Abwertende Blicke

Über Klassismus in seiner kirchenspezifischen Ausprägung
Ein „Bürgergeld“-Empfänger studiert die Anzeigen der Discounter. Fast jedes zweite evangelische Kirchenmitglied meint, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machen.
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Ein „Bürgergeld“-Empfänger studiert die Anzeigen der Discounter. Fast jedes zweite evangelische Kirchenmitglied meint, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machen.

Hat die evangelische Kirche ein Klassismusproblem? Wer sich gemeindeleitende Gremien ansieht, findet dort zwar Menschen aus unterschiedlichen Berufen und Milieus, sagt Andreas Mayert vom Sozialwissen­schaftlichen Institut der EKD in Hannover. Aber in unterschiedlichen EKD-Veröffentlichungen der vergangenen Jahre hat der Referent für Wirtschafts- und Sozialpolitik durchaus klassistische Haltungen und diskriminierende Formulierungen entdeckt.

Um gedanklichen und emotionalen Kurzschlüssen vorzubeugen, sei eines gleich vorweggeschickt: Der Anteil klassistischer Menschen ist unter evangelischen Kirchenmitgliedern ebenso hoch wie in der Gesamtbevölkerung, wie die Studie „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“ des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD gezeigt hat. Das ist zwar ein ernüchternder Befund. Andererseits ist nicht erkennbar, dass bei evangelischen Kirchenmitgliedern ein überproportionaler Hang zu klassistischen Abwertungen vorliegt. Das Ergebnis ist auch nicht wirklich überraschend. Bekanntlich steht der größte Teil der immerhin noch über 19 Millionen Protestanten der Kirche und ihren Angeboten eher unbeteiligt gegenüber. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich diese Kirchenmitglieder im Guten wie im Schlechten wesentlich vom Rest der Bevölkerung unterscheiden sollten. Das macht ihre klassistischen Einstellungen nicht besser, weist aber so weit nicht auf ein kirchenspezifisches, sondern auf ein gesamtgesellschaftliches Klassismusproblem hin. Nach einem besonderen Klassismusproblem der evangelischen Kirche, wenn es denn vorhanden sein sollte, muss an anderer Stelle gesucht werden.

Bevor wir uns auf diese Suche begeben, sollte aber zunächst geklärt werden, welche Äußerungen und Handlungen als klassistisch bezeichnet werden sollten, denn schließlich geht es hier um keine Petitesse, sondern um einen ernsthaften Vorwurf. Wie bei allen -ismen erfordert auch Klassismus grundsätzlich zwei Dinge. Erstens die Stereotypisierung einer Gruppe von Menschen, deren Mitgliedern bestimmte Verhaltensweisen, charakterliche Eigenschaften, kulturelle Affinitäten oder biologische Prädispositionen zugeschrieben werden. Und zweitens eine Abwertung auf Grundlage dieser Zuschreibungen, die sich in Form von Äußerungen oder Verhaltensweisen bemerkbar macht. Beim Klassismus tritt noch hinzu, dass die abgewertete Gruppe in der sozio-kulturellen Hierarchie unter jener steht oder – besser – gewähnt wird, die abwertet. Das hört sich einfach an, ist aber durchaus komplexer, als es auf den ersten Blick anmutet. In der oben genannten Studie wurden die Teilnehmer zum Beispiel gefragt, ob sie der Meinung sind, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machen. Etwas mehr als die Hälfte der evangelischen Kirchenmitglieder und der Gesamtbevölkerung ist dieser Meinung. Hier haben wir ein Stereotyp („Langzeitarbeitslose machen sich auf unsere Kosten ein schönes Leben“), und wir dürfen annehmen, dass wir es hier mit einer offensichtlichen Abwertung dieser Zuschreibung zu tun haben. Wer Haare spalten will, könnte natürlich argumentieren, dass die Zuschreibung eines guten Lebens der Langzeitarbeitslosen auch als originelle Deutung des Konzepts der Befähigungsgerechtigkeit zu lesen ist und sich die Befragten ob des unterstellten guten Lebens der Langzeitarbeitslosen freuen. Aber das ist abwegig.

