Einfach da sein

40 Jahre kirchliches Leben im Spiegel gesellschaftlicher Metatrends
Horst Gorski vor der VELKD-Generalsynode in Bremen, November 2015.
Foto: epd
Horst Gorski vor der VELKD-Generalsynode in Bremen, November 2015.

Der theologische Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD, Horst Gorski, zeichnet die  Entwicklung der evangelischen Kirche aus pastoraler Sicht nach. Dazu gehört für ihn ganz wesentlich die stete  Aushandlung zwischen Freiheit und Verantwortung. Für die Zukunft hofft der promovierte Theologe, dass es der Kirche  gelingt, ihre „Religionsfähigkeit“ wiederzugewinnen.

Am 21. Mai 1983 wurde ich ordiniert. Mit Ablauf des 30. Juni 2023 werde ich in den Ruhestand versetzt. 40 Jahre Berufsleben in der Kirche, auf das ich im Spiegel gesellschaftlicher Metatrends blicken will. Ich sehe da sechs Facetten:

(1) die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft mit zunehmender Komplexität und Geschwindigkeit des Lebens; (2) betriebswirtschaftliches Denken als Matrix für jegliche Planungen; (3) den Neoliberalismus mit seiner Vermarktlichung auch kirchlicher Lebensvollzüge; (4) das Netzwerkdenken mit seinen kommunikativen Logiken; (5) die Digitalisierung und schließlich (6) die zunehmende Individualisierung bei gleichzeitiger „Krise des Allgemeinen“ (Andreas Reckwitz). Diese Metatrends sind ihrerseits überwölbt von dem großen Thema der Moderne: dem Aushandeln von Freiheit und Bindung.

Auch wenn man schon eine Post- und Post-Postmoderne diagnostiziert hat, verstehe ich die Gegenwart als Teil der Moderne, die durch die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das Aushandeln von Freiheit und Bindung gekennzeichnet ist. In diesem Sinne hat die Moderne ihren Höhepunkt vielleicht erst noch vor sich.

Ein Netzwerk von Sprachkritikern hat „Freiheit“ zum Unwort des Jahres 2022 gekürt, weil dieses „hoch angesehene Gut“ so sehr für „egoistische Forderungen“ missbraucht worden sei. Aber wer definiert die Begriffe und zieht Grenzen? Krise ist der Normalzustand der Moderne, weil die spannungsvollen Aushandlungsprozesse nie abschließend sind. Welches Bild von 40 Jahren kirchlichem Leben ergibt sich, wenn Reflexionen darüber entlang dieser Trends modelliert werden? Und welche Erschließungskraft des Selbstverständnisses eines Berufslebens hat eine solche Modellierung?

Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat auch die Kirche zunehmend zu einem gesellschaftlichen Subsystem unter anderen gemacht. Sie ist nicht mehr die moralisch integrierende Kraft der Gesellschaft als Ganzes. Die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann (1927 – 1998) ist für viele Theologen meiner Generation zu einem Referenzrahmen geworden, die eigene Rolle in Theologie und Kirche als Teil eines Subsystems in der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft zu verstehen.

Scheinbar intakte Zeiten

Diese Ausdifferenzierung spürten wir jungen Kolleginnen und Kollegen schon stark an den zahlreichen Infragestellungen unserer Arbeit. Das 19. Jahrhundert und die Nachkriegszeit wurden uns als scheinbar noch intakte Zeiten kirchlicher Deutungsautorität vor Augen gehalten, obgleich auch diese Zeiten kirchlich viel brüchiger waren, als sie im Nachhinein dargestellt wurden. Zudem führte die funktionale Differenzierung dazu, dass die Kirche mit den anderen Subsystemen der Gesellschaft Koppelungen einging. Das machte sich damals beispielsweise an dem Einzug der Humanwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Medizin) in die theologische Ausbildung bemerkbar.

Die Sexualdenkschrift der EKD von 1971 – die aus Sorge vor den Folgen erst 1981 veröffentlicht wurde – wurde nicht zufällig unter dem Vorsitz eines Mediziners erarbeitet. Dass Zärtlichkeiten keine Krankheiten verursachen, waren Theologie und Kirche nicht aus sich heraus in der Lage festzustellen. Die Seelsorge wurde psychotherapeutisch imprägniert, die praktische Gemeindearbeit sozialdiakonisch. Für die an Karl Barth orientierte Neo-Orthodoxie waren dies illegitime Einflüsse der Welt auf die Kirche. Doch langsam, aber stetig kehrten Ansätze liberaler Vermittlungstheologien zurück, die mit dem Ende des Kaiserreichs als erledigt galten. Dieser Prozess dauert an bis zur aktuellen Troeltsch-Renaissance.

