„Die Allfähigkeit alles Irdischen“

Eine Diskussion über Michael Triegels umstrittenes Altarbild im Naumburger Dom
Der Marienaltar im Naumburger Dom mit den beiden originalen Flügeln von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) und dem Mittelteil von Michael Triegel (geb. 1968).
Foto: epd
Der Marienaltar im Naumburger Dom mit den beiden originalen Flügeln von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) und dem Mittelteil von Michael Triegel (geb. 1968).

Über kaum ein Kunstwerk wurde in der evangelischen Kirche zuletzt mehr debattiert als über das Altarbild des Künstlers Michael Triegel für den Dom zu Naumburg. Aus Sicht der UNESCO gefährdete es den Weltkulturerbestatus des Doms. Nun wurde es erst einmal entfernt. Zu Recht? Eine Diskussion zwischen Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, und dem Theologen Karl Tetzlaff von der Universität Halle-Wittenberg.

Johann Hinrich Claussen: Über dieses Kunstwerk wurde in den vergangenen Monaten heftig gestritten: Michael Triegels Altarbild für den Naumburger Dom. Doch dabei ging es um Fragen des Denkmalschutzes. Darf das Bild hier stehen? Und wer entscheidet darüber? Was bisher gefehlt hat, ist eine ästhetische und theologische Auseinandersetzung mit diesem Kirchenkunstwerk. Das wollen wir jetzt versuchen. Sie haben über die Romantik einen Zugang zu Triegels Retabel gefunden. Das finde ich interessant. Aber Sie müssen es mir erklären.

Karl Tetzlaff: In diesem Bild sehe ich Grundimpulse der Romantik zum Ausdruck gebracht. Besonders dadurch, dass dort Alltagsmenschen, zum Beispiel die Tochter des Künstlers als Maria, dargestellt werden als Mitwirkende in einem heiligen Spiel: Das Heilige zeigt sich hier im Profanen, im Endlichen, und das Endliche ist Teil des Heiligen. Jeder Mensch kann zum Bild des Göttlichen werden. Das ist eine ur-romantische Idee. So hat Novalis von der „Allfähigkeit alles Irdischen“ gesprochen, „Brot und Wein des ewigen Lebens“ zu sein. In diesem Sinn hat Triegel keine idealen Heiligenfiguren gemalt, sondern Menschen wie dich und mich, die in seinem Bild zu Repräsentanten des Heiligen werden können. Und dazu sind wir demnach alle fähig, was uns die Betrachtung des Altarbilds erleben lassen kann. In mehreren Interviews hat Triegel zudem erklärt, er teile die Auffassung der Romantik, einerseits der aufgeklärten Dekonstruktion des alten Gottesbildes zu folgen, andererseits aber darüber hinauszugehen und einen neuen ästhetischen Zugang zum Göttlichen eröffnen zu wollen.

Johann Hinrich Claussen: Triegel folgt also dem Novalis’schen Programm, „die Welt zu poetisieren“. Das kenne ich aus der Gegenwartslyrik, allerdings auf eine andere Weise. Dort werden keine fixen Bilder gezeichnet, sondern es wird in Brüche hinein und ins Offene hinaus gedichtet. Deshalb verbinde ich mit Romantik auch Uneindeutigkeit, Doppeldeutigkeit, Offenheit, Spiel und Ironie. Ich würde also an dieses Bild die Frage stellen, ob hier nicht Vorstellungen festgeschrieben werden. Die Malweise ist außerordentlich akkurat, geradezu hyperrealistisch. Wo bleibt hier die Mehrdeutigkeit, das Gebrochene, aber auch das Dunkle und das Geheimnisvolle? Dies alles gehört doch auch zur Romantik.