Schwierig zu erfassen

Die hier genannte und ähnliche Fragen, die bei der Vermessung klassistischer Einstellungen üblich sind, zeigen leider überdeutlich, dass es sich beim Klassismus um ein Konzept handelt, dessen Erfassung noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckt. Denn beim Klassismus geht es zum einen nicht nur um die Abwertung sozial besonders schlecht gestellter Gruppen wie Langzeitarbeitsloser oder Wohnungsloser, sondern um eine Abwertung aufgrund des soziokulturellen Status, und diese Abwertung ist in allen sozialen Schichten oder Milieus zu beobachten. Diese Abwertung bezieht sich auch nicht nur auf soziale, sondern auch auf kulturelle Unterschiede, was eine Messung und sozialethische Bewertung des Klassismus deutlich erschwert. Es geht beim Klassismus eben nicht nur um materielle Ungleichheit oder Chancenungleichheit. Es geht zusätzlich um eine Ungleichheit dessen, was Pierre Bourdieu kulturelles Kapital genannt hat, und das macht einen erheblichen Unterschied. Denn an dieser Stelle verlässt man den Bereich dessen, was man mit herkömmlicher Sozialpolitik in Angriff nehmen könnte. Ökonomisches Kapital lässt sich umverteilen, kulturelles Kapital hingegen nicht. Denn die Besonderheit kulturellen Kapitals besteht darin, dass bestimmte Gesellschaftsmitglieder darüber bestimmen, was überhaupt kulturelles Kapital ist und welchen Wert es hat. Wenn es etwa um Kategorien wie Hochkultur und Unterhaltungskultur, Kunst und Kitsch oder geselliges Beisammensein und gemeinsames intellektuelles Räsonieren geht, dann ist die Bewertung dieser Kategorien klassistisch konnotiert, wenn der Genuss einer bestimmten Form von Kultur der sozialen Distinktion dient.

Blicken wir nun auf kirchenoffizielle Stellungnahmen, dann lässt sich zweierlei beobachten. Erstens ein sprachlich wenig sensibler Umgang mit Armutsbetroffenen, der bereits in einem anderen Artikel des Autors in dieser Zeitschrift („Zu viel abschätzige Rhetorik“ in zz 10/22) dokumentiert worden ist. Armutsbetroffene treten uns hier vorwiegend als „Schwache“ gegenüber, die man aufgrund dieser zugeschriebenen Eigenschaft „befähigen“ müsse. Das allein ist zwar stereotypisierend, aber noch kein Klassismus, wenn mit dieser Zuschreibung keine Abwertung verbunden wird. Wenn es hingegen in der Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ (2006) in Bezug auf die Erziehungskompetenz armutsbetroffener Menschen pauschal heißt, dass die „Vorbildfunktion der Eltern (…) im Bereich der sprachlichen, aber auch der habituellen Kompetenzen wenig ausgeprägt“ sei, dann bleibt es nicht bei Stereotypisierung, sondern es wird eine doppelte Abwertung vorgenommen, wobei die Erwähnung „wenig ausgeprägter“ habitueller Kompetenzen darauf hinweist, dass den Verfassern der Denkschrift auch kultureller Klassismus nicht fremd ist. Warum wird der Habitus armutsbetroffener Menschen überhaupt erwähnt? Sozialethisch ist er vollkommen bedeutungslos.

Das Denken in anscheinend für wichtig gehaltenen habituellen Kategorien begegnet uns auch in einer EKD-Publikation, in der es um ganz andere Menschen geht, die „Evangelischen Verantwortungseliten“ (2011). Auch hier wird stereotypisiert, allerdings nicht mit dem Ziel der Abwertung. Eher vollzieht man hier verbale Bücklinge, wenn es beispielsweise heißt: „Kirchenglieder, die zu den gesellschaftlichen (Funktions-)Eliten zählen, haben oft eine klare Vorstellung von Qualität und Kompetenz, sie besitzen eine hohe Sensibilität für Fragen von Stil und Anspruch gegenüber sich selbst und auch gegenüber kirchlichen Angeboten.“ Und natürlich müssen diese Ansprüche sehr ernst genommen werden, was die Autoren herkömmlichen Ortsgemeinden nicht zutrauen: „Im Bereich der kirchlichen Kernaufgaben wie Verkündigung und Seelsorge haben Menschen aus den Eliten oft und zu Recht ausgeprägte Erwartungen an ‚ihre‘ evangelische Kirche und die für sie zuständigen Gemeindepfarrer und Gemeindepfarrerinnen. (…). Die laufende Debatte um die Etablierung von Profil- und Personalgemeinden und um die Stärkung profilierter überparochialer kirchlicher Orte bietet Chancen dafür, Eliten mit ihren geistlichen und spirituellen Bedürfnissen wahrzunehmen und adäquate kirchliche Angebote zu entwickeln.“ Bei oberflächlicher Betrachtung fehlt hier die für Klassismus notwendige Abwertung. Oder doch nicht? Denn deutlich abgewertet werden die Ortsgemeinden, deren Reden und Handeln den Ansprüchen der Eliten wohl nicht genügen kann.