Für mich selbst stelle ich im Rückblick fest, dass aus mir mit den Jahren ein Vermittlungstheologe geworden ist, der nach der existenzerschließenden Relevanz von Glauben und Verkündigung fragt – einer von denen also, die ich 40 Jahre zuvor unter dem Einfluss meiner Lehrer in der theologischen Schmuddelecke gesehen hätte.

Das Pfarramt selbst hat sich durch diese Ausdifferenzierung ebenfalls funktionalisiert. Das Amt trägt lange nicht mehr so stark die Person. Die Person steht viel mehr unter Druck, aus sich heraus authentisch sein zu sollen. Dies ist in Verbindung mit der neoliberalen Vermarktlichung auch des kirchlichen Lebens zu einer echten Last und zur Quelle vieler Burnouts geworden. Offenbar war gerade die evangelische Kirche anschlussfähig für diesen Metatrend, wurde das „ecclesia semper reformanda“ doch als Aufforderung zur kontinuierlichen Selbst­optimierung gedeutet.

Kirchliche Mitarbeitende einschließlich der Pastorinnen und Pastoren stehen unter dem Anspruch, die kirchlichen Angebote auf dem Markt nicht nur der Religionen, sondern – schwieriger noch – der Freizeit­aktivitäten behaupten zu müssen, um die Kirche vor dem Niedergang zu retten. Der Neoliberalismus tritt mit der Verheißung auf, dass die Chance zur Selbstoptimierung die Erfüllung des Freiheitsversprechens der Moderne sei. Doch die andere Seite dieser Erfüllung ist das unermüdliche Laufen im Hamsterrad, dem kirchliche Mitarbeitende wie zahllose andere Beschäftigte ausgesetzt sind. Die „Generation Z“ geht mit diesem Anspruch vermutlich distanzierter um, als wir es taten.

Die funktionale Ausdifferenzierung hat zur Verrechtlichung aller Lebensbereiche der Gesellschaft geführt. Das Amt der In­stitution ist gebunden an das Recht, und das heißt auch an rechtliche Standards des Kinder- und Jugendschutzes. Ob es auf Dauer noch passt, dass die Kirchen eine eigene Gerichtsbarkeit unterhalten, wird sich zeigen.

Muster der Betriebswirtschaft

Legion sind die Struktur- und Leitbildprozesse der letzten Jahrzehnte. Sie funktionieren in der Regel nach Mustern der Betriebswirtschaft, denken in Zielplanungen und -erreichungen und Effizienzen. Erst nach und nach habe ich mir ein Verständnis meines Berufes als „Geistlicher“ zurückerobert, das darin sein Wesen hat, als geistlicher Mensch einfach da zu sein. Dies musste ich mir (innerlich) erkämpfen gegen die fortgesetzte Anmutung, dass eine Kirche, die sich nicht ständig an Zielen ausrichtet und reformiert, zum Untergang verurteilt sei. Die Muster der Betriebswirtschaft haben oftmals die kirchlichen Verfassungsorgane delegitimiert. Denn als demokratisch legitimiert galt eine Entscheidung oft nicht dann, wenn sie von den zuständigen Organen getroffen wurde, sondern wenn sie zahllose Leitbildprozesse in Steuerungsgruppen, Workshops und Open-Space-Veranstaltungen durchlaufen hatte. Sicher sind das manchmal auch gute Entscheidungen gewesen, aber die Akzeptanz richtete sich weniger am Inhalt als am Durchlaufen betriebswirtschaftlich normierter Verfahren aus.

Wohl kaum einer von uns damals hat sich die Freiheitsgrade in der Gestaltung von Beruf und Leben vorstellen können, die heute selbstverständlich sind. Erst 1992 wurde die erste lutherische Bischöfin weltweit gewählt. Heute wirken die heftigen Auseinandersetzungen in der nordelbischen Synode um gleichgeschlechtliche Lebensformen in den 1990er-Jahren wie Rufe aus ferner Vergangenheit. Doch erst mit der Stellungnahme des Rates der EKD zur „Ehe für alle“ vom Juni 2017 wurde eine wirkliche Akzeptanz vollzogen. Es mutet schon ein wenig selbstvergessen an, wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft heute gegenüber Einwanderern die Akzeptanz diverser Lebensformen für einen unverzichtbaren Teil deutscher Identität hält und wenn die protestantischen Kirchen darin die beste Erfüllung des Evangeliums von Liebe und Toleranz sehen. Dabei hätten sich manche kirchenleitenden Männer noch vor 20 Jahren mit dem Emir von Qatar in Moralfragen wohl nicht schlecht verstanden.