Ein Perfektionswille

Karl Tetzlaff: Da würde ich in die Zeit der historischen Romantik zurückgehen und mich der Künstlergruppe der Nazarener zuwenden, die sehr ähnlich gemalt haben wie Triegel heute. In perfektionistischer Weise haben sie versucht, die Kunst der Renaissance nachzuahmen. Darin zeigt sich zunächst nichts Ironisches oder Gebrochenes, sondern ein Perfektionswille, der alles festschreibt. Aber wenn man genauer und tiefer schaut, sieht man, dass ihre Bilder modern sind und Zeitgenossenschaft beanspruchen. Denn sie eignen sich eine Kunst – und Religion – der Vergangenheit so an, dass sie damit das Bewusstsein zum Ausdruck bringen, dass alles Wesentliche schon vor langer Zeit geschaffen wurde und wir heute nur noch durch die Imitation künstlerisch – und religiös – wirksam sein können. Uns bleibt allein die Nachahmung. Im Bewusstsein des historischen Abstands und der eigenen Epigonalität liegt eine fundamentale Brechung.

Johann Hinrich Claussen: Albert Schweitzer hat diese Empfindung einmal so auf den Punkt gebracht: „Wir sind ja alle doch nur Epigonen.“ Aber er hat ganz andere Konsequenzen daraus gezogen. Er hat nämlich den Versuch unternommen, eine überreligiöse Religion zu entwerfen, die in der „Ehrfurcht vor dem Leben“ besteht. Aus der Einsicht in die Tragik der eigenen Position folgt also bei ihm der Aufbruch in etwas Neues, Grenzüberwindendes, Nicht-mehr-Traditionales. Dies kann man auch bei anderen Romantikern entdecken. Es gab ja nicht nur die Nazarener, die das Alte eifrig nachgemalt haben. Es gab auch Caspar David Friedrich, der neue Bildwelten geschaffen hat – offene Kunstwerke, in deren Betrachtung sich der Sinn und Geschmack für das Unendliche einstellen können. Diese Gestalt von Romantik hat nicht die herkömmliche christliche Ikonographie wiederholt, sondern übersymbolische Bilder geschaffen. Ist das nicht der bessere Weg, die bessere Kunst?

Karl Tetzlaff: In der Kunst der Nazarener und von Triegel steckt das Eingeständnis, dass man das Göttliche nicht mit den Mitteln der Gegenwart, sondern nur mit denen der Vergangenheit zur Darstellung bringen kann. Das ist auch das Eingeständnis einer Unfähigkeit und eines Verlustes. Zugleich wird aber ein gangbarer Weg skizziert: Wir können uns die bildnerischen Mittel der Geschichte aneignen und mit ihnen arbeiten. Das kann sogar etwas Heiteres und Spielerisches an sich haben: Wir müssen der Tradition nicht gehorchen, aber wir können frei aus ihr schöpfen. So zitiert und variiert Triegel alte Muster, aber er imitiert sie nicht eins zu eins. Die Gesichter des Naumburger Retabels entsprechen ja nicht den Gesichtern der Renaissance-Malerei. Sie haben etwas Modern-Digitalfotografisches.

Johann Hinrich Claussen: Aber erschöpft sich diese Malerei dann nicht in einem bestimmten, kurzlebigen Effekt? Viele, die dieses Bild das erste Mal gesehen haben, waren sofort angesprochen, irritiert, angerührt, weil sie hier Menschen wie du und ich vor sich sahen. Doch mir stellt sich hier die Frage, ob die besondere Befähigung des Künstlers nicht zu einer Falle werden kann. Triegel vermag technisch so perfekt zu malen, dass er fast automatisch einen Aha-Effekt erzielt, bei dem aber etwas fehlt, was für ein modernes protestantisches Christentum wesentlich ist, nämlich die Einsicht, dass Jesus und Maria anders waren, als wir es heute sind. Ein emphatisches Epigonentum kann es für uns nicht geben, weil wir uns nur über den Abstand, über den Bruch, durch die Reflexion hindurch auf Christus beziehen können. Als aufgeklärt-romantischer Protestant möchte ich dieses Bild deshalb fragen, ob es nicht versucht, eine alte Ordnung allein dadurch zu vergegenwärtigen, dass die Figuren ausgetauscht werden – die Ordnung selbst aber intakt bleibt. Genau das ist sie aber für mich nicht mehr. Deshalb finde ich es auch problematisch, wenn hier die Gegenständlichkeit, die Objekthaftigkeit des Glaubens nicht auf irgendeine künstlerische Weise in Frage gestellt wird.

