Die kleinbürgerliche Religion

Ein historischer Blick auf Protestantismus und soziale Ungleichheit
„Unverhältnis zur Arbeiterbewegung“: Marx und Engels nahe am Berliner Dom.
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„Unverhältnis zur Arbeiterbewegung“: Marx und Engels nahe am Berliner Dom.

Der Protestantismus ist seit der Reformation mit Haut und Haaren im Macht- und Herrschaftsgefüge einer sozial ungleichen Gesellschaft verortet. Zu diesem Schluss kommt der Theologe und Sozialwissenschaftler Gerhard Wegner bei seinem milieuorientierten Blick durch die Kirchengeschichte. Doch die Präsenz des Protestantismus wird immer schwächer. Ist es also Zeit für neue Bündnisse?


 

Es begann als umfassende Volksbewegung. Nach vielen Anläufen brach die Reformation Anfang des 16. Jahrhunderts endlich auf breiter Linie durch. Sie erfasste die neuen tragenden städtischen Schichten der Bürger, aber auch das einfache Volk, nicht zuletzt die Bauern. Einer der Begeisterten war auch Thomas Müntzer – ein Held der Bauern. Die Kraft des von Martin Luther neu entdeckten Evangeliums stürzte die Verhältnisse um. Aber das dauerte nur kurze Zeit. Als die Bauern darauf drängten, dass die neue Freiheit in ihren Lebensverhältnissen real erfahrbar werden sollte und nicht nur innerlich Geltung habe, wechselte der Reformator, nach einigen Vermittlungsversuchen, das Lager und forderte das Abschlachten seiner gläubigen Anhänger. Später bereute er es wohl. Aber das änderte nichts mehr an der epochalen Bedeutung dieser Kehre. Seitdem trägt der lutherische Protestantismus das Makel der Untertänigkeit unter die Obrigkeit in sich. Das „Volk“, verstanden als die „niederen“, arbeitenden Klassen, würde den Verrat nicht vergessen und traute dieser Kirche seitdem nur noch selten über den Weg. Sie wird, wenn es gut geht, zur Kirche der Bürger – und derer, die lange die Macht im Staate haben, die Adligen. So ist es im Kern über Jahrhunderte geblieben, nur dass aus den Bürgern Kleinbürger wurden.

Kirche von oben

Man kommt nicht darum herum, diese Geschichte auch moralisch zu werten. Luthers Aussagen über die totzuschlagenden Bauern waren brutal – nicht anders als seine späten Polemiken gegen die Juden. Auch was die Bekämpfung der Armut anbetraf, war er nicht zimperlich. Das überkommene Almosenwesen wurde abgeschafft und stattdessen nun zwischen arbeitswilligen und arbeitsunwilligen Armen unterschieden. Letztere fielen aus der Fürsorge raus: Wer nicht arbeiten will, ist nicht mein Nächster! Hartz IV avant la lettre. Nach den reformatorischen Änderungen ging es den Armen in Wittenberg eher schlechter als vorher. Denn die Abschaffung der Selbstrechtfertigung durch gute Werke führte auch zum Rückgang freiwilliger Gaben, und eine kommunale Sozialfürsorge musste erst noch entstehen. Oft genug zielte man im Folgenden dann eher auf die Abschaffung der Armen statt der Armut. Und so kann man gut konstatieren, dass dies im epochalen Rückblick zwar der Beginn des modernen Sozialstaates war, aber ganz und gar nicht die Begründung einer wirklichen Nähe zu den Armen. Zum Abbau sozialer Ungleichheit trug die Kirche wenig bei.

Mit moralischen Kategorien kommt man der Problematik aber nur oberflächlich näher. Natürlich bleibt richtig, dass die Kirche ihrem wohl begründbaren Anspruch, auf der Seite der Armen zu stehen, nicht gerecht wird. Aber: Kann sie es denn überhaupt? Luther hatte gute Gründe, sie in die Staatsmacht zu integrieren, von der sie vier Jahrhunderte lang ernährt wurde. Damit war sie „Kirche von oben“. Aber die Schwierigkeit ist grundsätzlicher. Christlicher Glaube wird nur sichtbar, wenn er sich in kulturellen und sozialen Lebensweisen ausdrückt – vom Bach-Konzert über die Hausandacht bis zum Auftritt des Bundespräsidenten vor der EKD-Synode. Nur so kann er Anziehungskraft gewinnen und Kirche sich reproduzieren. Je nachdem, wie Kirche und Theologie in ihrer Kommunikation Lebensstile auf- oder abwerten, rufen sie deren Träger entweder an oder werten sie ab. Wird zum Beispiel ein ziel- und ergebnisorientiertes Handeln in der Wirtschaft von der Idee der Rechtfertigung ohne Anerkennung der Werke grundsätzlich infrage gestellt, so werden sich Leistungsträger kaum dem Glauben zuwenden. Die Nähe zu den Menschen ist immer sozusagen eine Frage der „Adjektive einer Inszenierung“ des Evangeliums.