Doch die Freiheitsgrade, die mit einem enormen Individualisierungsschub einhergingen, führten als ihre andere Seite die „Krise des Allgemeinen“ mit, also die Krise staatlicher Institutionen und all dessen, was als Überindividuelles Gemeinschaften integriert. Davon ist die Kirche mit einem Verlust an Bindungskraft für ihre Mitglieder betroffen. In 40 Jahren schrumpfte der Anteil der Evangelischen an der Bevölkerung in Deutschland von gut 40 (Bundesrepublik) auf knapp 25 Prozent (Gesamtdeutschland). Binnenkirchlich zeigt sich diese Krise im Zurücktreten von Dogmen und ethischen Normen (zum Beispiel im Bereich reproduktiver Selbstbestimmung und des Familienbildes) und im Schwinden der Relevanz der konfessionellen Bekenntnisse als identitätsstiftender Klammern.

Manche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts der letzten Jahre lesen sich wie der rechtliche Vollzug des Relevanzverlustes des Allgemeinen. Gut erkennen lässt sich dies etwa an der Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht: Den Kirchen wird immer weniger zugestanden, als eine identitätsstiftende Ebene eigene Regeln für diese Identität zu setzen. Der Konflikt zwischen Individualität und einer identitätsstiftenden Ebene der Selbstregulierung erreichte einen Höhepunkt in der Klage der Eltern eines Mädchens gegen die Ablehnung der Aufnahme ihrer Tochter in den Knabenchor des Staats- und Domchors Berlin. Allerdings stellte das Gericht nicht auf die Tatsache ab, dass das Mädchen ein Mädchen und der Knabenchor ein Knabenchor war, sondern funktional darauf, dass seine Stimme nicht dem Klangbild eines Knabenchores entspreche.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 zur Aufhebung des Verbots der geschäftsmäßigen Suizidhilfe (Paragraph 215 Strafgesetzbuch) ist seinem Tenor und seiner Argumentation nach geradezu als letzte Konsequenz dieses Weges zu interpretieren: Die Gesellschaft darf einem Individuum den Wunsch nach einem assistierten Suizid nicht faktisch unmöglich machen. Zwar habe der Gesetzgeber das Recht und gegebenenfalls auch die Pflicht, Vorkehrungen gegen nicht gewollte gesellschaftliche Folgen zu treffen. Aber das Recht des Individuums darf als vorzugswürdig dadurch nicht ausgehöhlt werden.

Staat durch Krisen gestärkt

Ungefähr zwei Wochen nach diesem Urteil verfügten die staatlichen Instanzen in Deutschland den ersten Corona-Lockdown, inklusive des Verbots von Gottesdiensten. Deutlicher hätte die Wende gar nicht markiert werden können: Angesichts der Bedrohung durch ein Virus wurde nun umgekehrt der Schutz der Allgemeinheit gegenüber den Freiheitsrechten der Individuen als vorzugswürdig erachtet. Neben dem Virus haben seitdem auch die Klimakrise und der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit ihren wirtschaftlichen und energiepolitischen Folgen gezeigt, dass Krisen offenbar staatliche Institutionen als die einzig für die Gemeinschaft handlungsfähigen Akteure stärken. Ob mit dem Februar/März 2020 auf lange Sicht gesehen ein Kipppunkt in der Gewichtung von Individualität und Allgemeinem gegeben war, wird sich erst zeigen. Der Streit um den Freiheitsbegriff im Jahr 2022 lässt ahnen, dass die Antwort gesellschaftlich noch nicht gegeben ist.

