Kulturelle Aneignung?

Keine kulturelle Form ist exklusiver Besitz einer bestimmten Gruppe
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Wer Ausdrucksformen eines Kulturkreises adaptiert, dem er nicht selbst angehört, wird schnell der „kulturellen Aneignung“ bezichtigt. Erstes Beispiel: Bei einer Fridays-for-Future-Demonstration in Hannover sollte die Musikerin Ronja Maltzahn auftreten. Es kam nicht dazu. Sie trug Dreadlocks, Filzlocken. Die FFF-Verantwortlichen sagten den Auftritt der Künstlerin ab. Begründung: ihre Frisur. Dreadlocks seien in den USA ein Widerstandssymbol der Bürgerrechtsbewegung schwarzer Menschen geworden. „Wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen“, hieß es. Die Musikerin reagierte betroffen: „Wir hatten uns darauf gefreut ein Zeichen für Frieden und gegen Diskriminierung mit unserer Musik setzen zu dürfen. Schade dass wir aufgrund von äußerlichen Merkmalen davon ausgeschlossen werden.“ Es gehe darum, kultureller Vielfalt eine Bühne zu geben und für Achtsamkeit und Toleranz einzustehen.

Schon dieser kurze Abriss zeigt, wie dynamisch kulturelle Entwicklung verläuft. Haben sich die US-Bürgerrechtler die Rastafari-Frisur aus Jamaika angeeignet? Durften sie das, weil sie gleichfalls schwarz und unterdrückt waren? Oder keinesfalls, weil sie in Haile Selassie nicht, wie die Rastafarians in Jamaika, den wiedergekommenen Messias sahen?

Zweites Beispiel: In der SWR-Sendung „Lied zum Sonntag“ spricht ein evangelischer Pfarrer über das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“. Dieses dürfe man sich „nicht einfach so aneignen“, sagt Wolf-Dieter Steinmann, denn „das Leid von Millionen schwarzer Menschen ist darin aufgehoben, das ihnen Sklaverei und weißer Rassismus zugefügt haben und bis heute antun.“ Deshalb: „Es wäre übergriffig, wenn ich als weißer Europäer eigenen Schmerz unmittelbar in dieses Lied eintragen würde. Es wäre kulturelle Enteignung, eine Form von Rassismus.“

Demnach darf ich – weiß, europäisch – dieses Lied nur mit dem Wissen um seinen Entstehungskontext und dem dafür geschärften Bewusstsein singen oder hören. Lasse ich das außer Acht, verhalte ich mich rassistisch, meint der Pfarrer. Als weißer Europäer dürfe man in dieses Klagelied der Afroamerikaner nur einstimmen, „wenn man Rassismus erkennt und überwinden hilft“.

Große Literatur – wie große Kunst überhaupt – kann Menschen aus verschiedenen Zeiten, aus unterschiedlichen Kulturkreisen und in besonderen persönlichen Situationen ansprechen, berühren, bewegen. Das gilt auch für dieses Spiritual. Wenn ich ihm ein derart enges Rezeptionskorsett anlege, nehme ich ihm viel von seiner Weite und Tiefe. Vielleicht fühle ich mich manchmal wie ein Kind ohne Mutter – muss ich mir dann den Trost dieses Liedes selbst verbieten? Vielleicht treffen die Psalmen des Volkes Israel genau mich in meinem Schmerz, meiner Freude oder meiner Hoffnung – auch wenn sie vor langer Zeit in einem völlig anderen Zusammenhang entstanden sind.

Seit die Menschheit besteht, geschieht kulturelle Entwicklung durch wechselseitige Einflüsse, Übernahmen, Querverbindungen, Rückflüsse. Das betrifft Kunst, Musik, Literatur, aber auch Mode, Esskultur und vieles andere. Ohne solche meist fruchtbaren Prozesse ist keine Entwicklung denkbar.

Keine kulturelle Form ist ausschließlicher Besitz einer bestimmten ethnischen Gruppe. Nirgends findet sich eine „reine“, von anderen unbeeinflusste Kultur. Der Gedanke ist völlig ahistorisch und erinnert an die unsäglichen Diskussionen um eine „deutsche Leitkultur“. Oder an Schlimmeres.

Nach den identitätspolitischen Prinzipien, die einige so verbissen vertreten, hätte Goethe keinen west-östlichen Diwan schreiben, Mozart keinen türkischen Marsch, Brahms keine ungarischen Tänze komponieren, Picasso sich nicht von afrikanischer Kunst inspirieren lassen dürfen. Es gibt keine „kulturelle Aneignung“. 

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Andreas Duderstedt

Andreas Duderstedt (67) ist Journalist und war 16 Jahre Pressesprecher der Evangelischen Kirche von Westfalen und davor zwölf Jahre Öffentlichkeitsreferent der Lippischen Landeskirche.


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