Eines der populärsten Events des Protestantismus, der Kirchentag, bildet im großen Stil modernen christlichen Glauben ab. Aber in einer Form, die nur Gebildete anlockt – und zudem noch mehrheitlich aus spezifischen politischen Richtungen. Dass das so ist, ist eine große Leistung – keine Frage. Aber es bezeichnet zugleich seine Grenzen. Könnte denn die Kirche nicht für alle da sein? Dem steht das körperlich spürbare Verhaftetsein kirchlicher Umgangsstile im kleinbürgerlichen und bisweilen im großbürgerlichen Milieu gegenüber. Macht in der Kirche besteht weniger in Herrschaft als in der Hegemonie (im Sinne Antonio Gramscis) über Stile und Verhaltensweisen, durch die sich soziale Ungleichheit in die Inszenierung des Glaubens einschleicht. Davon ist auch die Verkündigung niemals frei.

Alltägliche Distanz

Schaut man mit dieser Optik in die Kirchengeschichte, dann werden die aktuellen Probleme der Kirche historisch erklärbar. Der Pietismus etwa war sicherlich eine kleinbürgerlich-bürgerliche Bewegung, die aber auch Einfluss auf das arbeitende Volk hatte, und beliebte Pastoren, die sich um alle Menschen in ihren Gemeinden kümmerten, gab es sicherlich immer. Selbst der Kern des deutschen Bildungsbürgertums, das protestantische Pfarrhaus, war nicht völlig abgehoben von den Sorgen und Nöten der „einfachen“ Menschen. Aber die „alltägliche Distanz“ zum „Herrn Pastor“ blieb lange spürbar. Schließlich verkörpere er immer auch eine andere, „bessere“, gescheitere Welt – bis hinein in das kleinste Dorf –, und war sich dessen sicherlich auch bewusst. Das kirchliche „Amt“ stand in einer Reihe mit den anderen staatlichen „Ämtern“. All das gilt heute zum Glück nicht mehr. Dafür hat aber der Pastorenberuf in den vergangenen Jahrzehnten drastisch an Ansehen verloren.

Ein viel diskutiertes Menetekel bleiben die Entwicklungen im 19. Jahrhundert. Die sozialen und kulturellen Tretmühlen des sich durchsetzenden Kapitalismus mit seinen revolutionär neuen Techniken führten schnell zur Bildung der „Klassen“ der Bourgeoisie und des Proletariats – charismatisch beschrieben im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels im Revolutionsjahr 1848. „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, noch Kaiser, noch Tribun“, so klang es nun im neuen Kampflied der Arbeiterbewegung. Von wenigen Ausnahmen der religiösen Sozialisten abgesehen, die bis 1933 vor allem in Württemberg und Thüringen – den Gegenden der Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts! – existierten, hatte das mit der Kirche nichts zu tun. Aber die Christen reagierten auf ihre Weise auf die sozialen Verwerfungen mit dem Aufbau von Innerer Mission und Diakonie – neben der verfassten Kirche, aber mit Unterstützung der Obrigkeit, denn das Ziel bleibt restaurativ und staatstragend. Den leidenden Menschen sollte geholfen, aber sie sollten ebenso vor den Versuchungen des gottlosen Kommunismus bewahrt werden. Auch die Genossenschaftsbewegung Friedrich Wilhelm Raiffeisens, mit der eine ökonomische Alternative innerhalb des Kapitalismus entwickelt wurde, teilte dieses Ziel. Während Letztere nach dem Ende des Kaiserreichs ihrer christlichen Wurzeln weitgehend verlustig ging, trug sich die Diakonie bis heute erfolgreich durch und prägte den deutschen Sozialstaat mit.