Meine Dissertation tippte ich 1984 noch auf einer mechanischen Reiseschreibmaschine. Das hauptsächliche Kommunikationsmedium war das Telefon beziehungsweise im Pastorenalltag der Anrufbeantworter. Ihn regelmäßig und zügig abzuhören, war Teil des professionellen Amtsverständnisses. Heute ist Digitalität unverzichtbarer Teil kirchlichen Lebens. Digitalität lebt von Selbstermächtigung und Partizipation, sie generiert Netzwerke statt kaskadenartiger Behördenentscheidungen. Die Frage der Legitimität des „digitalen Abendmahls“ wurde im ersten Corona-Lockdown 2020 im Spannungsfeld zwischen institutionellen Warnungen und der Partizipativität des digitalen Raumes ausgetragen. Allerdings wird der digitale Raum nicht nur von Individuen in Freiheit gestaltet. Er generiert auch Muster und insofern neue Formen des Allgemeinen, nicht mehr institutionell gesetzt und behauptet, sondern durch Verfahren und Zugangsvoraussetzungen geregelt. Vielleicht halten sich Freiheit und Bindung zu allen Zeiten im Gleichgewicht, nur dass sie andere Formen annehmen. Eine Welt ohne Bindungen und Normierungen jedenfalls ist die digitale Welt nicht.

Spezifisch modelliert

Das Thema des Verhältnisses von öffentlichem Amt und privater Person dürfte mit der Aufhebung des Zölibats und der Entstehung des in Teilen gläsernen protestantischen Pfarrhauses so alt sein wie die Reformation. Doch auch dieses Thema wurde spezifisch modelliert durch den Schub individueller Freiheit und zuletzt durch das Aufkommen der sozialen Medien. Auch wenn die Pastorenfamilie, zumal unter dörflichen Bedingungen, unter Beobachtung stand, galt eine gewisse Diskretion als vorausgesetzt. Schwul oder lesbisch durfte man seit Mitte der 1980er-Jahre sein, sofern man dies nicht offen lebte oder gar zum Thema der Verkündigung machte. Heute machen Pastorinnen und Pastoren aller diverser Couleurs ihr Privatleben in hohem Maße in den digitalen Netzwerken öffentlich. Wo Freiheit endet und Selbstentblößung beginnt, oder umgekehrt: wo Amtspflicht endet und Freiheit zum Atmen beginnt – das dürfte sich immer in einem Aushandlungsprozess befinden.

Nach Luhmann handeln wir auf drei Systemebenen: der gesamtgesellschaftlichen Ebene, der Ebene von Organisationen und der Ebene unmittelbarer Interaktion. Das Pfarramt als Arbeitsplatz ist auf der organisationalen Ebene angesiedelt. Das Handeln ist eingebunden in den gesamtgesellschaftlichen Horizont und richtet sich in unmittelbarer Interaktion an Menschen. Das Handeln auf der organisationalen Ebene, das Arbeiten an Struktur- und Kommunikationsveränderungen hatte und hat nach meiner Erfahrung eine kurze Halbwertzeit. Der Nachhall – auch in mir selbst – ist schwach. Stärker hallen die unmittelbaren Begegnungen nach: trösten und getröstet werden, Zeit haben, da sein. Deren Relevanz hat Bestand. Vielleicht sind sie es, die für mich sprechen, wenn ich eines Tages vor Gottes Angesicht trete.

Institution im Wandel

Wie wird es weitergehen? Werden funktionale Ausdifferenzierung, Komplexitäts- und Geschwindigkeitssteigerung, Individualisierung und Steigerung von Partizipativität endlos weitergehen? Oder führt dies zu einer grandiosen Überforderung des Menschen? Rufe nach einfachen Antworten, nach starken Führern machen schon heute dieser Überforderung Luft. Global ist die immer dezidiertere Ablehnung des westlichen Freiheitsverständnisses zwar betrüblich und gefährlich, aber auch nicht ganz unverständlich. Dass die offene Gesellschaft eine Zukunft hat und die großen Zukunftsfragen zu lösen in der Lage ist, muss sie erst noch zeigen. Die Kirche wird in dieser Gesellschaft der Zukunft ihre Institutionalität nicht aufgeben, aber wandeln. Es kann nicht mehr die Institutionalität des 19. und 20. Jahrhunderts sein.

Zentrale Aufgabe der Kirche ist der Erhalt oder die Wiedergewinnung ihrer Religionsfähigkeit. Anknüpfend an meine Wiederentdeckung des Daseins als „Geistlicher“ könnte ein Weg in die Zukunft – in einem komplexen Gefüge natürlich – darin bestehen, dass Kirche dann eine Chance hat, wenn sie als geistliche Größe einfach da ist. 

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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