Immer aktuell

Opfer in der Geschichte

Christoph Auffarth legt in seiner Studie eine scharfe Kulturkritik an der Moderne vor, indem er versucht, eine europäische Religionsgeschichte durch die Untersuchung des Opfers von der Antike bis hin zu den metaphorischen Verwendungen des Wortes zu konstituieren. In diesen zahlreichen Metaphern seien allerdings der religiöse Anspruch und Sinn des Opfers verlorengegangen, bis hin zu den aktuellen Selbstmord-Attentätern, die im Ritual „undenkbar, als religiöser Akt pervers“ seien, auch wenn sie „im Selbstverständnis und als Fremdzuschreibung“ von den Akteuren mit Religion in Verbindung gebracht werden. Er stellt mithin auch die Frage, ob die Redeweise von Opfern in der Moderne nicht den Handlungen, in denen von Verkehrsopfern, Kriegsopfern bis hin zu den Opfern der Klimakatastrophe gesprochen wird, durch die Qualifizierung als religiös ein „Sinn“ unterschoben werden soll.

Schließlich enthält seine Studie auch einen Abriß und eine Erörterung der in der Religionswissenschaft vorgelegten Theorien des Opfers von William Robertson Smith, James George Frazer, Émile Durkheim, Marcel Mauss und Sigmund Freud bis hin zu René Girard und Walter Burkert und besonders auch des heute meist unbekannten Julius Wellhausen, die in den verschiedenen Formen des Opfers in der Religionsgeschichte einen sozialen und psychischen Sinn für die Konstituierung der menschlichen Gesellschaft aufzuweisen versuchten.

Die Opfer der antiken Religionen werden in Kapitel vier und die des alten Israels in Kapitel fünf dargestellt, das Ende des Opferrituals im frühen Christentum in Kapitel sechs und schließlich die christliche Vorstellung der Lebensführung als Opfer in Kapitel sieben sowie die moderne Metaphorik des „Opfers fürs Vaterland“ im Krieg in Kapitel acht erörtert. Der Leser erhält einen Eindruck von den verschiedenen in der europäischen Religionsgeschichte zu beobachtenden Praktiken und Theorien des Opfers.

Im Zentrum der kultischen Handlungen der antiken Religionen stand das Opfer, häufig von Tieren, aber auch vegetabile. Diese wurden bereits von den Propheten der Hebräischen Bibel kritisiert und verworfen. Jesaja zum Beispiel schreibt: „Satt habe ich die Brandopfer ... Eure Hände sind voll Blut … reinigt euch. Tut hinweg eure bösen Taten … lernt Gutes zu tun! Trachtet nach Recht, weist in die Schranken die Gewalttätigen“ (ebenso auch andere Propheten, und in den Zehn Geboten steht nichts von Opfern). Jedoch kam diese Form der Verehrung Gottes erst mit der Zerstörung des Tempels ans Ende. Das Christentum hat Opfer von seinem Beginn an abgewiesen, aber die Opferbegrifflichkeit in seine Sprache übernommen, vielleicht um sich der altreligiösen Umwelt, die die Christen und ihren Kultus als gottlos, atheoi, bezeichneten, verständlich zu machen.

Doch blieb diese Übernahme der Begrifflichkeit für seine Theologie nicht folgenlos, wie Auffarth in Kapitel sieben aufzeigt. Nach seinen Überlegungen haben die Kirchen erst nach der Proklamation der Menschenrechte 1948 – eine „Form säkularer Religion“ – versucht, „anschlussfähig zu werden“, „als sie ihr autoritäres Gottesbild aufgaben“. „Der Deutsche Evangelische Kirchentag und das Zweite Vatikanische Konzil waren Foren, auf denen die Vergangenheit der autoritären Herrschaft transformiert wurde in eine Gegenwart, die sich auch der Zukunft und Gottes Gegenwart verantwortlich zeigte“, schreibt Auffarth in seinem Schlußabsatz und hebt das Prinzip der Verantwortung hervor. Dies sei „heute so aktuell wie nie zuvor“.

Sein Vorschlag, „das Opfer als Geschenk“ zu verstehen, das den „Aspekt des Verzichtes oder der Gewalt“ verliere, ist problematisch, da jedes Geschenk Macht und Herrschaftsinteressen manifestiert und eine Ablösung von Opfervorstellungen nicht gelingt, wie er bei den als Geschenke interpretierten Gaben der Entwicklungshilfe selber hervorhebt. Bleibt zu hoffen, dass dieses Buch die Theorien und Diskussionen zum Opfer neu beleben wird.

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