So blieb die Arbeiterbewegung in ihrem Kampf um politische und ökonomische Teilhabe allein und reagierte mit entsprechender Abwendung von der bürgerlichen Welt. Extrem galt dies in der Weimarer Zeit, als sich die evangelische Kirche deutschnational bis reaktionär artikulierte. Massenaustritte waren die Folge. Lediglich zwischen 1933 und 1935 gab es eine höchst erfolgreiche, aber perverse Hinwendung zum Volk. Das war schnell vorbei. Erst das Godesberger Programm der SPD 1959 schuf eine Brücke. Aber noch in neuester Zeit zeigte sich diese Distanz in der Weigerung der EKD – und auch der katholischen Kirche –, sich der harmlosen Forderung nach Einführung eines Mindestlohnes anzuschließen oder auch nur eine Reform des Hartz-IV-Systems anzudenken (anders aber in der Diakonie). Wo es um die harte Realität der „industriellen Beziehungen“, um Betriebsräte, Tarife oder gar um die Macht in der Wirtschaft geht, hat Kirche seit langem wenig zu sagen, auch wenn die „Arbeitnehmerdenkschrift“ der EKD von 2015 seinerzeit alle Christen dazu aufforderte, Gewerkschaftsmitglieder zu werden.

Während das Unverhältnis zur Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert sicherlich die schwerste klassenbezogene Hypothek der Kirche darstellt, datieren Fremdeleien mit der intellektuellen und technischen Intelligenz ebenfalls schon länger. Sie schlugen allerdings in der Breite erst richtig in der Folge der revolutionären Entwicklungen um das Jahr 1968 durch und zeigen sich heute in einem Wegdriften moderner Milieus von religiöser und kirchlicher Nähe. Der schon in den 1970er-Jahren festgestellte „Traditionsabbruch“ – also das Ende der Weitergabe des Glaubens in den Familien an die jeweils nächste Generation, was noch in der kirchlich heilen Welt der 1950er-Jahre gut funktionierte – wirkt sich nun zwei Generationen später in Indifferenz gegenüber Kirche und Religion aus. Insbesondere jüngere, gebildete Menschen sind für die Kirche kaum noch erreichbar.

Dynamiken der Weltveränderung

Dabei wurde um 1968 herum alles Mögliche unternommen, um christlichen Glauben mit den Interessen der neuen sozialen Bewegungen kompatibel zu machen. Man denke nur an Menschen wie Helmut Gollwitzer, Jürgen Moltmann oder Dorothee Sölle, die ganz neue Dynamiken der Weltveränderung als Auftrag Jesu lostraten und so auch andere Klassen und Milieus als bisher seitens der Kirche ansprachen. Das hatte auch einige Zeit Erfolg, hielt die Zahl von Kirchenaustritten in Grenzen und machte ganze Kirchengemeinden zu sozialen Aktionszentren im Sozialraum. Insgesamt gesehen überwog aber der Abbruch. Die „68er“-Generation war längst weg von religiösen Weltdeutungen, und ihre Kinder sind es heute erst recht.

Was bis heute geblieben ist, ist die Verankerung der Kirche in eher älteren, kleinbürgerlichen Milieus, die weiter schrumpfen, und in Teilen einer eher konservativen Oberschicht, mit Anteilen des kirchlich gut organisierten evangelischen Adels. Über allem wacht die EKD-Synode, die in ihrer sozialen Zusammensetzung noch immer so stark klassisch bildungsbürgerlich geprägt ist wie wohl kein anderes deutsches Gremium. Der Protestantismus bleibt mit Haut und Haaren im Macht- und Herrschaftsgefüge einer sozial ungleichen Gesellschaft verortet – nur dass seine Präsenz schnell immer schwächer wird.

Und nun?

Das Verhaftetsein des Glaubens in spezifischen sozialen und kulturellen Formen reduziert seine Strahlkraft in der Gesellschaft, aber ohne geht es nicht. Deswegen gibt es auch keinen Grund, die überkommenen Milieubindungen zu verachten. Die Wahlverwandtschaft von Bürgertum und Christentum stellte – bei allen soziale Ungleichheit legitimierenden Effekten – eine ungeheure Leistung des Protestantismus dar. Sie ist aber längst zu Ende gegangen. Gut ist es deswegen, wenn an ihren Resten kräftig gerüttelt wird und es zu neuen Symbiosen des Evangeliums und der Kultur jenseits von Bach und Baltruweit kommt. Entsprechende Suchbewegungen sollten kraftvoll gefördert werden, solange noch Kraft vorhanden ist. Nur so kann das Christentum wieder Menschen „erwecken“. 

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