Für Alltagsmenschen

Karl Tetzlaff: Na ja, es ist ein Marienaltar für eine Gottesdienstgemeinde. Ihr soll etwas vor Augen gestellt werden, worauf sie sich positiv beziehen kann. Und die Bezugnahme aufs Göttliche, die das Altarbild vermitteln will, ist ja schon dadurch gebrochen, dass die abgebildeten Alltagsmenschen nicht exklusiv für das durch sie Dargestellte stehen. Hinzu kommt meine eigene Perspektive als Betrachter. In seiner Leipziger Poetikvorlesung „Der göttliche Blick“ beschreibt Triegel seine Werke als Angebote, die Welt mit seinen Augen zu sehen und sich dazu je individuell in Beziehung zu setzen. Den einen „göttlichen Blick“ gibt es demnach nicht. Die religiöse Kraft auch des Naumburger Altars bleibt davon abhängig, was unser je eigenes Sehen mit dem Bild und mit uns selbst macht. Bezüglich der im Altarbild dargestellten Ordnung gibt es etwas anderes, das ich problematisch finde, nämlich die Darstellung von Dietrich Bonhoeffer. Seine Aufnahme in das Bild folgt einem Wunsch der Auftraggeber. Aber sie passt nicht zu Triegels Konzept: Er will normale Menschen zu Repräsentanten der heiligen Geschichte machen. Bonhoeffer aber war eine exzeptionelle Gestalt und wird wegen seiner Märtyrerrolle dargestellt. Sein Porträt fällt aus dem Bild heraus.

Johann Hinrich Claussen: Diesen Einwand teile ich, auch weil mir manche Erscheinungsformen eines kirchlichen Bonhoeffer-Kults suspekt sind: Indem man ihn als evangelischen Heiligen verehrt, stiehlt man sich aus der eigenen Geschichte und Gegenwart. Hier haben die Auftraggeber den Künstler dazu verleitet, von seiner Bildidee abzuweichen. Kein Wunder, dass dieses Detail malerisch nicht überzeugt. Nebenbei bemerkt: Ich frage mich auch, ob es eine gute Idee war, die Paulus-Figur nach dem Porträt eines orthodoxen Juden aus Jerusalem zu gestalten – das wird doch beiden nicht gerecht. Doch wichtiger ist mir ein anderer möglicher Kritikpunkt. Bei Triegel ist – wie bei den Nazarenern – alles so gut sichtbar, so hell ausgeleuchtet, so schön. Wenn man aber den gewünschten Ort dieses Retabels anschaut, den großartigen Westchor des Naumburger Doms, dann begegnen einem dort Figuren, die voller Schmerz und Geheimnis sind. Es ist Dunkles um sie und in ihnen. So lösen die Bilder des Gekreuzigten, seiner Mutter und seines Lieblingsjüngers am Lettner Mitleid aus, die mysteriösen Stifterfiguren im Westchor dagegen eine schwer in Worte zu fassende Faszination. Hätte Triegel sich darauf nicht mehr einlassen müssen? Es fällt ja auf, dass Leiden, Schmerz und Geheimnis in seinem Bild fast fehlen.

Karl Tetzlaff: Das sehe ich anders. Denn man geht, wenn man durch die Tore des Lettners geht, an der Kreuzigungsgruppe vorbei. Man geht also durch die Passion hindurch und gelangt erst dann vor Triegels Marienaltar, wo sich einem eine Aussicht der Hoffnung und Erlösungsnähe öffnet. Als ich ihn mir im Oktober angesehen habe, habe ich es genau so erlebt. Als ich durch den Lettner ging, den Westchor durchschritt, geschah bei mir wirklich etwas: ein innerliches Aufleben, ganz unmittelbar.