Verengte Milieus

Darüber ließe sich hinwegsehen, wäre die „kulturelle“ Geringschätzung der Ortsgemeinden nicht bereits seit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) en vogue. Sie werden hier nolens volens für die Milieuverengung der evangelischen Kirche verantwortlich gemacht, wobei weniger die Verengung auf bestimmte Milieus, sondern – wie im obigen Zitat bereits eindrucksvoll beschrieben – die Art der Milieus das Problem zu sein scheint. So heißt es im Impulspapier zum einen: „Zugleich bedarf die Form der Parochialgemeinde der Ergänzung, wenn möglichst viele Generationen und Lebenswelten in das kirchliche Leben einbezogen und drohende Milieuverengungen wirkungsvoll überwunden werden sollen.“ Und einige Zeilen später wird erwähnt, worum es tatsächlich geht, nämlich um eine „Steigerung der kulturellen Qualität kirchlicher Arbeit“. Und auch im Begleitband der KMU V wird das ortsgemeindliche Milieu eher kritisch betrachtet, denn den dort Engagierten gehe es eher um Geselligkeit im kleinen Kreise als um die Verbreitung des Evangeliums. Das mag in einigen Ortsgemeinden wohl so sein, aber ganz sicher nicht im Allgemeinen. Das erste Kirchengemeindebarometer aus dem Jahr 2013 enthielt eine Befragung von Kirchengemeinderäten, Gemeindekirchenräten, Kirchenvorständen, Presbyter*innen und Kirchenältesten. Im Ergebnis „zeigte sich ein wahres Kaleidoskop – nicht die häufig beschriebene drastische Milieuverengung“. Das gilt besonders für die ehrenamtlich Engagierten: „Das Spektrum der beruflichen Tätigkeiten, die die Ehrenamtlichen angeben, ist aber sehr breit und widerspricht der vermuteten sozialstrukturellen Verengung (…). Das Spektrum reicht von Bäckereifachverkäufer*innen über Erzieher*innen, Landwirt*innen und Krankenpfleger*innen, Buchhalter*innen und Autoverkäufer*innen über Lehrer*innen an verschiedenen Schulformen zu Professor*innen und Ministerialbeamt*innen, Kaminkehrer*innen und Polizist*innen sowie eine breite Palette an Handwerksberufen.“

Eliten im Blick

Das wirft die Frage auf, wo sich denn die Milieuverengung der evangelischen Kirche wirklich zeigt. Bemühen wir noch einmal den EKD-Text „Evangelische Verantwortungseliten“, in dem wir folgende Zeilen finden: „Aber es darf in der evangelischen Kirche nicht der Eindruck eines Ausschlusses gesellschaftlicher Verantwortungsträger von der Botschaft des Evangeliums entstehen; die so oft in anderem Zusammenhang betonte ‚Milieuverhaftung der evangelischen Gemeinden‘ gibt es auch im Blick auf Elitenmilieus. Darum gilt es, die Zugehörigkeit gesellschaftlicher Eliten zum Leib Christi neu zu betonen sowie die Offenheit und das Verständnis verschiedener – kirchlicher – Milieus füreinander zu fördern.“ Und die hier beschriebene Mission ist der evangelischen Kirche hervorragend gelungen.

Werfen wir zur Verdeutlichung mal einen Blick auf die 128 Mitglieder der 13. Synode der EKD. Wer erwartet, dass im Kirchenparlament die ganze Bandbreite evangelischer Kirchenmitglieder versammelt ist, wird bitter enttäuscht werden. Stattdessen finden sich hier so gut wie ausschließlich Akademiker und anderweitig Bessergestellte. Auch hält man es weiterhin für opportun, dass neben den 100 gewählten Mitgliedern der (ebenfalls durchakademisierte) Rat der EKD „ergänzend 28 weitere Mitglieder – Menschen aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur, die für das Leben der Kirche und ihrer Werke wichtig sind“ – beruft. Wie war das nochmal mit der Milieuverengung? Dass der Blick dieser Menschen auf die Ortsgemeinden so abwertend ist, überrascht wenig. Vielleicht sollte man sich unter diesem Gesichtspunkt die Frage stellen, ob der stereotypisierende und abwertende Blick auf jene diversen Menschen aller Berufsrichtungen, die sich für die Kirche in den Ortsgemeinden engagieren, nicht genau das ist, was wir hier gesucht haben: Klassismus in einer kulturellen und sehr kirchenspezifischen Ausprägung.

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