Wenn Worte fehlen

Eine Ausstellung in Kassel versucht eine Annäherung an das Phänomen Trost
Museum Sepulkralkultur
Foto: Annemarie Heibrock

„Trost – Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“ heißt eine Ausstellung, die derzeit im Kasseler Museum für Sepulkralkultur zu sehen ist. Die Journalistin Annemarie Heibrock hat sie sich angeschaut.

Die schwarz gekleidete Frau wirft sich Erde ins Gesicht. Sie schreit, sie schluchzt, sie ist verzweifelt. Das ist nicht nur sichtbar, das ist spürbar. Und auf stumme Art sogar hörbar. Leib und Seele sind erschüttert in diesem Moment tiefsten Leides. Eine zweite Frau versucht, die Trauernde zu erreichen, ihr Nähe zu geben. Vergeblich. Die Frau ist untröstlich. Ungetröstet. Trost-los.

Festgehalten hat diese Szene der äthiopische Fotograf Mulugeta Ayene. Sein Bild, ausgezeichnet als World Press Photo 2020, zeigt die Angehörige eines Passagiers, der beim Absturz eines Flugzeuges der Ethiopian Airline in der Nähe von Addis Abeba im März 2019 ums Leben kam.

Zu sehen ist das Foto noch bis zum 17. September im Kasseler Museum für Sepulkralkultur im Rahmen der Ausstellung „Trost – Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“. Die Schau, mit der das Kasseler Haus eine Ausstellungstrilogie zum Themenfeld Trauer und Gedenken abschließt, versucht eine Annäherung an das Phänomen Trost aus verschiedenen kulturellen, religiösen und künstlerischen Perspektiven. Ein Phänomen, das, wie Jean-Pierre Wils (siehe auch Seite 68) – belgischer Philosoph und einer der Ideengeber der Ausstellung – meint, rehabilitiert gehöre. Erstens, weil es viel zu sehr mit Versagen verbunden werde. Und zweitens, weil es von der Philosophie zu lange vernachlässigt worden sei.

Es ist sicher kein Zufall, dass Ayenes Bild von der trauernden Frau zu den Exponaten gehört, die die Ausstellung eröffnen. Denn es bringt – neben dem individuellen Leid – vor allem eines zum Ausdruck: dass es Situationen gibt, in denen Trost so gut wie unmöglich ist. Jedenfalls verbaler Trost. Es ist die Tat, die die Worte ersetzt. Die Frau bewirft sich mit Erde. Das scheint ihr Weg zu sein, das Unerträgliche erträglich zu machen.

Ohne Worte kommt auch Peyo aus. Denn Peyo ist ein Pferd. Seit 2016 besucht er zusammen mit seinem Trainer Hassen Bouchakour kranke Menschen in Hospizeinrichtungen und Palliativstationen in Nordfrankreich, um ihnen Trost zu spenden. Die Vorgeschichte dieses verblüffenden Phänomens, das in Kassel mit Fotos dokumentiert ist: Bouchakour hatte bei Dressurturnieren beobachtet, dass sich Peyo mit Sanftmut und Ruhe einzelnen physisch oder psychisch geschwächten Menschen näherte, um einige Zeit an ihrer Seite zu verbringen. Nach vier Jahren Forschung und dem Vergleich mit mehr als 500 anderen Pferden konnten die Ärzte und Tierärzte eine solche Fähigkeit aktuell nur bei Peyo beobachten.

Dass die tröstende Kraft eines Tieres allerdings schon in früheren Zeiten registriert wurde, belegt ein kleines historisches Foto aus dem Kontext des Ersten Weltkriegs. Es zeigt einen sterbenden Soldaten. Er streckt seine Hand in Richtung des Kopfes seines Reitpferdes aus, das am Fußende seines Bettes steht. Sich von dem geliebten Tier zu verabschieden, könnte, so meinen die Ausstellungsmacher, dem Sterbenden ein letzter Trost gewesen sein.

Wenn Worte fehlen, kann es auch eine zwischenmenschliche Handlung sein, die Hilfe verspricht – wenigstens für den Augenblick: die liebevolle Umarmung, das Halten der Hand, ein Einfach-nur-da-Sein, zuhören, anstatt zu sprechen. Beeindruckende fotografische Zeugnisse davon sind in Kassel zu sehen. Dass der Verzicht auf verbale „Vertröstungen“ oft der bessere Weg ist, auf Trauer und Leid zu reagieren, bestätigen auch Expertinnen und Experten in Sachen Trauerbegleitung. In einer für die Ausstellung produzierten Reihe von Interviews (für die sich die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher ruhig ein wenig Zeit nehmen sollten) berichten sie über ihre Erfahrungen. Zum Beispiel Karin Flachmeyer. Sie ist Hebamme im „Heilhaus Kassel“, einer Einrichtung, die Hilfen auf medizinischer, therapeutischer und spiritueller Ebene von der Geburtshilfe bis zur Hospizarbeit anbietet. Das Konzept des Hauses ist für Karin Flachmeyer „das Tröstliche überhaupt“: dass hier Geburt, Leben und Sterben als Einheit betrachtet werden. Darüber hinaus steht für sie außer Zweifel, dass Sprache „nicht wirklich das Medium für Trost“ ist. Gerade im Schweigen lägen Chancen für einen inneren Austausch, für Interaktion und einen „Energiefluss“ zwischen ihr – der Begleiterin – und dem trauernden Menschen. Das könnte dann „vielleicht ein Anfang von Trost“ sein.