Strahlend weiß

Johann Hinrich Claussen: Mir ging es genau anders: Als ich im Westchor war und das Bild sah, ging ich spontan einen Schritt zurück.

Karl Tetzlaff: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich bin nicht auf die Knie gefallen. Aber ich habe mich gefreut. Warum sollte das nicht erlaubt sein? Meine Freude an der Schönheit des Bildes folgt ja dem Nacherleben der Passion am Lettner.

Johann Hinrich Claussen: Das Stichwort „Schönheit“ finde ich interessant. Damit ist etwas sehr Wichtiges bezeichnet. Ich selbst bin gelegentlich des steril gewordenen Dogmas müde, dass Kunst immer verstörend und hässlich zu sein habe. Warum nicht auch mal „Schönheit“? Die Frage jedoch ist, was für eine Schönheitsvorstellung sich hier zeigt. Schauen wir uns diese Maria und – auf der Rückseite – diesen Christus an: Sie sind in der Tat schön. Aber begegnet einem hier nicht ein ziemlich normal-genormtes Ideal? Und beide sind strahlend weiß. Ich will hier nicht den Moralisten spielen – oder gar gegen Triegel den Rassismusvorwurf erheben. Doch würde ich von einem Künstler, der heute Maria und Christus malt, erwarten, dass er sich gedanklich und malerisch mit drei Problemen auseinandergesetzt hat: Erstens unserem historischen Wissen darum, dass beide nicht dem Abend-, sondern dem Morgenland entstammen, zweitens, dass sich mit ihrer Weißheit eine Problem­geschichte verbindet, drittens, dass Normschönheit ein zentrales Instrument des Konsumkapitalismus ist. Ist das hier ausreichend reflektiert worden?

Karl Tetzlaff: Ist eine solche Vereindeutigung nicht die Problematik von allen Marien- und Christusdarstellungen? Triegel hat erklärt, dass er absichtlich diese Schönheit malt, um Menschen in das Bild zu ziehen, um sie dann in eine vertiefte Auseinandersetzung zu verwickeln. Manche werden sagen, dass das „ihre“ Maria ist, andere dagegen, dass sie eine völlig andere Vorstellung von ihr haben. Genau darauf zielt Triegel ab. Würde eine abstraktere, diffusere Darstellung Vergleichbares auslösen? Ich wäre mir da unsicher. Außerdem liegt der von Ihnen kritisierten Schönheit eben ein differenziertes Programm zugrunde, das Triegel einmal so auf den Punkt gebracht hat: „Jedes Bild ist eine Näherung. Für mich geschieht diese Näherung über das Gute, Schöne und Wahre im Menschlichen. Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, der Vater spiegelt sich in der Menschheit des Sohnes und deshalb kann das Menschliche ein Spiegel des Göttlichen sein. Immer wissend, dass es nur ein Spiegel ist.“

Herrliches Credo

Johann Hinrich Claussen: Das ist das herrliche Credo der Renaissance. Aber wir leben in der Gegenwart, die auch dadurch gekennzeichnet ist, dass wir von unzählbaren Schönheitsbildern umgeben sind. Wir werden ununterbrochen mit perfekter Schönheit bombardiert. Bräuchten wir deshalb nicht andere, weniger perfekte, weniger genormte, öffnende und befreiende Bilder des Schönen?

Karl Tetzlaff: Triegel hat einmal gesagt, dass man heute wohl nur noch einen Skandal auslösen kann, indem man gerade nicht provoziert und sich dem Skandalträchtigen entzieht. Auf seine Weise wollte er ein – nicht konfessionell verstanden – katholisches Bild schaffen: allumfassend, einladend und gemeinschaftsstiftend, über das Menschen sich heute die christliche Heilsgeschichte aneignen und dem Göttlichen im Menschen annähern können. 

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.

Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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