliert, Gitarre und Bass ertaumeln eine Feedbackorgie, die entgrenzt.

Doch so gefällig sie die Achse „Zeit“ auch bis an einen Velvet-Underground-Rausch existenzialisieren, reichen sie damit nur näherungsweise an jene Apocalypse-Now-Grenze, die der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech gerade erlebt. Jüngst schrieb er: „Der Krieg hat etwas, das mir sehr wichtig war, weggefressen, das Gefühl für Zeit. Früher, als ich in einem friedlichen Land gelebt habe und mit meinem unaufgeregten Alltag beschäftigt war, wusste ich – und darin liegt die bittere Ironie –, dass mein Leben endlich ist, ich wusste, dass früher oder später der Tod kommen und alles um mich herum ein für alle Mal verschwinden wird. Der Krieg mit seiner ganzen unersättlichen Gier hat mir dieses Gefühl genommen. Obwohl der Tod im Krieg konzentrierte Alltäglichkeit ist, fühle ich mich nicht mehr sterblich. Die Zeit ist stehen geblieben. In meinem Leben gibt es sie im eigentlichen Sinne nicht mehr. Die unfreiwillige Soldatenrolle dehnt die Zeit ins Unendliche, eine langfristige Perspektive gibt es nicht mehr. Der Krieg geht nicht zu Ende, der Tod kommt nicht. Alles steht still. Weißes Rauschen. Lethargie.“ Möge er überleben. Und frei. Yo La Tengo haben „This Stupid World“ selbst produziert. Die Live-Anmutung ist umwerfend, auch im ambientartigen Outro „Miles Away“.

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