Dass Trost darüber hinaus auch im praktischen Handeln liegen kann, hat sie überzeugend erfahren nach einer Totgeburt in einer muslimischen Familie. Die festgelegten religiösen Riten – die Waschung des Kindes, seine Umhüllung mit einem weißen Tuch und schließlich die Beerdigung des Leichnams in einem Korb – bieten einen schützenden Rahmen, in dem die Trauer aufgehoben ist. Der Schmerz wird an einen Ritus abgegeben.

Vom Geben und Nehmen zwischen Tröstenden und Zu-Tröstenden weiß auch Jürgen Dahlfeld von dem Kasseler Bestattungsinstitut „Das Zeitliche segnen“ zu berichten. Durch einen trauernden Witwer habe er spüren können, dass der Tod nicht alles trennt. „Das war meine Trosterfahrung“, sagt Dahlfeld. Vom Trost durch die christliche Auferstehungshoffnung ist hingegen in der Ausstellung recht wenig die Rede. Es gebe, so sagte Jean-Pierre Wils, echten Trost in der Religion, aber eben auch viel Vertröstung.

Zwischen Trost und Vertröstung

Zwischen Trost und Vertröstung sind sicher Engelfiguren anzusiedeln, die bis heute Gräber schmücken. Viele Darstellungen solcher volkstümlich-religiösen Helferfiguren hat das Museum für Sepulkralkultur gesammelt. Eine Auswahl wird in der aktuellen Ausstellung präsentiert. Dazu gibt es eine Wand mit volkstümlich-christlichen Artefakten: ein Sterbekreuz zum Beispiel oder eine Bild- und Namenstafel von einem Grabkreuz aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine weitere Vitrine präsentiert einen Rosenkranz zusammen mit Gebetsketten aus anderen Religionen.

Wenig bekannt dürften im nicht-katholischen Bereich die so genannten Totenzettel sein. Gestaltet wie eine Traueranzeige, sind sie überschrieben mit dem Dreiklang „Jesus! Maria! Josef!“. Sie wurden in Gebet- und Gesangbüchern verwahrt, um deren Nutzerinnen und Nutzer daran zu erinnern, die Verstorbenen ins Fürbittengebet an die drei christlichen Trösterfiguren einzuschließen. Dass die Toten durch die Zettel noch eine ganze Zeit unter den Menschen weiterleben (was auch ein Trost sein kann), ist dabei vermutlich ein mehr oder weniger beabsichtigter Nebeneffekt. Einige Beispiele für diese Totenzettel sind in Kassel zu sehen. Daneben findt sich eine Reihe von Kondolenzbriefen, die, anders als viele andere Dokumente, die die Ausstellung präsentiert, zeigen, wie Trost bis in die 1960er-Jahre auch in Worten ausgedrückt wurde: durch Worte des Mitfühlens etwa, durch den Verweis auf Charaktereigenschaften des oder der Verstorbenen oder auf die gemeinsam verbrachte Lebenszeit und nicht zuletzt durch den Verweis auf die christliche Hoffnung auf ein Wiedersehen. Nach Einschätzung von Museumsleiter Dirk Pörsch­mann haben solche persönlich verfassten Trostschreiben in der Gegenwart allerdings an Bedeutung eingebüßt. An ihre Stelle träten zunehmend vorgedruckte Karten.

Hoffnung auf ein Wiedersehen

Jede Zeit und jedes kulturelle Umfeld suchen ihren eigenen Ausdruck für Schmerz auf der einen und Trost auf der anderen Seite. Das zeigt die Kasseler Ausstellung eindrücklich. Nach der Pandemie ist sie für Pörschmann zugleich ein Aufruf, sich gemeinschaftliche Rituale nicht nehmen zu lassen. Weil sie Trost spenden und damit die Tür zur Zukunft öffnen.

Zugleich lädt die Ausstellung mit ihren vielfältigen künstlerischen sowie literarisch-philosophischen Impulsen zum Nachdenken darüber ein, was Trost sein kann – für jeden und jede „Einzelne/n“? Ob sie im Leichenschmaus liegt oder in der Musik, ob in alten Texten oder modernen Kunstaktionen, ob im Glauben oder in der Natur. Denn ja, manchmal braucht es nur den Duft von Blüten oder den Gesang eines Vogels, um getröstet zu werden. Selbst in schweren Zeiten.

Mut machen kann da vielleicht ein Satz des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov, der in der Ausstellung nachzulesen ist: „Auch während des Krieges haben Vögel gesungen. Darin liegt das ganze Entsetzen ... Und ein Trost.“ 

 

Information
Die Ausstellung „Trost – Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“ ist noch bis zum 17. September zu sehen im Museum für Sepulkralkultur, Weinbergstraße 25–27, 34117 Kassel. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr, mittwochs 10 bis 20 Uhr; öffentliche Führungen immer mittwochs um 17 Uhr. Weitere Informationen unter www.sepulkralmuseum.de.

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